Kommentar

Als gäbe es sie nicht

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Jürgmeier /  Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative erinnert Jürgmeier an seine Kindheit.

«Wir haben gar nicht gemerkt, dass du auch da warst.» Das war das ultimative Lob in meinen Kindertagen, die nun auch schon rund sechs Jahrzehnte zurückliegen. Selbst Verwandte – die, meine, vermutlich, feuchten Fingerchen bei einem dieser Sonntagsbesuche behutsam, aber bestimmt von der Nussbaumlehne eines Polstersessels schoben und das Holz mit Möbelpolitur wieder zum Glänzen brachten – bedachten mich beim Abschied doch noch mit diesem Kompliment. Offensichtlich hatte ich es nach dem anfänglichen Griff ins Verbotene geschafft, meine Eltern zu rehabilitieren und Händchen wie Füsschen in tote Winkel zu strecken.
Und so sollen auch sie werden, die AusländerInnen, wie die Kinder – vor 55 Jahren. Denn die SiegerInnen des 9. Februars wollen den Stutz und das Weggli – (billige) Arbeitskräfte, die einerseits wirtschaftliches Wachstum garantieren, aber andrerseits keinen Wohnraum, keine Krippen- sowie (Sitz )Plätze in Zug, Bus und Tram beanspruchen. In den erregten Abstimmungskommentaren über die Folgen für die Schweizer Wirtschaft und das Verhältnis zur Europäischen Union geht fast unter, welch ökonomisiertes Menschenbild diesen Abstimmungssonntag – der uns noch «jahrelang beschäftigen» wird (Res Strehle im «Tages-Anzeiger») – mit-prägt, und das nicht nur bei den SiegerInnen.
«Die Schweiz soll viel stärker auf Kurzaufenthaltsbewilligungen setzen, die keinen Anspruch auf Niederlassung, auf Familiennachzug oder auf Sozialleistungen geben», sagt SVP-Präsi Toni Brunner in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 10. Februar 2014, um es dann auf den menschenverachtenden Punkt zu bringen: «Wer in saisonalen Branchen arbeitet, kehrt wieder heim, sobald er seine Dienstleistung erbracht hat». Dem die Wiedereinführung des Saisonnierstatuts Fordernden schwebt offensichtlich eine radikale Korrektur des von Max Frisch benannten sozialen Faktums – «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.» – vor, das heisst, die Arbeitskräfte sollen kommen, die Menschen bleiben, wo sie sind.
Die so gerne die «Überfremdung» Beschwörenden wollen eben gerade nicht, dass sich ausländische Arbeitskräfte als Menschen (mit ihren Liebsten) hierzulande integrieren und zu unseresgleichen (was immer das heisst) werden; die aus monetären Gründen Gerufenen sollen ganz auf ihre wertschöpfende Funktionalität beziehungsweise Nützlichkeit reduziert werden und weiter nicht in Erscheinung treten. Am liebsten wäre ihnen offensichtlich, die Maschinen aus Fleisch und Blut würden pünktlich an Fliessbänder, Spitalbetten, Computer sowie in Altersheime und Gemüseplantagen gebeamt, um nach getaner Arbeit, gleich Heinzelmännchen und -weibchen, auf ebenso wundersame Weise wieder nach Kosovo, Deutschland, Spanien, Portugal und Polen zu verschwinden. Als gäbe es sie nicht. Wie die Kinder von damals.


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8 Meinungen

  • am 11.02.2014 um 12:01 Uhr
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    Schön ausgedrückt!!

  • am 11.02.2014 um 12:17 Uhr
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    Lieber Jürgmeier
    bestimmt gibt es diese Leute, die Sie beschreiben.
    Doch viele Menschen in diesem Land haben die Notbremse gezogen, weil die Missstände zu gross wurden. Unsere Reichen und manche teilweise mithilfe ihres Geldes gewählten «Volks"-Vertreter haben durch Steuerdumping ausländische/ internationale Konzerne in unser Land geholt. Diese wiederum holen viele ausländische Arbeitskräfte, die Bauwirtschaft boomt … usw.
    Man will uns weismachen, wir profitierten alle davon, aber in Wirklichkeit profitieren nur wenige, und auch für brave Mitläufer fällt etwas ab. Die grosse Mehrheit hat aber nur Nachteile – und wehrt sich jetzt. Den meisten geht es doch gar nicht um Ausgrenzung und Fremdenhass!
    Zudem: wie sieht eine Schweiz mit 12 Millionen aus? Wer und was bleibt auf der Strecke? Wollen wir das? Es gibt kein EU-Land mit einem so grossen Ausländeranteil… deshalb können die das nicht verstehen.
    Freundliche Grüsse!

  • am 11.02.2014 um 14:32 Uhr
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    Lieber Jürgmeier
    Ich hatte zum Glück in der gleichen Zeit wie Sie eine sehr liberale Kindheit, in einer bäuerlichen Grossfamilie – nix da von Möbelpolitur. Vielleicht sind Sie ja traumatisiert und sehen deshalb (wie z.B. ein Res Strehle im Tagi) in den Ja-SagerInnen vom Sonntag nichts als xenophobe, unterdurchschnittlich gebildete und schlecht verdienende Bünzlis…Ich kann Ihnen versichern, es hat mehr wachstumskritische Menschen unter dieser knappen Mehrheit die gewonnen hat, als Ihnen lieb ist. Und für die Décroissance-Anhänger, die sich aus ideologischen Gründen kein Ja zu einer SVP-Initiative leisten konnten, gibt es ja noch die ecopop-VI…

  • am 11.02.2014 um 17:48 Uhr
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    Mich stört an den Antworten auf den sehr guten Artikel von Jürgmeier, dass sie den xenophoben Charakter des Verdikts vom Sonntag schönschreiben wollen. Sie verlängern die unlauteren Dichtestress-Argumente der SVP-Propaganda. Sie vergessen, dass die Kontingente, die uns jetzt blühen, die Zahl der Ausländer kaum reduzieren werden, nur deren Rechte. Also nicht weniger, aber billigere werden kommen, schön nach Wirtschaftsbedarf. Dass die Dichtestress-Argumente nichts mit den Ausländern zu tun haben, zeigen die Resultatunterschiede vom Sonntag: Je mehr Ausländer (Agglomenrationen), desto weniger Ja-Stimmen! Das müsste eigentlich zu denken geben. Und auch die Tatsache, dass die SVP immer Nein sagt, wo es um die Umwelt, die Raumplanung oder gegen Lohndumping geht.

  • am 11.02.2014 um 18:23 Uhr
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    Der Artikel spricht mir aus der Seele – der Mensch wird auf eine Maschine reduziert. Was mich weiter stört ist unser Streben, nicht nur der Schweiz, sondern auch der anderen Industrieländer nach einem Wachstum der Exporte und damit zu einem Handelsbilanzüberschuss der uns Reichtum generiert, aber anderen Ländern eben gleichzeitig negative Handelsbilanzen und damit Armut. Und hinterher wundern wir uns wenn aufgrund des wirtschaftlichen Ungleichgewichts mehr und mehr Ausländer nach Europa und in die Schweiz möchten.

    Seit Menschengedenken wandern die Völker in Richtum Reichtum – im römischen Reich von der Peripherie in Richtung Zentrum (wir haben das gleiche Phänomen innerhalb der Schweiz in Richtung Zürich) und heute in Richtung der wirtschaftlich kräftigen Zentren.

  • am 11.02.2014 um 21:05 Uhr
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    Herr Zimmermann, mich stört der moralinsaure Ton und die Unterstellungen bei Ihrer und vielen andern Stellungnahmen: Xenophobie, unlautere Argumente …
    Sie können aus einem Abstimmungsergebnis die Motive und Beweggründe der Abstimmenden nicht herauslesen. Und es ist nicht statthaft, alle in einen Topf zu werfen.
    Ueber Ihre Kritikpunkte an der Politik der SVP könnten wir uns vielleicht noch einig werden, aber diese hat nur am Rand mit dem Abstimmungsergebnis zu tun. Sonst dürfte nie eine Partei eine Initiative starten, allein mit ihren Wählern könnte sie sie nie gewinnen.
    Zum Dichtestress: diesen empfindet wohl jeder unterschiedlich. Oder sind die Städter mehrheitlich Gewinner des einseitigen Wirtschafts- und Vermögenswachstums?

  • am 12.02.2014 um 09:15 Uhr
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    Herr Nägeli, Sie schreiben es selbst in Ihrem ersten Beitrag. Die grosse Zuwanderung hat damit zu tun, dass die Mehrheit im Bundesparlament und in den Kantonsparlamenten mit Steuerdumping internationale Konzern in unser Land holt. Wenn man diese Ursache anerkennt, dann kann man doch nicht annehmen, dass eine Kontingentierung die Einwanderung reduziert. Das Steuerdumping wird – mit hundertprozentiger Unterstützung der SVP – weitergehen. Der Lohndruck wird nicht ab- sondern zunehmen, weil die Niedriglohnbranchen nun auf ArbeiterInnen mit noch weniger Rechten zurückgreifen kann. Die Zahl der Menschen, die in der Schweiz Wohnraum benötigen und die Verkehrsmittel benützen wird weiter ansteigen. Schlicht: Es wird genau das Gegenteil von dem eintreffen, was die SVP versprochen hat. Fatal ist, wie das Jürgmeier deutlich macht, dass die Menschen, die unter dem neuen Regime einwandern werden, noch weniger eingeladen werden, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Mit Kontingentierung und Saisonierstatut wird die Bildung von Parallelgesellschaften geradezu gefördert. Wem nützt die Annahme dieser Initiative eigentlich etwas?

  • am 14.02.2014 um 23:05 Uhr
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    Lieber Jürgmeier
    bestimmt gibt es diese Leute, die Sie beschreiben. Auch Max Frisch hatte recht: «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.»
    Nur darf man zwei Sachen nicht verwechseln: Sozial sein und sozialistisch handeln. Das eine schliesst heutzutage das andere aus. Der Sozialismus ist schon lange tot. Also bleiben wir so sozial wie eben möglich. Wir leben im Jahre 2014.
    Der Schweizer Souverän hat (wenn auch als kleine Mehrheit) begriffen, dass die EU ein verlogenes Elitenspiel betreibt und den Bürger ausnimmt und verachtet.
    Wenn man einen Job im Ausland sucht, hat man sich dessen Regeln zu unterwerfen. Ich bin seit etwa 20 Jahren Auslandschweizer und weiss, wovon ich spreche. Im Ausland arbeiten ist ein Business. Und dazu werden in Zukunft auch in der Schweiz die Leute wieder ausgewählt. So, wie es das Ausland weltweit schon immer macht. Oder sind Staaten wie Australien, Kanada oder Südkorea etwa unsozial?
    Der Schweizer hat entschieden, und Bern wird sich sputen müssen. Ich weiss, die sind sich so etwas nicht gewohnt. Trotzdem traue ich es unseren Gesandten (ja, auch einem BR Burkhalter) zu, des Bürgers Meinung in Brüssel zu vertreten. Wenn sie es nicht schaffen, werden es die Diplomaten tun. Ich bin stolz auf den Entscheid des frei denkenden Schweizers. Er hat begriffen, dass die EU uns nicht erpressen kann. Und die EU Elite weiss das genau so. Deswegen reagiert sie so gereizt. Es ist entlarvend!

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