Kommentar

kontertext: Kanon für Literaturkritik?

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsUnter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge ©

Heinrich Vogler /  Was dereinst lesen? Björn Hayer fordert in der NZZ «Verbindlichkeit» für Literaturkritik – und bleibt auf halber Strecke stecken.

Schlechte Literaturkritik – fragwürdiger Kanon: So einfach ist es nicht.
Ja, die post-postmoderne Welt ist nochmals unübersichtlicher geworden. Alles geht irgendwie, vieles ist im Fluss. Auch im Kulturbetrieb. Wie sich in dieser Gemengelage noch kulturelles Gedächtnis festigen und erneuern soll, ist schwer zu fassen. Das Bedürfnis nach mehr Homogenität und Qualität für einen zeitgemässen Kanon der deutschsprachigen Literatur mag aus unserer Gegenwartsperspektive nachvollziehbar sein. Björn Hayer überlässt die Kanonbildung der Kritik (NZZ vom 4.11.16). Allein diese brauche «weniger diffusen Stilpluralismus und mehr Verbindlichkeit» zur Erfüllung ihrer Aufgabe. Vorausgesetzt, dass die Kritik rundum besser werde, liessen sich also zwei Fliegen auf einen Streich erledigen.
Die Mechanismen der Kanonbildung sind komplex und mitunter spielt der Zufall eine grosse Rolle, wie ein bestimmtes Werk im Laufe der Zeit seinen Platz in einem Kanon findet oder nicht. Hayer empfiehlt der Literaturkritik «weniger diffusen Stilpluralismus und mehr Verbindlichkeit.» Kann dies so einfach sein? Es ist eine mechanistische Sicht auf das Steigerungspotenzial des Literaturbetriebs.

Lichtarme Qualitätsvorstellung von Kritik

Was Hayer letztlich mit den beiden Postulaten bündeln will, bleibt etwas im Nebel hängen. Abgesehen davon, dass er ausschliesslich auf die Literaturkritik bei der Kanonbildung abstellt, verliert der NZZ-Autor kein Wort über weitere in die Kanonbildung involvierte Akteure. Kritik ist in ihrer Bandbreite heute mindestens so vielgesichtig wie ein Kanon selbst. Und sogar im Netz figurieren inzwischen einige Literaturblogs, die sehr wohl «Selbstreflexivität … als entscheidende Qualität» hochhalten. Stellvertretend seien nur Perlentaucher, lit21 sowie tell genannt. Nicht zu vergessen die relativ jungen Literaturhäuser, die auch das klassische Erbe der Moderne pflegen. Oder das Mammutprojekt Gutenberg, das in seiner Mannigfaltigkeit ebenfalls einen ernst zu nehmenden Kanon der deutschsprachigen Literatur verkörpert.
Dass diese Vielfalt und Ausdehnung die Übersichtlichkeit nicht gerade erleichtert, versteht sich von selbst. Nur: Eine Verkürzung auf die Achse, welche die einstimmige Kritik mit dem Kanon der deutschen Literatur verbindet, greift zu kurz. Der deutsche Literaturkanon wird von einer Vielzahl nicht homogener Akteure geformt – und auch fortwährend revidiert. Es handelt sich um ein genuines Work in progress. Und es gibt nicht den einen, sondern stets eine Vielzahl von überzeugenden Kanones nebeneinander. Diese können in ihrem disparaten Umfeld nicht homogen sein. Ideologisch und ästhetisch schon gar nicht.

Kritik soll homogener werden

Literaturwissenschaftler Björn Hayer sieht das Heil im Desiderat einer Homogenisierung der Kritik. Das ist schwer zu haben von einer Literatur und einer Kritik, die doch das Spezifische, das Einzigartige von Kunstwerken hochhalten wollen. Bisweilen folgt die Form dem Inhalt des zu beurteilenden Primärtextes, bisweilen ist es gerade umgekehrt. Und es zeugt von ziemlicher Praxisferne, wenn Hayer davon ausgeht, dass Kritiker sich in erster Linie wie ein Mann mit hochroten Köpfen ausschliesslich am Kanon der deutschsprachigen Literatur abarbeiteten.
Nein, der Redaktionsalltag ist heute bestimmt von bits und bites. Literaturredakteure sind wie die Mehrzahl der Arbeitnehmer durchgetaktet im Konzert der digitalen Maschinen. Es herrscht Tempo Teufel. Nichts da von Spitzwegschen Romantikvorstellungen. Man wird den Eindruck nicht los, dass Hayer der Gleichung nacheifert: Wenn die Kritik nur wieder besser wird, dann sorgt dies automatisch auch für mehr Verbindlichkeit im Literaturkanon. Diese Wechselwirkung auf dem Feld des ästhetischen Qualtitätsurteils ist auszudifferenzieren. Sie ist insbesondere von Widersprüchen im Produktionsprozess durchzogen.
In Ergänzung dazu bezieht sich der Hüter von Kritik und Kanon in qualitativer Hinsicht auf den Literaturwissenschaftler Gunther Nickel, der den «Wert eines Werks» besonders veranschlägt, «inwiefern es gesellschaftliche Modernisierungserfahrungen aufgreift und ausgleicht» (sic!). Nichts gegen Ersteres. Aber was bitte soll die Funktionszuweisung Ausgleich? Klingt nach Literatur als Orientierungshilfe? Dies muss ein Missverständnis sein.

Verschlechterte Produktionsbedingungen

Was die wenig erfreulichen Produktionsbedingungen für ambitionierte Kritik betrifft, noch dies: Heutige Literaturkritik gehört zum Ensemble der fortschreitenden, globalisierten journalistischen Digitalisierung unter grossem finanziellem Druck. Es wird gespart und abgebaut, weil die Zeitung als klassischer Ort literarischer Wertung quasi als Nebenprodukt der Online-Produktion noch parallel weitergeführt wird. Redakteure müssen gleichzeitig auf verschiedenen Hochzeiten tanzen, was ihre «Schreibstile» angeht. Online folgt oft anderen Gesetzen als Print. Auch in durchaus renommierten Medienhäusern können Literaturredakteurinnen während der ordentlichen Arbeitszeit kaum mehr Primärliteratur lesen. Die Lektüre und Kritiken erledigen sie nächtens nach dem strengen Organisations-Tagewerk.
Das war noch vor zehn Jahren anders. Inzwischen sind die Budgets gerade im Literaturbereich der Kulturredaktionen bedrohlich zusammengestrichen worden. Dies hat auch die dramatische Aushöhlung der Honorare für Freie Mitarbeiterinnen zur Folge. Ja, dies bekommt der Qualität der Kritik insgesamt nicht. Kommt hinzu, dass auch der Literaturbetrieb vom medial grassierenden Virus des wohlfeilen Unterhaltungswerts infiziert ist. Es wird emotionalisiert und personalisiert. Auch Kritiker spülen öfter weich. Dies führt dazu, dass der analytische Mehrwert von klassischer Kritik gegenüber süffigem Storytelling und Paraphrasierung einander konkurrenzieren. Ja, es steht in der Tat nicht besonders gut um die Kunst der Beurteilung, die uns die Antike vererbt hat.

Literaturkritik ist Sanierungsfall

Die Durchschnittsqualität der Primärliteratur ist zwar (noch) erstaunlich hoch. Die Kritik ist leider nicht mehr ganz auf derselben Höhe. Niemand bestreitet, dass «mehr Biss» sehr wünschenswert wäre. So widerspruchs- und spannungslos, wie in Hayers Essay zugespitzt, ist diese Zone keineswegs. Man sollte die Lösungsansätze zur Genesung von Kritik und Kanon ausdifferenzieren. Der Kanon ist bei Lichte besehen viel weniger in Gefahr als das ambitionierte, fundierte Literaturkritikgeschäft. Etwas fromme Wünsche an die Kritik zu richten, die aus besagten ökonomischen Gründen des Medienwandels in die Defensive geraten ist, reicht nicht aus. Zumal auch in der Journalistenausbildung die Brotkörbe wieder viel höher hängen.
Die Hayersche Rezeptur geht nicht auf. Geist kostet auch etwas. Literaturredaktionen sind leider längst keine frei schwebenden Geistesrepubliken mehr. Ja, die Kritik ist teilweise auf dem Rückzug. Die Verhältnisse sind nicht rosig. Aber es besteht noch kein Anlass zu tieferem Kulturpessimismus. So lange es noch viele LeserInnen mit langem Atem und solange es noch eine beachtliche Zahl von Autorinnnen und Schriftstellern deutscher Sprache gibt, die unsere Gesellschaften und Verhältnisse in immer neues, überraschendes Licht rücken, besteht kein Anlass zu Alarmismus.
Das deutsche Literaturerbe wird noch manchen Kanon füttern. Derweil hat die Kritik, das umstrittene Wesen, sehr wohl Zeit, um über die Bücher zu gehen. Aber die Zeit drängt in der Tat.

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Matthias Knauer, Guy Krneta, Corina Lanfranci, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.

  • Heinrich Vogler. Geboren 1950 in Basel. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie der Politik. War Journalist / Redaktor bei Radio DRS und SRF 2 Kultur. Arbeitete als Kultur- sowie jahrelang als Literaturredaktor. Bis zur Pensionierung Ende 2015. War freier Literaturkritiker für Berner Zeitung, Tages-Anzeiger und NZZ.

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4 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 24.11.2016 um 13:05 Uhr
    Permalink

    Die Frage nach dem literarischen Kanon wird gestellt zu einer Zeit, da in Tageszeitungen literarische Debatten weitgehend verstummen. Was «Kanon» betrifft, so hat am 24. Juni 1524 in Basel Medizinrevolutionär Paracelsus den damaligen «Kanon der Medizin» ins Feuer geworfen. Eine Demonstration, dass ein Kanon immer mal entrümpelt werden muss? Reick-Ranicki, Emil Staiger, zuletzt Peter von Matt wirkten mit ihren Vorlieben kanonbildend. In Basel wagte es Walter Muschg, an einem Denkmal wie Thomas Mann zu kratzen. Fast provokativ erinnerte er daran, dass es in der Schweiz noch eine mystische Literatur gibt, dass man z.B. die Visionen von Bruder Klaus «kennen sollte». Oder einen Aufsatz wie «Glück und Unglück in der Weltgeschichte» von Jacob Burckhardt (heute eine empfehlenswerte Labsal für Trump-Frustrierte). Ein konstruktiver Kanon könnte dazu beitragen, Europa zu verstehen. Da bringt Don Quijote mehr als Reden im Europ. Parlament, wo wie in Bern jemand zuhört. Zum Verständnis einer Stadt, eines Landes, wären einheimische Klassiker kein Luxus: Spitteler (Liestal), Nietzsches Unzeitgemässe Betrachtungen (Basel), Johann Peter Hebel, die Hunkeler-Romane von Hansjörg Schneider, die reich an literarischen Anspielungen sind. Ein kanonbildendes Werk ist von mir aus gesehen die Literaturgeschichte der Alpen von Aurel Schmidt, einem neugierig gebliebenen Altmeister. Aber Irrtum, Herr Vogler, ein Literat, der Lesen mit Arbeitszeit verwechselt, hat nie etwas von Literatur begriffen!

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 24.11.2016 um 13:09 Uhr
    Permalink

    korr. «im Europ. Parlament, wo wie in Bern fast niemand zuhört."

  • am 25.11.2016 um 07:15 Uhr
    Permalink

    Erstaunlich! Jede Kritik an der journalistischen Arbeit wird sofort umgemünzt in die Forderung nach mehr Geld für die Journalisten.
    Mit dem Argument: «Wir Journalisten würden prima Arbeit leisten, wen wir nur könnten, wie wir wollten."
    Im politischen Journalismus ist diese Behauptung absurd. In der Kultursparte zumindest sehr zweifelhaft.
    Warum nicht mal umgekehrt? «Wir Journalisten verbessern erst mal unsere Arbeit und verlangen hinterher mehr Geld"?

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 25.11.2016 um 15:22 Uhr
    Permalink

    @Möller. Ein Journalist hat heute leider, wenn er nicht gerade einen grossen Namen trägt, selten was zu fordern. Aber Sie haben natürlich schon recht, dass man mit Geld weder für grossen Journalismus noch gar für Bildung etwas tun kann. Zum Teuersten an der Bildung gehören die Bibliotheksmahngebühren, für mich jedes Jahr in vierstelliger Höhe. Ich erwähne dies zumal, weil Herr Vogler im Ernst glaubt, man könne Bücher im Stundenlohn lesen. Albrecht von Haller schrieb neben seiner Arztpraxis und seiner Forschungstätigkeit jeden Tag eine Rezension in die Göttinger Gelehrten Anzeigen, im Niveau einem durchschnittlichen Feuilletonisten stets haushoch überlegten. Uli Dürrenmatt, der Redaktor der Buchsi-Zitig, schrieb Tag für Tag nicht nur ein Gedicht für seine Zeitung, sondern zum Beispiel in der Jurafrage Kommentare, die noch nach 150 Jahren recht behalten. Von den Tages- und Wochenzeitungen aus der Schweiz und aus Deutschland, die ich regelmässig lese, scheint mir derzeit die «Tierwelt» den höchsten Anteil von Artikeln mit stimmigem und glaubwürdigem Inhalt zu haben. Die dort tätigen Journalistinnen und Journalisten sind wohl kaum besser bezahlt als die von NZZ, Ringier, Tamedia oder den AZ-Medien, wohl auch nicht besser als die von der Weltwoche oder von der BaZ.

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