Bildschirmfoto20191113um17_55_18

Ein Apotheker in den USA zählt aufgrund einer Verschreibung die Pillen ab. © Grace Nichols

«Apotheken sollen Pillen abgezählt verkaufen dürfen»

Urs P. Gasche /  Medikamente im Wert von mindestens einer halben Milliarde Franken landen im Abfall. Ein Gesundheitsprofessor verlangt Massnahmen.

Wie in einigen US-Bundesstaaten sollen die Apotheken und Ärzteschaft auch in der Schweiz Medikamente grundsätzlich pillenweise abgeben, wenn nicht eine ganze Schachtel gebraucht wird. Die Apothekerin oder der Arzt gibt die abgezählten Pillen in einem Döschen ab, das sie mit den nötigen Angaben für die Patientin oder den Patienten versieht. Es ist einer von mehreren Vorschlägen von Tilman Slembeck, Wirtschaftsprofessor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), um die Kostensteigerung im Gesundheitswesen zu dämpfen.

Postulat liegt in einer Schublade des Bundesrates

Slembeck nimmt damit ein altes Anliegen wieder auf. Bereits Ende 2009 hatte CVP-Nationalrätin Ruth Humbel in einem von Nationalrat angenommenen Postulat gefordert, «Massnahmen gegen die massenhafte Entsorgung von bezogenen, aber ungebrauchten Medikamenten» zu ergreifen. Vor sechs Jahren verlangte SP-Nationalrat Manuel Tornare mit einem Postulat, dass wenigstens «gewisse Medikamente» einzeln verkauft werden dürfen. Doch weil dies für Ärzte und Apotheken einen «wesentlichen Zusatzaufwand» bedeuten würde, lehnte der Bundesrat das Postulat ab.
Nur ein halbes Jahr später nahm die CVP-Fraktion das Anliegen wieder auf und verlangte in einem neuen Postulat eine Abgabemöglichkeit von Einzeldosen, wie dies in Spitälern und Pflegeheimen üblich sei. Auch in Schweizer Arztpraxen war dies früher gang und gäbe. Sprecherin im Parlament war die heutige Bundesrätin Viola Amherd. Der Bundesrat nahm das Postulat am 12. September 2014 an.

Doch passiert ist in diesem Punkt seither nichts. Eine Konsequenz für die Schweiz wäre klar: Apotheken und Medikamentenhersteller könnten etwas weniger überflüssige Arzneimittel verkaufen. Es würden viele Millionen jährlich gespart.

Ein Massnahmenpaket von Tilman Slembeck

Die Einzelabgabe von Pillen ist nur ein kleines Puzzleteil des umfassenden Reformpakets, das der Winterthurer Gesundheitsökonom Professor Tilman Slembeck vorschlägt, damit die Krankenkassenprämien künftig weniger stark steigen. Hier seine Kernforderungen, welche einen regulierten Wettbewerb ermöglichen sollen:

  • Privatisierung der Spitäler, damit sich die Kantone auf die Regulierung, die Qualitätskontrolle und die Aufsicht konzentrieren können und nur dort Leistungsaufträge erteilen, wo der Markt nicht spielt.
  • Schaffung von Versorgungsnetzen, die in kantonsübergreifenden Regionen sämtliche Leistungen im Wettbewerb zueinander anbieten.
  • Die Ärzte werden in Gegenden mit (zu) wenig Ärzten und Spezialisten besser entschädigt als in Gegenden mit (zu) vielen Spezialisten (differenzierte Taxpunktwerte. Diese bleiben im Durchschnitt des Kantons konstant. Innerhalb eines Kantons steigen sie (relativ) dort, wo das Angebot (regional und nach Spezialität) zu gering ist und sinken (relativ) im umgekehrten Fall.).
  • Die Krankenkassen werden wie in den Niederlanden vom Vertragszwang befreit und können mit Spitälern, Ärztegruppen und Pharmaanbietern die Preise aushandeln.
  • Gleichzeitig werden alle Akteure des Gesundheitswesens dem Kartellgesetz unterstellt, um das Ausnützen von Monopolstellungen zu verhindern.
  • Der obligatorische Leistungskatalog wird auf das beschränkt, was wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich ist (WZW-Kriterien). Die Kassen bieten eine grössere Auswahl von Versicherungsvarianten an. Wer zum Beispiel zum vorneherein auf lebensverlängernde Massnahmen am Lebensende verzichtet, soll eine Prämienreduktion erhalten.

Tllman Slembeck hat seine Vorschläge bereits 2018 in der Zeitschrift GPI etwas breiter dargelegt.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Bildschirmfoto20120125um10_27_01

Gesundheitskosten

Jeden achten Franken geben wir für Gesundheit aus – mit Steuern und Prämien. Der Nutzen ist häufig zweifelhaft.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

4 Meinungen

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 15.11.2019 um 14:32 Uhr
    Permalink

    Das neue Heilmittelgesetz HMG hat das Verbot der Abgabe einzelner Pillen 2004 (?) zwingend eingeführt. Federführend waren BR Couchepin, Frau Beerli und möglicherweise schon BR Blocher, bzw die SGCI.

    "Nur ganze von der Swissmedic zugelassene Packungen» dürfen abgegeben werden. Die bisherige Praxis der SD-Ärzte, einzelne Pillen abzugeben, wurde implizit verboten. Nur Zahnärzte durften noch 3 Pillen von Ponstan (Mefenacid) in einer Papiertüte abgeben.

    Die Pharma hatte in einer juristischen Hinterzimmeraktion die Hoheit über die Abgabemodalitäten erreicht. Der Bundesrat hat dies aus Ignoranz oder Mitgefühl mit der armen Pharma erlaubt. Das BAG hat diese therapeutisch unsinnige Regelung umgesetzt.

    Die elementare therapeutische Logik will, dass Medikamente bedürfnisgerecht abgegeben werden. Die Pharmalobby hat das zu verhindern gewusst. Es ist an der Zeit, den Medizinalpersonen (Ärzten und Apothekern) mehr Handlungsspielraum im Bereich der therapiegerechten Medikamentenabgabe zu gewähren.

    Das EDI unter BR Berset versucht offenbar der therapeutischen Logik zum Durchbruch zu verhelfen. Schon BR Burkhard hat das versucht. Der institutionalisierte Wiederstand — nicht zuletzt im BAG — hat das bis anhin zu verhindern gewusst.

  • am 16.11.2019 um 16:46 Uhr
    Permalink

    Es stellen sich folgende Fragen: ● Antibiotika (wie im Postulat MT erwähnt) werden nicht einzeln eingenommen: Es braucht meist 7 oder 10 oder 14 Tagesportionen. Die Packungsgrössen sind exakt berechnet. Anders als im Postulat dargestellt bleiben somit keine Tabletten übrig. Bricht man die Therapie zu früh ab, entstehen ggf Resistenzen. Zudem muss ein Arzt zwingend den Therapiebedarf feststellen, wenn die Behandlung länger dauert als die Packungsgrösse. ● Auf den ausgeeinzelten Tabletten müssen Name, Lot, Exp, Stärke usf von Hand aufgeschrieben werden. Der Packungsprospekt muss kopiert und dem Patienten mitgegeben werden, andernfalls haftet der Apotheker für alle möglichen Schäden. Selbst bei Honig muss die Rückverfolgbarkeit komplett gewährleistet sein. Hat man ausgerechnet, wieviel dieser Aufwand beträgt und ins Verhältnis gesetzt? ● In anderen Ländern bekommt man viele Medis im Supermarkt. Paracetamol für unter 2,50 Fr. In der Schweiz braucht’s ein Rezept und die Packung mit der Goldkante. Gut, einverstanden: Medikamente aus dem Supermarkt halte ich nicht für die Top-Lösung. // Postulate, Motionen oder Anfragen dienen bekanntermassen entweder (und nicht selten) der Inszenierung des Einreichers. Oder sie sind durchaus gut gemeint, gehen aber über das praktisch erreichbare Ziel hinaus. Kosten also mehr, als sie nutzen.

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 17.11.2019 um 11:45 Uhr
    Permalink

    Die Einzelabgabe ist natürlich auch in den Pflegeheimen von Interesse, wo mit Vorteil Grosspackungen (Spitalpackungen) verwendet werden können.

    Das hat santésuiss/BAG ab 2019 aus statistischen Gründen – zur Erfassung des individuellen Medikamentenkonsums im Rahmen des Risikoausgleiches – verboten, was allein im Kt. Fribourg mehrere Millionen an Mehrkosten verursachen dürfte.

    Dies hat mit therapeutischer Optimierung nichts zu tun, aber sehr wohl mit Pharma- bzw. Margenschutz.

  • am 18.11.2019 um 09:19 Uhr
    Permalink

    Herr Fritze zu Ihrem Punkt 2 bezüglich Aufwand kann ich Ihre Meinung gar nicht teilen. Auf jeder Medikamentenpackung die meiner Familie Familie verschrieben wurde hatte es von der Apotheke einen Kleber mit Namen und gemäss Arztrezept individuell bestimmte Einnahmevorgabe. Bleibt nur noch das Medikamentenbeiblatt. Wir leben im Zeitalter des Computers und der Digitalisierung. Nach dem erwähnten Kleber noch den Beiblattzettel selbstverständlich (nur) in der Sprache des Patienten und in sinnvoller Schriftgrösse auszudrucken ist ein minimaler Aufwand bei gleichzeitigem guten Kundenservice

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...