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Fällander Tagebuch 35 © cc

Pantomime für drei Personen oder die ewige Stille

Jürgmeier /  In Gebärdensprache ist der lauteste Streit so leise wie rieselnder Schnee. Und wer für alle Opfer schweigt, ist für immer still.

21. Dezember 2019

Mitten in der grossen und, im Moment, leeren Halle des Zürcher Hauptbahnhofs sehe ich eine Familie, die wild aufeinander einfuchtelt. Was sie sagen, verstehe ich nicht. Im allgemeinen Getöse von ein- und abfahrenden Zügen, Bremskontrollen, Durchsagen, herumpolternden Gepäckwagen und aus allen Richtungen durch die Luft schwirrenden Gesprächsfetzen. Aus zehn Metern wirkt es wie eine Pantomime für drei Personen. In ihrer Nähe wird es plötzlich leiser, und ich erkenne – die sind gehörlos, vermutlich. Und verständigen sich in Gebärdensprache. Für einen Moment stelle ich mir vor, alle in dieser Halle würden plötzlich nur noch gebärden. Kein Wort mehr zu hören. Keine lauten Rufe. Kein Gebrüll. Nur Stille. – Aufatmen. Geniessen. Nachdenken. Angst. Vor EinsamkeitLeereTod.

Anfang Jahr werden wir in einer Organisation für Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen die Frage diskutieren, wie ein diskriminierungsfreier, wirklich alle inkludierender Apéro gestaltet werden müsste. Die gängigen Steh-Apéros verdammen Rollstuhlfahrer*innen zu einer, äxgüsi, Arsch-Perspektive. Gehörlose müssen sich beim Smalltalk in einen Stummfilm von Fritz Lang versetzt fühlen. Aber wenn sie Dolmetscher*innen mitbringen, wird es richtig teuer. Schlimmstenfalls geraten sie unter Spitzelverdacht, weil sie sich auch vertrauliche Gespräche in Gebärden übersetzen lassen. Und wie sollen sich Blinde in diesem vielstimmigen Geplapper orientieren? Damit sie am richtigen Ort mitreden können.

Im Januar 2020 werde ich auf der Facebook-Seite der Weissen Rose den Satz finden: «Würde man eine Schweigeminute für jedes Opfer des Holocaust halten, wäre es 11 Jahre lang still.» Wenn für alle Opfer der Menschheitsgeschichte geschwiegen würde, es wäre Stille bis ans Ende aller Tage.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Im Tagebuch spiegeln sich das Private und das Öffentliche, wird das Subjekt schreibend Teil der Welt.

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