Sprachlupe: Schweiz, wie hältst du’s mit dem Hochdeutsch?

Daniel Goldstein /  Dass Mundart etwas mit der Identität zu tun hat, sehen in der Deutschschweiz wohl die meisten so. Woher das kommt, zeigt ein Buch.

«Glaubt man den zeitgenössischen Quellen, machte sich bei manchem gebildeten Schweizer, der sein Hochdeutsch wenig eloquent und eher papieren sprach, gar ein eigentliches Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den agil Hochdeutsch sprechenden Deutschen breit.» Für seine Zürcher Doktorarbeit hat Emanuel Ruoss die genannten Quellen aus dem frühen 19. Jahrhundert ausgegraben. Er zitiert sie auch im neuen Buch «Schweizerdeutsch – Sprache und Identität von 1800 bis heute», das er zusammen mit Juliane Schröter (Uni Genf) im Verlag Schwabe herausgegeben hat. Als Gegenstück zur Stellung der Mundart (vgl. Rezension im «Bund» vom 31. August) prägt das Verhältnis zum Hochdeutsch ebenfalls jede der behandelten Epochen.

Selten waren auch vor 200 Jahren radikale Stimmen wie jene des Arztes und Politikers Albrecht Rengger, über den Ruoss schreibt: «Die Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft sieht er darin, (…) ‹jede Gelegenheit› zu ergreifen, um sich der ‹Knechtschaft› der Dialekte zu entziehen und sich durch das Hochdeutsche auf ‹eine Stufe gesellschaftlicher Cultur zu heben, die wir rings um uns her verbreitet sehen!›. Gerade die schweizerische Jugend solle dazu ermutigt werden, nach ihren Lehr- und Wanderjahren in Deutschland fortzufahren, ‹die Sprache zu sprechen, welche sie dort gelernt hat›.»

Unpatriotische Ziererei

Wer das tat, lief Gefahr, ausgelacht zu werden. Ruoss hat verschiedene Belege dafür gefunden, «dass sich Deutschschweizerinnen und ‑schweizer, die im Alltag Hochdeutsch sprechen wollten, bei ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern schnell unbeliebt machten. Sie wurden der Ziererei bezichtigt, und ihnen wurde gar fehlender Patriotismus vorgeworfen.» Trotz patriotischer und demokratischer Wertschätzung der Mundart verbreitete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das mündliche Hochdeutsch im amtlichen Gebrauch sowie in Schule und Kirche. Im Alltag blieben die Mundarten vorherrschend; gegenseitige und hochdeutsche Einflüsse aber führten zu Alarmrufen, die Dialekte verlören ihre «Reinheit», ihnen drohe gar der Untergang.

Der Erste Weltkrieg und mehr noch der Zweite banden den Vormarsch des Hochdeutschen zurück, wie Beiträge von Juliane Schröter und Helen Christen (Uni Freiburg) schildern. Es gab in den Dreissigerjahren sogar Bestrebungen, als Schriftsprache ein neues «Hochalemannisch» einzuführen, samt «šwizer folchs­šrift». So weit ging die Abgrenzung dann nicht, doch bis heute gehen die Diskussionen darüber weiter, wo Hochdeutsch angebracht sei – und wie viel davon. Die Gewichtung verschiebt sich bald in der einen, bald der andern Richtung.

Verkopfte Mundart

Radio und Fernsehen folgten anfänglich der verbreiteten Ansicht, die Mundart sei die Sprache des Herzens und die Schriftsprache jene des Kopfes, und man unterschied je nach Art der Sendung. Mit der Zeit entdeckte man, dass sich auch der Kopf auf Schweizerdeutsch äussern kann. Also erweiterte man den Mundart­gebrauch, um näher «bi de Lüt» zu sein – auf die Gefahr hin, dass hochdeutsch geschriebene Entwürfe auf den Dialekt durchschlagen. Bei Politikern ist das besonders oft zu hören. Doch Mundart, auch hochdeutsch angehauchte, ist für viele Leute aus anderen Landesteilen oder dem Ausland schwer zu verstehen. Bei SRF muss, wer Informationen auf Hochdeutsch will, statt TV eher Radio hören. Die schweizerisch-gepflegte Aussprache, wie sie interne Richtlinien fordern, weicht aber oft einer nördlicheren.
Beim alltäglichen Schreiben bieten neue Medien eine Plattform für ungeregelte Mundart; in den Schulen dagegen wird Hochdeutsch wieder stärker gepflegt, vielleicht auch als Reaktion. In der Sprachenstrategie der Erziehungsdirektoren (2004) erkennt Raphael Berthele (Uni Freiburg) gar eine Herabstufung der Dialekte zu «Lokalsprachen» hinter den «lokalen Landessprachen» wie Schriftdeutsch. Ein Blick in die Strategie zeigt aber: Mit beidem ist Hochdeutsch gemeint. Mundart kommt gar nicht vor.

— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war Redaktor beim «Sprachspiegel» und zuvor beim Berner «Bund». Dort schreibt er die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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2 Meinungen

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 19.09.2020 um 10:30 Uhr
    Permalink

    Der Begriff «bon allemand» geistert in den Medien der Westschweiz immer noch herum.

    Ich habe mich allerdings vor Monaten bei Radio Lausanne über die – durch den Gebrauch dieses Begriffs – implizite Beleidigung meiner Mutter beklagt und festgehalten, dass ihr «Luzerndeutsch» ein durchwegs «gutes» Deutsch ist. Seither habe ich diese störende Redewendung in den westschweizer Sendern nur noch ganz selten gehört. Es gibt also noch Hoffnung.

    Vor Jahren nahm ich an einer internationalen Uno-Konferenz im französischsprachigen Ostafrika teil. Damals ging es um die Nützlichkeit der Vernakulärsprachen in der ländlichen Entwicklung. Viele der Teilnehmer waren erstaunt, dass man auch mit nicht geschriebeben Sprachen wie dem Luzerndeutsch zB. Nuklearphysik diskutieren könne.

    Im Lokalgebrauch wurde die geschriebene Version der Lokalsprache leider nur für Bibellesungen und eine kleine Wochenzeitung verwendet. Düngemittel- und Pestizid-Gebrauchsanweisungen waren lokal leider nur französisch zu haben. Der ganze Effort, die Lokalsprache lesen und schreiben gelernt zu haben, war wohl für die meisten Leute «für die Katze».

    Der politische Wille, die nationale Sprache auch bis zur Matura als hauptsächlichstes Kommunikationsmittel zu verwenden, erleichterte den Lehrern zwar etwas die Arbeit, führte aber wegen Kommunikationsschwierigkeiten mit «importierten» Professoren im ersten Uni-Jahresabschluss zu einer über 90% Ausfallquote.

    Mit etwas gutem Wille konnte das in der Folge korrigiert werden.

  • am 21.09.2020 um 23:20 Uhr
    Permalink

    Im zweiten Kindergartenjahr (in Zürich) wird nachmittags hochdeutsch gesprochen! Ich traf im ÖV mal auf eine Schulklasse, mit der die Lehrperson (wohl nach Vorschrift) hochdeutsch sprach. Ich fand das bescheuert und ziemlich lächerlich.
    Meine kleine Enkelin, durch und durch Einheimische, spricht manchmal hochdeutsch, welches sie in Medien für Kinder hört. Ich finde es lustig, wenn ein kleines Mädchen mit Schweizer-Eltern und -Grosseltern hochdeutsch spricht. Ich liefere jeweils die Dialektfassung der Wörter und Sätze und benenne beide Sprachen. Ich mag gutes Deutsch und liebe sehr die verschiedenen Schweizer Dialekte.

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