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Synes Ernst: Spiel-Experte © cc

Der Spieler: Die Quadratur des Kreises

Synes Ernst. Der Spieler /  Wegen Corona findet die weltweit grösste Publikumsmesse für Gesellschaftsspiele dieses Jahr digital statt. Ein Experiment.

Über 200’000 Besucherinnen und Besucher an vier Ausstellungstagen, ein dichtes Gedränge in den Gängen, wie ich es von Schweizer Messen her nicht kenne (inklusive BEA, Olma, Züspa oder Mustermesse), an Hunderten von Tischen Menschen, die eng nebeneinander sitzen und spielen oder sich Neuheiten von Spielen erklären lassen, ganz zu schweigen von den vollgestopften Nahverkehrsmitteln – es war seit längerem klar, dass die Internationalen Spieltage in Essen unter Corona-Umständen niemals würden stattfinden können. So war es denn auch für alle Insider keine Überraschung, als der Bonner Friedhelm Merz-Verlag als Veranstalter bereits im Mai die Ausgabe 2020 der weltweit grössten Publikumsmesse für nicht-digitale Brett-, Karten- und Gesellschaftsspiele, die für die Zeit vom 22. bis 25. Oktober vorgesehen war, absagte und auf den Herbst 2021 verschob.

Bevor die Spieleszene, für welche die Internationalen Spieltage seit fast 40 Jahren das Highlight des Jahres bedeutet, in eine kollektive Depression versinken konnte, schob der Veranstalter die positive Nachricht nach, dass er einen Ersatz mit programmatischem Namen plane, die «Spiel.digital». Das war notabene zu einem Zeitpunkt, als die Verantwortlichen der Frankfurter Buchmesse noch hofften, am Konzept der traditionellen Präsenzmesse festhalten zu können (eine Hoffnung, die sich mittlerweile als falsch erwiesen hat).

Virtuelles Konzept

In der Zwischenzeit hat der Merz-Verlag ein virtuelles Konzept entwickelt, das unter anderem Verlage, Besucherinnen und Besucher, den Handel, Brettspielcafés und Medienschaffende gleichsam zu Mit-Veranstaltern macht. Die Idee scheint bei den Adressaten angekommen zu sein: Die Szene ist im Vorfeld der «Spiel.digital» ebenso elektrisiert wie in den vergangenen Jahren. Die einschlägigen Medien überquellen von Meldungen, Vorabberichten und von Ideen, wie man den Geburtsfehler der diesjährigen Veranstaltung ausbügeln könnte – die Unmöglichkeit, mit einem menschlichen Gegenüber am gleichen Tisch zu sitzen und mit ihm zu zu spielen.

Dass dazu Chats und Videokonferenzen gehören, scheint mir eine Selbstverständlichkeit. Ich denke aber, dass die geplante Integration von Onlineplattformen wie Board Game Arena oder Tabletopia, auf denen Brettspielbegeisterte wie an einem realen Tisch spielen können, über die «Spiel.digital» hinaus von grosser Bedeutung sein könnte. Denn es deutet vor dem Hintergrund der Pandemie-Entwicklung nichts darauf hin, dass wir rasch wieder zum «normalen» Spiel zurückkehren werden. Das würde heissen, dass Onlineplattformen in Zukunft notgedrungen vermehrt zu unserem Spieleralltag gehören dürften.

Lokale Spin-Offs

Noch vor ihrem Start hat die «Spiel.digital» unter dem Label «Spiel Local» Spin-Offs erzeugt, viele kleinere lokale Spieleevents in Deutschland, Argentinien, Belgien, Iran, Kanada, Österreich, Schweden, Spanien und gemäss Medienmitteilung des Veranstalters auch in der Schweiz (eine Liste findet sich in dieser Vorschau). Dazu Dominique Metzler, Geschäftsführerin des Friedhelm Merz-Verlags: «Wir feiern hier alle zusammen Brettspiele „on a global Scale“.» Ich halte das mit Blick auf die Zukunft bemerkenswert, weil das innovative Konzept einer Grossveranstaltung in Verbindung mit Veranstaltungen, die von lokalen Spieler-Communities organisiert werden, langfristig noch mehr zur Verbreitung der Idee des Spielens beitragen könnte als die Konzentration auf einen einzigen Mega-Event.

Für die «Spiel.digital» haben sich laut Veranstalter mehr als 400 Aussteller aus 41 Nationen angemeldet. Zum Vergleich: An der «Spiel 19» zählte man 1200 Aussteller aus 53 Nationen. Die Differenz könnte von daher kommen, dass die unzähligen Kleinst- und Kleinverlage, die sonst das Bild der Essener Veranstaltung prägen, dieses Jahr auf eine Teilnahme verzichten. Denn ihr Geschäftsmodell besteht darin, dass sie ihre Spiele an Präsenzmessen ihren Kundinnen und Kunden selber erklären und direkt verkaufen. Weil die Internationalen Spieltage mit ihrem nicht nur spiel-, sondern auch kauffreudigen Riesenpublikum heuer in der traditionellen Form nicht stattfinden, bekommen die Klein- und Kleinstverlage die Folgen der Corona-Krise am härtesten zu spüren. Gewahrt bleibt hingegen die Internationalität, nicht nur was die Herkunft der Aussteller betrifft, sondern auch die Neuheiten

Hier die analogen Brett-, Karten- und Gesellschaftsspiele, dort eine digitale Veranstaltung als Plattform der Begegnung und des Austausches – kann diese Quadratur des Kreises gelingen? Ich weiss es nicht. Jedenfalls bin ich gespannt auf das Experiment, das gemäss offizieller Webseite in 12 Tagen, 22 Stunden, 57 Minuten und 53 Sekunden startet (Stand bei Redaktionsschluss dieses Textes).

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Synes Ernst ist Spielekritiker. Er war lange Mitglied der Jury «Spiel des Jahres».

Zum Infosperber-Dossier:

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