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Zwischen zwei weiteren zermürbenden Analysen das immer wieder wohltuende «Walden». © -

Eine verheerende Art

Hans Steiger /  Ein wild feministischer und ein kühl akademischer Blick auf das sogenannte Anthropozän. Wir erscheinen darin als verheerende Art.

Schon bevor das Anthropozän als «neue geochronologische Epoche» proklamiert wurde, gab es Debatten um den Anthropozentrismus, der unser Verhältnis zur Natur vergiftet. Auch der grosse Essay von Eileen Crist, die als Soziologin an einer technischen Uni in den USA wirkt, zeigt dies. Der Mensch ist, wie der Titel der deutschsprachigen Ausgabe schön deklariert, nicht die «Krone der Schöpfung», sondern eher die schlimmste aller Arten.

Fundamental kriminelle Lebensweise

«Das fundamental Kriminelle» an unserer gegenwärtigen Lebensweise sei, dass sie «darauf beruht, sich all das von der nichtmenschlichen Welt anzueignen, was für die Umwandlung in Waren und Reichtum benötigt wird». Was dem im Weg steht, wird vertrieben oder getötet. So bedrohlich die Klimakrise ist – das ungebremste Ausrotten anderer Arten ist ein wohl noch alarmierenderes Indiz für die Fehlentwicklung eines «etwas intelligenteren Tieres», das mit seinem Überlegenheitsdenken vom Teil des Ganzen zum Dominator wurde. Hier darf für einmal nur die männliche Form stehen, vertritt doch die Autorin eine explizit feministische Position.

Eileen Crist: Schöpfung ohne Krone. Warum wir uns zurückziehen müssen, um die Artenvielfalt zu bewahren. Oekom, München 2020, 397 Seiten, CHF 40.90
Dass das Artensterben nach wie vor verdrängt wird, hat unter anderem damit zu tun, dass wir das Trauern über Verlorenes kaum zulassen. Auch unser Gespür für «die enorme kulturelle und individuelle Vielfalt der menschlichen Beziehungen zur Umwelt in Gegenwart und Vergangenheit» ist ein gefährdetes Gut.
Allerdings macht es einem Eileen Crist nicht immer leicht, ihrem postulierten Radikalkurs in die Gegenrichtung zu folgen: Mindestens die halbe Erde wieder zur Wildnis werden lassen? Zurück zu einer Weltbevölkerung von 2 Milliarden Menschen? Dass im Buch, dessen Original bereits 2019 erschien, auch Pandemien als Krisenfaktor auftauchen, weckt Gedankengänge, die sicher nicht gemeint sind. Massensterben in fernen Ländern? Nein, mehr globale Gerechtigkeit gehört mit zur Zukunftsvision der Autorin. Menschenrechte sollen erweitert, Frauen emanzipiert und damit auch zum eigenen Entscheid über die Kinderzahl ermächtigt werden.

Ein eigentümlicher US-Wildnis-Kult?

Es gibt Passagen und einzelne Ausdrücke, die sehr irritieren. Sicher dreimal taucht der Begriff Holocaust auf – als «biologischer» bereits im ersten Satz des ersten Kapitels, wo «der weltweite Zusammenbruch der Biodiversität» zutreffend drastisch mit Fakten vorgeführt wird. Muss, ja darf hier noch dieser verbale Hammer eingesetzt werden? Ist der Vergleich zulässig? Oft wird aus dem Plädoyer für die Natur eine beinahe kitschige Beschwörung des Wilden. Ist das typisch US-amerikanisch? Wildnis-Kult als Folge der Kolonisationsgeschichte, die nicht nur mit Naturzerstörung, sondern auch mit Massenmord an «Wilden» verbunden war. An esoterische Elemente und andere Eigenheiten der «Tiefenökologie» habe ich mich inzwischen gewöhnt, doch mir wird unwohl, wenn «Intimität mit der Erde in unser innerstes Wesen führen» soll.

Anderswo fand ich Pathos angemessen. Etwa auf den letzten zwei Seiten, wo zuerst John Rodman zitiert wird: «Was die Natur verarmt, verarmt auch uns.» Und mit unserer Ignoranz gegenüber der tristen «Apartheid zwischen Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen» habe sich auch die seit Jahrtausenden immer wiederholende Geschichte der sozialen Ungleichheit und Ungerechtigkeit verschärft. Nun sei es «die heroischste Aufgabe, zu der Menschen je aufgerufen worden sind», den Teufelskreis zu verlassen und die Zivilisation radikal umzugestalten. Kräfte dafür wären in einer «zärtlichen Liebe zur lebendigen Welt» zu finden.

Zwischenhalt in der Hütte am See

Mit der «Liebe zur lebendigen Welt» ist das Stichwort für einen erholsamen Abstecher gegeben – zu «Walden» von Henry D. Thoreau. Eine weitere deutschsprachige Ausgabe liegt vor. Untertitel: «Vom Leben im Wald». Hinten ist seine kleine Holzhütte am Walden-Toteissee zu sehen, von seiner Schwester gezeichnet und der Erstausgabe von 1854 entnommen. Schon zum 200. Geburtstag dieses auch heutige Wünsche nach Wildnis ideal verkörpernden Aussteigers auf Zeit gab es ein veritables Revival.

Henry D. Thoreau: Walden. Nachwort von Susanne Ostwald. Manesse Verlag, München 2020, 600 Seiten, CHF 37.90
Ich las sein wohl schönstes Buch nicht nochmals ganz; doch das Schmökern allein war erholsam. Dass die inzwischen klassische Übersetzung von Fritz Güttinger «einer umfassenden Revision unterzogen» wurde, fiel nicht auf. Interessant sind die teils recht kritischen Anmerkungen der Herausgeberin. Sie relativieren den etwas gar bilderbuchhaften Auftritt des Helden, welcher mit «robustem Körperbau» und festen Schuhen durch den Wald geht, in den Taschen den Schreibstift und sein Notizbuch, in dem «das wohl erstaunlichste Werk der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts» skizziert worden sei. Naturkundlich war darin nicht alles korrekt und auch punkto Frauenbild gäbe es einiges zu bemängeln. Es habe zwar immer wieder Versuche gegeben, den «Walden»-Texten «eine feministische Perspektive überzustülpen», schreibt Susanne Ostwald im Nachwort, aber die wäre «nicht so klar».

Immerhin zieht auch Eileen Crist, die profilierte Feministin, ihren Thoreau wiederholt als Zeugen bei. So etwa mit dem Satz: «Alle guten Dinge sind wild und frei.» Dies hält auch sie für eine zentrale Erkenntnis, denn «die Essenz des Lebens» sei, «nicht eingesperrt zu sein». Wenn es nicht daran gehindert werde, «wandert das Leben, es breitet sich aus, diversifiziert sich, bevölkert den Planeten, bringt Welten auf ihm hervor und füllt sie». Womit wir zurück beim Kernproblem der Gegenwart sind und den zwei Büchern, in denen die Dominanz einer einzigen, alles verheerenden Art analysiert wird.

Geschehen in (m)einer Generation

In der Einschätzung der Lage unterscheiden sich Eileen Crist und Erle C. Ellis kaum. Umso mehr im Ton. Wie ein Schiedsrichter wägt der gleichfalls in den USA wirkende Geograf darin ab, welches die korrekte Antwort auf die Frage sei, wann das von seiner Zunft und ihm selbst mit ausgerufene «Anthropozän» angefangen habe. Ihm scheint der Mehrheitsentscheid einer Arbeitsgruppe und eines Fachkongresses richtig, «den Beginn der neuen Epoche in der Mitte des 20. Jahrhunderts anzusetzen». Ab da steigen alle Kurven, die ökologisch bedeutsame Daten zusammenfassen, steil an. Aus einem 2001 vorgelegten Bericht zu Ergebnissen der Erdsystemforschung: «In den letzten 50 Jahren hat sich zweifellos die rapideste Veränderung der menschlichen Beziehung zur Natur in der Geschichte der Menschheit vollzogen.» Sowohl «die Grössenordnung, das räumliche Ausmass und die Geschwindigkeit» des Wandels seien in der Menschheits-, vielleicht in der Erdgeschichte beispiellos. Mittlerweile befinde sich das Erdsystem in einem «nicht analogen Zustand».

Was immer letzteres bedeuten mag – das sind deutliche Befunde. Und ich gehöre zur Generation, die übelste ökologische Umbrüche erlebt, das kaum erkannt hat und vor den schlimmsten Folgen stirbt! Ein paar Grafiken trugen zu meinem Aha-Erlebnis bei: «Entwicklung der menschlichen Aktivitäten» und «Veränderungen im Erdsystem» seit 1750. In den je zwölf erfassten Bereichen setzte «die grosse Beschleunigung» fast immer Mitte des letzten Jahrhunderts ein. Also geschah, was sich jetzt als Verhängnis erweist, in der Lebenszeit einer, meiner Generation! Eher leidenschaftslos sachlich wird im Text konkretisiert, wie da «etwas Neues» begann: «Flüsse wurden gestaut und hydrologische Ströme umgeleitet», Flora und Fauna um die ganze Welt transportiert, «biogeochemische Kreisläufe» verändert.

Erle C. Ellis: Anthropozän. Das Zeitalter des Menschen – eine Einführung. Oekom-Verlag, München 2020, 250 Seiten, CHF 27.90
Und die Bilanz? Angesichts des Ausmasses, der Raten und der Vielfalt schädlicher, von menschlichen Gesellschaften ausgelöster Umweltveränderung, stellt der Autor fest, lasse sich «das Anthropozän eigentlich nur als ein absolutes Desaster betrachten». Ein paar Seiten über mögliche «gute» Zukunftsvarianten folgen zwar. Dass, «wenn unsere Spezies wie die meisten anderen ausgestorben» sei, wohl noch eine weitere Milliarde Jahre lang Leben auf der Erde bleibe, ist also nicht sein letzter Trost.
——
Dieser Text erscheint auch als Teil einer Rezensions-Reihe zur (Um)Weltkrise in der P.S.-Sommer-Buchbeilage.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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2 Meinungen

  • am 6.07.2020 um 15:15 Uhr
    Permalink

    Die ursprünglich Bedeutung von engl. ‹Holocaust› war aus altgriechisch ‹ὁλόκαυστος› holókaustos „vollständig verbrannt“.
    Das war das Ziel der Täter in der NS-Ideologie, wenn sie auch bei der ‹vollständigen› Verbrennung versagten; Gott sei Dank.

    Für Juden hat es die Bedeutung von Schoah, Schoa, Shoah oder Shoa; hebräisch הַשּׁוֹאָה ha’Schoah für „die Katastrophe“, „das große Unglück/Unheil“)

    Einer der grössten Denkfehler von Menschen sei ja, dass wenn etwas als gut od. besser erkannt wird, noch mehr davon noch besser sei. (Dieter Dörner)
    Die Lehre vom richtigen Mass u. Massnehmen/Massnahmen abhängig von den jeweiligen Umständen kann nicht extrem ausarten oder in Selbstreferentialität zu einer extremistischen Ideologie entarten.
    Es gibt tatsächlich keine ‹guten› od. ‹üblen› Menschen, sondern bloss Menschen, die für ihre Mitmenschen/Nächsten u. die Mitwelt mehr oder wenig ‹Gutes› oder mehr oder weniger ‹Übles bis Tödliches› tun.

    DIE Menschheit wird auch nicht so schnell vollständig aussterben, in einer unerträglichen Hitze. Es werden insgesamt weniger Menschen leben, die auch noch ein schlechteres Leben haben. Die ganzen Versuche in in einer autarken Umgebung zu überleben, im Namen von ‹in Raumschiffen› oder ‹auf dem Mars›, sollen wohl das Überleben von Macht- u. Kapital-Eliten ermöglichen.
    Sozusagen moderne Formen der ‹Arche Noah›.

  • am 8.07.2020 um 13:06 Uhr
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    Morgendämmerung? Einige wenige scheinen zu erkennen, dass der Homo Sapiens im Anthropozän für Fauna und Flora eine einzige Katastrophe ist. Selber entwickle ich längst keine Leidenschaften mehr für die Sorge um das Überleben des Raubtiers Mensch. Bereits acht Milliarden werden ausreichen um dem Frevel ein Ende zu setzen. Ab in die neue Arche Noah, sagt Hr. Pirkl. Aber die fährt dann nur noch zur Hölle.
    Corona, ein kleines Fanal und Schuss vor den Bug! Die Natur lässt exponentielles Wachstum zwar zu, aber Knappheit, Kampf und Seuchen korrigieren es immer wieder.
    Das wissen wir seit Darwin ohne das Geringste an unserem Verhalten geändert zu haben.

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