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Die holländische Journalistin Jet Schouten hat den Skandal aufgedeckt. © M

Zertifizierer wollten Mandarinennetz im Beckenboden erlauben

Bernd Hontschik /  Der Skandal zeigt wenig Wirkung. Noch immer können Firmen Zulassungsstellen gezielt wählen und zahlen und gegeneinander ausspielen.

Die Blamage hätte für die Zulassungsstellen von medizinischen Produkten kaum grösser sein können: Vor anderthalb Jahren hatte die niederländische Journalistin Jet Schouten ein Gesuch um Zulassung eines billigen Kunststoffnetzes für Mandarinen eingereicht, damit dieses als Vaginalnetz zur Beckenbodenstabilisierung eingesetzt werden kann. Der Test endete positiv: Mehrere Zulassungsstellen wollten das Mandarinennetz mit dem Gütezeichen «CE» für ganz Europa einschliesslich der Schweiz zulassen.
Die Schwachstelle: Gesundheitsbehörden delegieren die Zulassung von Medizinalprodukten an mehrere Dutzend private Stellen in verschiedenen Ländern, die von den Herstellern, die den Antrag stellen, bezahlt werden. Verweigert eine Behörde eine Zulassung, kann die Firma ihren Antrag einer der vielen andern Behörden unterbreiten. Eine Bewilligung gilt dann für ganz Europa.

Doch aus dem Skandal mit dem Mandarinennetz und aus früheren Skandalen haben die Behörden die nötigen Konsequenzen nicht gezogen. Bereits vor sechs Jahren hatten zwei britische Journalisten die Öffentlichkeit schockiert mit der gelungenen Zertifizierung eines «neuen» Hüftgelenks, das mit einer längst verbotenen Prothese exakt baugleich war.

Die «Implant Files»

Im November 2018 rollten die «Implant Files» wie ein Donnerhall durch die europäischen Medien. Nach den «Panama Papers» und den «Paradise Papers» ging es dem «International Consortium of Investigative Journalism» (ICIJ) diesmal nicht um gigantischen Steuerbetrug und nicht um weltweite Geldwäsche. Über 250 Journalisten aus 36 Ländern hatten mehr als zwei Jahre über Medizinprodukte recherchiert. Unter anderen der «Tages-Anzeiger» und die «Süddeutsche Zeitung» veröffentlichten eine Chronologie des Grauens: geschädigte, verwüstete, verstümmelte, sogar getötete menschliche Körper.

Opfer der schlecht geprüften Medizintechnikprodukte waren auffallend häufig die weiblichen Geschlechtsorgane, die Gelenke und das Herz.

  • 1995 wurden mit Sojaöl gefüllte Brustimplantate als Revolution der Brustvergrösserung angepriesen. Vier Jahre später wurden sie zurückgezogen, da sie häufig zerrissen. Das auslaufende Sojaöl schädigte die Erbsubstanz.
  • Der Operationsroboter Robodoc wurde für die Implantation von künstlichen Hüftgelenken eingesetzt, bis eine grosse Zahl von schwersten Nerven- und Muskelschäden nicht mehr geleugnet werden konnte und die riesigen Maschinen 2003 aus dem Verkehr gezogen werden mussten.
  • 2007 musste die Firma Medtronic ihre Produktion der fast 300’000 mal implantierten Defibrillator-Elektrode Sprint Fidelis einstellen, da sich diese als bruchanfällig erwiesen hatten, mit wahrscheinlich mehr als 9000 Todesfällen.
  • 2010 flog um die beiden US-amerikanischen Hüftprothesen-Hersteller DePuy und Zimmer-Biomet der nächste Skandal auf. Massiver Metallabrieb führte zu bedrohlichen Blutbildveränderungen und Gewebezerstörungen.
  • 2012 verlor die Firma Wingspan für ihren Stent die Zulassung. Das Röhrchen zum Offenhalten von erkrankten Blutgefässen im Gehirn führte häufig zu Schlaganfällen, die er eigentlich verhindern sollte.
  • Auch der winzige Herzschrittmacher Nanostim der US-Firma St. Jude Medical war der US-Aufsichtsbehörde zu riskant, die Zulassung wurde verweigert. Nicht so in Deutschland, wo er erst nach Fällen innerer Herzblutungen, Perforationen der Herzwand und Batterieversagen verboten wurde.
  • 2014 stellten sich die Bandscheibenprothesen der englischen Firma «Ranier Technology» als fehlerhaft heraus, da sie im Körper unkontrolliert herumwandern konnten. Ranier ist inzwischen insolvent, also nicht mehr greifbar für Regresse und Schadenszahlungen.

Diese Liste ist nicht vollständig. Zurzeit macht der Essure-Skandal Schlagzeilen, eine Spirale der Firma Bayer, die nicht durch erfolgreiche Verhütung, sondern durch Schmerzen, Totgeburten und Todesfälle auffiel, so dass in den USA inzwischen tausende Klagen hängig sind.

Diese Skandale sind eine Folge der delegierten und privatisierten Zulassungsprozesse für Medizinprodukte, die meistens allein auf Angaben der Hersteller aufbauen.

Award für Journalisten – kaum Änderungen am Zulassungssystem
Die Journalistinnen und Journalisten der «Implant Files» wurden mit dem «Award for Excellence in Health Care Journalism» ausgezeichnet. Diesen haben sie verdient. Aber was haben sie erreicht mit ihrer aufwändigen und mutigen Recherche?
Ausser einem «Register für Medizinprodukte» fällt Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nichts ein. Eine alte Kamelle. Schon vor zwölf Jahren sollten Operationen mit künstlichen Gelenken in einem bundesweiten Register erfasst werden, das es aber bis heute nicht gibt. Gesundheitsministerin war damals Ulla Schmidt (SPD). Danach kamen Philipp Rösler (FDP), Daniel Bahr (FDP) und Hermann Gröhe (CDU). Geschehen ist gar nichts.
[Red. Auch in der Schweiz gibt es kein öffentlich zugängliches Register aller implantierten künstlichen Gelenken mit Angaben von Produkt, Ort, Chirurg, ungeplanten Nachoperationen sowie von Nachkontrollen ein Jahr nach der Implantierung.]

Es ist wie so oft: Alles ist bekannt, perfekt recherchiert, unwiderlegbar bewiesen und weltweit veröffentlicht. Wenn sich die erste mediale Aufregung gelegt hat, machen alle weiter wie bisher. Erschreckende Veröffentlichungen wie die «Implant Files» geraten wieder in Vergessenheit. Bis zum nächsten Skandal.
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Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Chirurg Bernd Hontschik ist u.a. Mitglied bei der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin AIM, bei MEZIS und bei der Ärzte für eine Verhütung eines Atomkriegs IPPNW, ist im Beirat der Akademie Menschenmedizin AMM und im wissenschaftlichen Beirat der Fachzeitschrift «Chirurgische Praxis». Kolumnen von Hontschik erscheinen regelmässig in der Frankfurter Rundschau.

Zum Infosperber-Dossier:

Arztfehler_Schere

Vermeidbare Arzt- und Spitalfehler

In Schweizer Spitälern sterben jedes Jahr etwa 2500 Patientinnen und Patienten wegen vermeidbarer Fehler.

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2 Meinungen

  • am 24.04.2019 um 12:00 Uhr
    Permalink

    Leider hat der Schreiber Recht: Wenn sich die mediale Aufregung gelegt hat, machen alle weiter wie bisher.

  • am 24.04.2019 um 13:43 Uhr
    Permalink

    Eigentlich gäbe es in der politischen Arena viele Beteiligte, die aktiv werden könnten und müssten. Aber das Thema verspricht wohl keine grossen Erfolgsgeschichten, die sich Pollitiker*innen zugute halten könnten. Zudem wird die Krankheitslobby schon dafür sorgen, dass sich niemand solcher Themen annimmt.

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