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Frankreich setzte bei Demonstrationen der «Gelben Westen» eine umstrittene Datenkrake ein © pixabay

Frankreich fichiert verletzte «Gelbe Westen»

Tobias Tscherrig /  Der Sanitätsdienst musste an zwei Demonstrationen ein Anti-Terror-System aktivieren und verletzte «Gelbe Westen» fichieren.

Während der «Aktionstage» der «Gelben Westen» vom 8. und 15. Dezember 2018 aktivierten die französischen Behörden das sogenannte SIVIC-System, das normalerweise in terroristischen Situationen eingesetzt wird, um Opfer zu überwachen und bei der Suche nach Personen zu helfen. Auf die Daten, die vom Gesundheitspersonal aufgenommen werden, haben auch die Beamten des Innenministeriums Zugriff. Das Gesundheitspersonal werde allmählich zu Polizeihelfern, kritisierte der Verband der Notfall-Medizinerinnen und Mediziner (Amuf) in den französischen Medien.

Zahlreiche sensible Daten erfasst
Am 8. Dezember demonstrierten in ganz Frankreich rund 125’000 «Gelbe Westen» gegen die Politik von Emanuel Macron. Gemäss Innenminister Christophe Castaner gab es dabei 1400 Festnahmen, 118 Demonstranten seien verletzt worden. Eine Woche später, am 15. Dezember, beteiligten sich noch rund 66’000 Menschen an den Protesten. Erneut reagierten die französischen Behörden mit einem grossen Polizeiaufgebot, erneut gab es viele Verhaftungen und Verletzte.

Die verletzten «Gelben Westen», die an einem der beiden Tage von medizinischem Personal behandelt wurden, sind mithilfe des SIVIC-Systems, das nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 schrittweise eingeführt wurde, fichiert worden. Wird das System aktiviert, weist das medizinische Personal jedem und jeder zu behandelnden Person eine Nummer zu. Die Nummer wird dann auf einer Website mit den Angaben zur Identität, den Kontaktdaten, den Angaben des Dienstes, der den Patienten oder die Patientin übernommen hat und den Angaben zur Identität einer allfälligen Begleitperson, ergänzt.

Der Patient oder die Patientin erhält dann ein Armband, das ihn oder sie während seiner weiteren medizinischen Reise begleitet. Wird eine Person vermisst, können die Behörden eine Suchmaske benutzen, die alle gespeicherten Daten abfragt. Seit März 2018 dürfen zudem die Beamten des Innenministeriums auf diese sensiblen Daten zugreifen.

SIVIC war als Zwischenlösung geplant
Die nationale Datenschutzbehörde Frankreichs (Cnil) hatte Anfang Juli 2016 grünes Licht für die Installierung und die Einsetzung von SIVIC gegeben. Allerdings sprach sie auch mehrere Empfehlungen aus. Insbesondere stellte die Cnil fest, dass auch Personen ausserhalb des Gesundheitsbereiches Zugang zu den vertraulichen Daten haben würden. Die Datenschutzbehörde wies auf das Recht der Achtung des Privatlebens und der Vertraulichkeit von Informationen hin.

Weiter betonte die Cnil, dass ihr das SIVIC-System als Zwischenlösung vorgelegt worden sei, bis ein Instrument zur Überwachung der Opfer von Anschlägen entwickelt worden sei, dessen Modalitäten noch festzulegen seien und das von der Datenschutzbehörde gesondert geprüft werde.

Aber SIVIC wurde noch nicht ersetzt. Wie französische Medien berichten, erliess die französische Regierung im März 2018 sogar eine neue Verordnung, welche die Bedingungen für die Speicherung und den Zugriff auf die erfassten Daten festlegt. Demnach dürfen die Daten nur für die Dauer der Pflege im Gesundheitswesen gespeichert werden. In der gleichen Verordnung listet die Regierung die Dienststellen auf, deren Beamte die Daten konsultieren dürfen. Darunter auch die Beamten des Innenministeriums, des Justizministeriums und die Beamten, die bei der Dienststelle für auswärtige Angelegenheiten arbeiten. Sie dürfen auf die Daten zugreifen, «soweit sie für die Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben unbedingt erforderlich sind».

Gemäss dem Online-Portal «mediapart» basiert die «Meinung der Cnil auf der Annahme, dass SIVIC in einer Angriffssituation eingesetzt wird». Die Datenschutzbehörde legitimiere die Öffnung der Daten für Beamte des Innen- und Justizministeriums, weil «im Falle von Angriffen bestimmte autorisierte Beamte dieser Ministerien an der interministeriellen Stelle für Opferhilfe teilnehmen».

System wurde bereits mehr als 100 mal aktiviert
Nun wurde das SIVIC-System, das normalerweise für terroristische Angriffe reserviert ist, auch während den sozialen Unruhen der «Gelben Westen» aktiviert. Das ist möglich, weil im entsprechenden Gesetzestext nicht ausdrücklich von terroristischen Angriffen, sondern von «aussergewöhnlichen Gesundheitssituationen» die Rede ist.

Französische Medien fragten bei der Generaldirektion Gesundheit (DGS) an, wie oft das System bereits benutzt worden sei. «Mehr als hundert mal», antwortete der DGS. SIVIC sei etwa bei den Anschlägen in Trèbes, Marseille und Strassburg aktiviert worden. Eine Aktivierung habe es zudem bei «Ereignissen mit vielen Opfern» gegeben. So etwa beim Hurrican «Irma» oder nach Unfällen und Bränden im öffentlichen Verkehr. Ausserdem sei SIVIC auch nach Ereignissen ausserhalb Frankreichs genutzt worden, von denen französische Staatsangehörige betroffen waren. Etwa beim Bombenanschlag in Barcelona, dem Erdbeben in Indonesien und dem Einsturz des Viadukts in Genua.

«Zur Stärkung der Leistung von Gesundheitseinrichtungen»
Im Falle der «Gelben Westen» sei SIVIC vor den Grossdemonstrationen am 8. und 15. Dezember aktiviert worden. Das System sei verwendet worden, um «die Auswirkungen der Zahl der Verletzten auf die Pflege zu quantifizieren und gegebenfalls die Massnahmen zur Regulierung des Zustroms von Verletzten » anzupassen, so der DGS. Ein weiteres Ziel sei die «Stärkung der Leistungsfähigkeit von Gesundheitseinrichtungen» gewesen. Aus denselben Gründen sei das System während der letzten Silvesternacht aktiviert worden. Das zeigt: Mit solchen Begründungen kann SIVIC äusserst breit zum Einsatz kommen.

Die quantitativen Bewertungen der «Gelben Westen» sei dem Innenministerium mitgeteilt worden, erklärt der DGS in den französischen Medien. Dank diesen Informationen sei es auch möglich gewesen, die Fragen von Journalisten nach der Anzahl Verletzten zu beantworten.

Gesundheitspersonal wird zu Helfern der Polizei
Die Ausweitung von SIVIC auf soziale Bewegungen kann das französische Gesundheitspersonal in eine prekäre Situation bringen. Denn die Patientin und der Patient haben ein Recht auf ärztliche Schweigepflicht – und müssen trotzdem damit rechnen, dass ihre Daten vom Innenministerium oder anderen Behörden eingesehen werden. Speziell im Zusammenhang mit sozialen Bewegungen und zivilem Ungehorsam, können diese Daten zur Fichierung von unbequemen und deshalb unliebsamen Staatsangehörigen genutzt werden.

In der Tat ist SIVIC nicht die einzige problematische Datenkrake, welche medizinisches Personal zu Helferinnen und Helfern der Polizei macht, über das Gesundheitssystem Daten von verletzten Französinnen und Franzosen sammelt und sie danach verschiedenen Behörden zugänglich macht. Im Nachgang der verschiedenen Terroranschläge in Frankreich wurden zum Beispiel die psychiatrischen Dienste von den Behörden dazu angehalten, Patientinnen und Patienten zu melden, die Tendenzen zur religiösen Radikalität aufweisen.


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3 Meinungen

  • am 22.01.2019 um 13:39 Uhr
    Permalink

    Tja, geschätzter Herr Tscherrig, haben Sie auch mitbekommen, dass es unter diesen sog. Gelbwesten eine beträchtliche Anzahl von Kriminellen gab/gibt, die sich durch brutale Gewaltakte – übrigens auch gegen Medienschaffende – hervortaten, Plünderungen, Brandstiftungen usw. Ok, aus der bekannten linken Optik waren das ja alles agents provocateurs aus Polizeikreisen; an Beweisen dafür fehlt es allerdings. Ja, und jetzt: Finden Sie es absolut abartig, dass der Staat mit adäquaten Mitteln (z.B. halt eben mit SIVIC) reagiert ? Meine Güte.

  • am 23.01.2019 um 06:55 Uhr
    Permalink

    Guten Morgen Herr Fehr,
    in der Tat, meine Güte: es gibt eine linke Optik der Wahrheit und demnach auch eine Rechte. Die rechte Optik ist wohl näher dran, siehe zum Beispiel BR Cassis als Handlanger von Glencore oder auch der Genfer Regierungsrat (beide FDP). Diese Wahrheiten gilt es mit allen Mitteln zu verteidigen, Rechtstaat hin oder her (wie war das schon wieder damals mit dem Fichenskandal bei uns?)

  • am 23.01.2019 um 15:58 Uhr
    Permalink

    @Jürg Fehr
    Es werden immer wieder gerne die Taten einzelner Chaoten hervorgehoben um massive Polizei- und Staatsgewalt zu legitimieren. Die Ärmsten haben keine Stimme und werden von Politik und globaler Wirtschaft nicht wahr genommen. Sie können eigentlich nur auf die Strasse gehen und da ist Krawall vorprogrammiert, ob durch Agent Provocateurs oder frustrierte Chaoten. Die Verantwortung dieses Debakels, der Gewalt und der Zerstörung liegt bei der französischen Machtelite.. Sie führt, wenn es um ihre Interessen geht, nicht nur Krieg gegen andere Länder (z.b. Lybien) sondern eben auch gegen das eigene Volk. Der Krieg gegen das eigene Volk wird wenn möglich ohne Waffen geführt, sondern mit Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung. Das Volk wird je länger je mehr enteignet und einige wenige immer reicher.
    Zur Erinnerung: «Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.» (Warren Buffett, 2006)

    Gerade aktuell:
    https://www.nachdenkseiten.de/?p=48643

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