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Minarettverbot: Künftig soll das Volk vor einer Abstimmung erfahren, ob Grundrechte tangiert sind. © svp

Direkte Demokratie und Grundrechte schützen

Gret Haller /  Zweifache Abstimmung und Vorprüfungsvermerk sollen eine breite Debatte über die Entwicklung von Grundrechten ermöglichen. Teil 2.

Schutz brauchen weder das nationale noch das internationale Recht, sondern die Demokratie, insbesondere wenn diese auch über die Feinheiten direktdemokratischer Elemente verfügt. Und genau dies ist in letzter Konsequenz der Sinn der Verfassungs- und Gesetzesänderung, die der Bundesrat vorschlägt, um Volksinitiativen mit dem Völkerrecht und dem Kerngehalt der verfassungsmässigen Grundrechte in Einklang zu bringen. Wenn Unterschriften gesammelt werden, ohne darauf hinzuweisen, dass die Bundesversammlung eine Initiative möglicherweise für ungültig erklären muss, so höhlt dies die direkte Demokratie aus. Würde man solche Volksinitiativen verbieten, wäre es jedoch nicht im Sinne der direkten Demokratie. Unterschriften sollen gesammelt werden können, aber die Unterzeichnenden sollen wissen, dass es damit noch Probleme geben könnte.

Deshalb stärkt die vom Bundesrat vorgeschlagene neue Regelung über die materielle Vorprüfung von Volksinitiativen die direkte Demokratie (siehe erster Teil: «Staatsstreich oder Schutz der direkten Demokratie?»). Aber auch die zusätzlich vorgeschlagene Verfassungsänderung zu den grundrechtlichen Kerngehalten, welche die Verfassung als «unantastbar» garantiert, bringt eine Verwesentlichung der demokratischen Rechte. Es bleibt dabei, dass alle Bestimmungen der Verfassung geändert werden können. Wenn aber Änderungen vorgeschlagen werden, die den Kerngehalt von Grundrechten tangieren, so müssten dem Volk nach Annahme des vorgeschlagenen Verfassungsartikels zwei Fragen getrennt gestellt werden. Zunächst geht es um die Änderung des Kerngehalts. Wird diese Modifikation abgelehnt, ist eine Initiative zum konkreten Anliegen nicht möglich. Nur nach Annahme der Modifikation ist es möglich, die Initiative zum konkreten Anliegen zu lancieren und darüber zu befinden.
Zweistufigkeit des Abstimmungsverfahrens
Bei diesem Vorgehen können sich die Stimmberechtigten zuerst über den Stellenwert einer zu ändernden Grund- und Menschenrechtsgarantie äussern, und erst dann zu einem konkreten Vorhaben. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der Stellenwert, den jemand den Grund- und Menschenrechtsgarantien einräumt, nicht unbedingt übereinstimmt mit der Ansicht der selben Stimmbürgerin oder des selben Stimmbürgers über ein bestimmtes Vorhaben. Wer das konkrete Vorhaben befürwortet, will nicht unbedingt Grund- und Menschenrechtsgarantien schmälern.

So können einzelne Bürgerinnen und Bürger nach einer brutalen Sexualstraftat die systematische Zwangssterilisation von Sexualstraftätern befürworten, obwohl sie nicht an den verfassungsmässigen Garantien zur Bewahrung der Menschenwürde rütteln möchten. Oder angesichts eines drohenden Terroranschlages können sie die Folter eines gefassten möglichen Täters vertretbar finden, wenn der Sprengsatz noch entschärft werden kann, falls man wüsste, wo er deponiert worden ist. Das heisst noch nicht, dass sie die Garantie der körperlichen und psychischen Integrität an sich in Frage stellen.

Die emotionale Beurteilung präsentiert sich komplizierter: In der verständlichen Emotionalität des Augenblicks werden Sexualstraftäter gewissermassen generell zu «Unmenschen», sie verlieren ihr Mensch-Sein und damit ihre Menschenwürde. Und angesichts der Gefährdung unzähliger Menschenleben wird auch der des Terrorismus Verdächtige zum «Unmenschen» ohne Würde.

Verallgemeinerung der Argumente

Sowohl der Vorsprüfungsvermerk auf den Unterschriftenbogen wie auch das zweistufige Abstimmungsverfahren zielen darauf ab, dass mit dieser Situation sorgfältig genug umgegangen wird. Wenn zweimal abgestimmt werden muss, zunächst über die Modifikation des Kerngehaltes (Zulassung von Einschränkungen der körperlichen und psychischen Integrität) und – bei positivem Ausgang dieser Abstimmung – über die eigentlich angestrebte Massnahme (Zulässigkeit von Folter im Zusammenhang mit geplanten Terroranschlägen), so findet eine Verallgemeinerung der Argumente statt. Bei der ersten Abstimmung muss überlegt werden, welche Konsequenzen die Einschränkung des grundrechtlichen Kerngehaltes hat, auch über den Kreis der betroffenen Personen hinaus. Die Frage lautet, was es bedeutet, wenn der Kerngehalt dieser Garantie aufgeweicht wird. Der konkrete Sexualstraftäter wird vom Fragesteller möglicherweise zunächst nur noch als «Unmensch» gesehen. Auch der verhaftete vermutete Terrorist wird möglicherweise zunächst nur noch als «Unmensch» gesehen.

Aber im Verlauf der Diskussion sprengen diese Fragen den Kreis der Personen, die möglicherweise als «Unmenschen» gesehen werden. Unweigerlich erreicht dieselbe Frage einen Kreis von Personen, aus welchem sich der Fragesteller ehrlicherweise nicht mehr ausnehmen kann. Was, wenn eine menschenwürdige Betreuung von Kranken und Pflegebedürftigen aus Gründen der Personalknappheit nicht mehr möglich ist, oder nur noch für jene, welche sich diese Menschenwürde finanziell leisten können? Entsprechende Horrorszenarien finden sich bereits heute in vielen Medien. Die Fragestellung führt über kurz oder lang zur Menschenwürde selber, und zwar unabhängig vom Kreis der betroffenen Personen. Und sie kann die Einsicht reifen lassen, dass jede Zulassung von gewollter Verletzung der Würde gegenüber irgend einem Menschen – und sei er noch so vermeintlich «un-würdig» – eben auch die Würde jener Menschen in Frage stellt, welche diese Zulassung befürworten.

Es war genau diese Einsicht, welche Ende des 18.Jahrhunderts dazu führte, dass man mit der Einfügung von Grundrechtskatalogen in die Verfassungen begann, verbunden mit dem Gebot der Gleichbehandlung aller Menschen, welche im Geltungsbereich der betreffenden Verfassung leben. Und es war nochmals dieselbe Einsicht, welche ab 1948 zum Schutz der Menschenrechte durch internationale Verträge führte, ausgelöst durch die grauenhaften Verletzungen der Menschenwürde vor und im Zweiten Weltkrieg. Nun wurde das Gebot der Gleichbehandlung zu einer weltweiten Aufforderung, die elementarsten Rechte allen Menschen gleichermassen zuzugestehen und ihre Würde in gleicher Weise zu achten.

Definition von Feindgruppen

Die meisten Volksinitiativen, welche zwingende Bestimmungen des Völkerrechts oder den Kerngehalt der Grundrechte tangieren, haben etwas gemeinsam. Sie definieren eine Gruppe von Menschen nach einem Merkmal, das auf eine grosse Mehrheit der Stimmberechtigten selber nie zutreffen wird. Dann erklären sie diese Gruppe zum Feind und sprechen den Betroffenen in Teilbereichen die Menschenwürde ab. Diese Methode beruht ganz generell auf dem Phänomen der Ausgrenzung von Feinden. Bei der Ausgrenzung der äusseren Feinde in Kriegen und Eroberungszügen ist sie leichter erkennbar. Sie funktioniert aber ebenso gegenüber von Feinden im Innern, wenn auch anfänglich subtiler. Beispiele gibt es unzählige, von der jüdischen Bevölkerung und anderen durch den Nationalsozialismus verfolgten Gruppen bis hin zu den vermuteten Terroristen, die auf Guantanamo gefangen gehalten werden.

Auch der vom Bundesrat vorgeschlagene Vorprüfungsvermerk auf den Unterschriftenbogen weist auf diese Zusammenhänge hin. Er will dem Mechanismus der Definition von Feindgruppen insofern entgegenwirken, als er die bestehende Problematik immerhin anspricht. Oder anders gesagt will er die beschriebene Verallgemeinerung der Argumente wenigstens anregen. Auch wenn ein Grossteil der schliesslich Unterzeichnenden darüber hinwegsehen wird, sorgt der Vorprüfungsvermerk dafür, dass die öffentliche Diskussion der beschriebenen Zusammenhänge rechtzeitig einsetzen kann. Denn in der emotional aufgeladenen Schlussphase von Abstimmungskämpfen bleibt für differenzierte Argumente kaum mehr Raum.

Die negative Reaktion der SVP auf die bundesrätliche Vorlage erklärt sich auch dadurch, dass sie ihr bewährtes Verfahren der Feindbild-Definition geschwächt sieht. Eine ihrer Methoden besteht darin, die Verallgemeinerung der Argumente zu verhindern, und damit den Gedanken der gleichen Würde aller Menschen schon gar nicht aufkommen zu lassen. Es geht ihr darum, die demokratische Auseinandersetzung in einem bestimmten Moment abzublocken, nämlich genau in jenem Augenblick, in welchem allenfalls die Verallgemeinerung der Argumente einsetzen könnte, aufgrund welcher die betroffenen Menschen doch auch als Menschen mit der ihnen eigenen Würde gesehen würden. Die öffentliche Meinung soll im Feindgruppen-Modus gefangen bleiben. Die beste Illustration für dieses Abblocken der demokratischen Auseinandersetzung findet sich auf gewissen Abstimmungsplakaten der vergangenen Jahre. Und das Abblocken ist zutiefst undemokratisch. Demgegenüber könnte der Vorprüfungsvermerk für das rechtzeitige Einsetzen der Diskussion sorgen.

Verwesentlichung der direkten Demokratie

Beide Vorlagen des Bundesrats tragen der Schweizerischen Tradition der Volksrechte Rechnung. Sie folgen nicht der Tendenz, welche der politischen Auseinandersetzung die Rationalität abspricht und diese nur in der richterlichen Rechtsfindung gesichert sieht. Dieser Sicht ist kürzlich auch das Parlament entgegengetreten, indem es die generelle Bindung des Bundesgerichtes an Bundesgesetze aufrechterhielt und die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit ablehnte.

Beide Vorlagen tragen darüber hinaus zu einer Verwesentlichung der Volksrechte bei. Der Bundesrat hat diesen Aspekt nicht hervorgehoben. Schliesslich hat er auch lediglich das ausgeführt, was National- und Ständerat in übereinstimmenden Motionen von ihm verlangt haben. Wenn hier das Grundsätzliche des Schutzes der direkten Demokratie als eigentliches Ziel der Vorlagen betont wird, so auch deshalb, weil die schweizerische Tradition des Ausgleichs zwischen politischen Mitwirkungs- und individuellen Grundrechten zwei Seiten hat.

Allgemein gültige Gesetze wie auch die Verfassung sollen aus der Politik hervorgehen. Dies bedeutet, dass sich kein Richter in die demokratischen Abläufe einmischen darf, weder durch die generelle Ungültigerklärung von Gesetzen noch durch das vorsorgliche Verbieten von Volksinitiativen. Der Schutz des Individuums vor diesen Gesetzen im individuellen Anwendungsfall ist hingegen Sache der Gerichte. Deshalb verfügt der Richter über einen Freiraum.

Im einzelnen individuellen Anwendungsfall hat er die Möglichkeit, Gesetzes- und Verfassungsbestimmungen nicht anzuwenden, wenn sie gegen grundrechtliche Kerngehalte der Verfassung oder gegen Völkerrecht verstossen. Und dies gilt auch für den Fall, dass die nicht zur Anwendung gelangenden Bestimmungen jüngeren Datums sind. Ueber den Schutz des Individuums hat die Demokratie keine Gewalt.

Siehe erster Teil von Gret Haller: «Staatsstreich oder Schutz der direkten Demokratie?»
Es folgt ein dritter Teil von Ludwig A. Minelli: «Gerichte schützen Minderheiten besser»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Gret Haller ist Autorin des Buches «Menschenrechte ohne Demokratie? Der Weg der Versöhnung von Freiheit und Gleichheit», Aufbau-Verlag Berlin, 2012. Zu bestellen bei Buch.ch für 34.90 CHF; Amazon für 23 Euro.

Zum Infosperber-Dossier:

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Eine Meinung zu

  • am 24.04.2013 um 13:40 Uhr
    Permalink

    Herr Minelli ? Autor von Fährmann der Lebensmüden, aus dem Beobachter-Verlag? auf diesen dritten Teil bin ich gespannt.

    Qualitative Demokratie
    Was mich auf jeden Fall immer wieder bewegt, ist der Gedanke, dass man die Qualität der Demokratie verbessern könnte, wenn man etwas für sein Stimmrecht tun muss. Für alles braucht es eine Prüfung. Zum Beispiel für den Strassenverkehr. Dass das Prüfungswesen selber, in allen Bereichen, noch Lücken hat und Verbesserungswürdig ist, sei jetzt mal nicht Gegenstand dieses Essays. Also, für den Strassenverkehr braucht es einen Führerschein, damit man sich der Regeln bewusst wird, welche ein sicheres Fahren für alle Beteiligten möglich macht. Einige Regeln, auch in diesem Bereich, werden von vielen als Unsinnig bezeichnet, andere als Gut, einige sind veraltet, aber immerhin, es funktioniert einigermassen. Auch für viele andere Tätigkeiten wird eine Ausbildung und eine Prüfung verlangt. Aber nicht für das Abstimmen. Ja auch der obligatorische Samariterkurs braucht eine Prüfung am Schluss? Auf jeden Fall denke ich, es wäre gut, wenn man sich das Abstimmungsrecht mit einem Kurs erwerben sollte. Ein Kurs welcher ethischen, moralischen, soziologischen Grundwerte gerecht wird und deren Sinn anschaulich vermittelt, auch für Personen mit einfacher Bildung leicht verständlich. Ein Kurs welcher aufzeigt vor welchem emotionalem oder erlebtem Hintergrund wer wie oder zu was verführbarkeitsanfällig wird. Ein Kurs welcher aufzeigt, wie Lobbyisten arbeiten, und versuchen Politik zugunsten ihrer Firmen zu manipulieren, manchmal zum Vor und manchmal zum Nachteil des Volkes. Zum Schluss gibt es eine Prüfung, und wer den Mindestprozentsatz an Erkenntnissen sich einverleiben konnte, erhält den Stimmrechtsausweis. Der Kurs wird im Auftrag des Bundes von den Gewerkschaften, zusammen mit einem Gremium von Politologen und Ethikern gestaltet und gegeben. Der Kurs ist für den Teilnehmer kostenlos und kann unbegrenzt wiederholt werden, bis die Prüfung bestanden ist. Dies wäre eigentlich der griechisch-philosophischen Idee einer Geniokratie sehr ähnlich. Unter solchen Umständen wäre auch eine direktere Demokratie denkbarer. Das Risiko das Populismus, Rassismus und andere emotionalen Geleise, auf denen man unter emotionalem Druck in Notsituationen so leicht abfahren könnte, wäre erheblich gebannt. Mit den heutigen Möglichkeiten wie Internet könnten die Bürger direkt an den Sessionen über diese Vernetzung teilnehmen, und könnten ihre Haltung zu den verschiedenen diskutierten Themen unter den Parteien auf einer elektronischen Tafel mit 3 Statusmeldung kundtun. Mit Ja, Nein oder Vielleicht. Volk und Politiker kommen sich so näher. Sessionen im Bundeshaus gehören somit immer Live übertragen an einen TV-Kanal, von denen es ohnehin schon zu viele gibt, in denen a la Brot und Spiele das Volk abgelenkt wird von Dingen welche für die Zukunftsgestaltung wichtiger wären. Was das angeschnittene Thema Prüfungswesen betrifft, und ich mich an meine Fahrprüfung erinnere, kommt mir die Galle hoch. Denn meine langen Haare sorgten dafür, dass ich 2 mal antanzen musste, während mein Kollege mit seinem Bürstenschnitt, im Auto von seinem Vater redend welcher Hauptmann sei im Militär, was eigentlich gar nicht stimmte, den grössten Mist zusammen fuhr, und dennoch sofort seinen Führerschein hatte. Er gewann die Wette welche wir gemacht hatten. Solche Dinge müssen sich ändern, das Prüfungswesen bedarf dringendster Verbesserung, dann gibt es auch weniger mit Doktortitel, welche eigentlich nur gut auswendig lernen konnten oder abgeschrieben haben. Aber eigentlich keinerlei wirkliche „Berufung“ für das haben, was sie dann herzlos, einfach des Geldes und des Ansehens wegen, tun. Beatus Gubler http://www.streetwork.ch Basel

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