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Schriftsteller Rafik Schami © CC

«Assad kann sich höchstens noch ein Jahr halten»

Urs Zurlinden /  Doch es werde für Syrien ein schlimmes Jahr, befürchtet der Exil-Syrer Rafik Schami, mehrfach preisgekrönter Schriftsteller.

Red. 25 Jahre lebte Schami in Damaskus, bevor er nach Deutschland ins Exil ging. Heute informiert er sich über die Kanäle des Nationalrats, über Oppositionssender wie «Orient», «SHAMSNN» und auch über die Sender BBC, Al Jazeera sowie direkt über Youtube. Er prophezeiht das Ende des Assad-Regimes.
INTERVIEW
Herr Schami, fühlen Sie sich noch immer bedroht?
Rafik Schami: Nein, nicht mehr so sehr. Das Regime, das mich seit über 40 Jahren bedrohte, ist nun selbst bedroht.
Sie benutzen nach wie vor ein Pseudonym – um sich zu verstecken?
Das war am Anfang die Funktion des Pseudonyms. Danach fand ich selbst Gefallen daran: Rafik Schami – der Damaszener Freund – ist mir lieber als mein bürgerlicher Name Suheil Fadél – der tugendhafte Morgenstern.
Der Freund aus Damaskus: Das tönt nach ungebrochener Heimatliebe?
Ja, weil Damaskus die schönste Stadt der Welt ist! Man sagt: Wer sieben Jahre lang in ihr wohnt, wird von ihr bewohnt. Ich lebte 25 Jahre in dieser Stadt – da können Sie sich meine Besessenheit vorstellen. Dazu kommt: Wenn man einen Menschen gewaltsam von seiner Heimatstadt fernhält, verwandelt sie sich in eine Idylle. Das Wort Heimweh haben übrigens Schweizer erfunden – es waren wohl Schweizer mit Damaszener Wurzeln….
Sie flohen 1970 aus Syrien, um dem Militärdienst zu entgehen. Sind Sie ein Fahnenflüchtling?
Nein, ich bin auch vor der Zensur durch den Geheimdienst und durch meine Sippe geflüchtet. Das Exil hat meine Zunge befreit. Meine Bücher, die dann Welterfolge feierten, hätten mich in Syrien für zehn, fünfzehn Jahre ins Gefängnis gebracht.
Syrien war noch in den 50er Jahren eine demokratische Republik. Und heute?
Die Diktatur einer einzigen Familie und ihrer Anhängsel.
Was war geschehen?
Ein verwegener Offizier namens Hafiz al-Assad hatte gegen seine Freunde in der Baath-Partei geputscht. Sein Bruder, sein Cousin, sein Schwager und Schulfreunde standen ihm bei, und so liess er die Partei als Fassade und regierte nach dem Mafia-Prinzip: Loyalität ist das oberste Maxime. Er demontierte den demokratischen Staat und ersetzte ihn durch ein dichtes Netz von Geheimdiensten. Noch nie, nicht einmal unter den Kolonialherren, gab es so viele Tote, Gefangene, Verschleppte. Im Lande herrschte eine Friedhofsruhe.
Heute ist von einer Sippenherrschaft die Rede. Einverstanden?
Das ist genau beschrieben. Hafiz al Assad war ein kluger Taktiker. Er wusste, sein Familienclan reicht nicht für die ganze Staatsmacht. Also schaltete er quasi von der bürgerlichen Gesellschaft auf die Sippen zurück. Das war leicht möglich, denn die Sippen sind stark und sie sind streng hierarchisch aufgebaut: Ist der Scheich gekauft, so folgt die ganze Sippe. Das funktionierte 40 Jahre lang gut, aber das Elend liess die Jugendlichen gegen ihn und ihre Sippe rebellieren.
Welches sind die Merkmale des heutigen Assad-Regimes?
Korruption und Terror. Wer nicht gekauft werden kann, wird ermordet – oder er flüchtet aus dem Land. Plötzlich hatten wir genau wie in Russland eine Verelendung der breiten Bevölkerungsschichten und eine dünne Schicht von Milliardären.
Staatschef Bashar al-Assad wurde im Jahr 2000 von 97 Prozent der Wahlberechtigten zum Präsidenten gewählt. War das eine Farce?
Das ist eine spezielle arabische Krankheit, die Saddam Hussein auf die Spitze trieb: Er liess sich kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner «wählen» und zwar mit 100 Prozent. Assad selbst ist nicht frei von Lüge und Selbstlüge. Vielleicht glaubt er sogar wirklich, er sei beliebt und es seien Terroristen, die zwei Millionen Menschen in 400 Orten im ganzen Landes auf die Strassen bringen und dort elf Monate lang durchhalten.
Die Armee geht äusserst brutal vor – wie einst unter Bashars Vater Hafiz al-Assad.
Heute sind die Söhne Bashar und Maher sowie der Schwiegersohn Assif Schaukat genauso brutal. Es ist aber schwieriger für sie, das Massaker leise und unerkannt durchzuführen, weil die Medien effektiver arbeiten und die Bilder innerhalb Stunden weltweit verbreitet werden. Das Regime gerät so in Isolation. Das ist der Anfang vom Ende.
Ist Brutalität eine Eigenschaft der syrischen Streitkräfte?
Ja, weil sie darauf gedrillt wurde. Ich beschrieb sie einmal mit der verachtenden Worten: Das ist keine Nationalarmee, das ist eine Putscharmee, die nicht dem Vaterland dienst, sondern dem Diktator.
Herrscht in Syrien ein Bürgerkrieg?
Schon lange. Die einzige, die das nicht merkt, ist Hillary Clinton.
Die aktuellen Aufstände werden von zahlreichen Deserteuren unterstützt. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Leider sind sie nicht zahlreich genug. Das sind Männer, die mit ihrem Gewissen in Konflikt geraten. Weigern sie sich, auf Zivilisten zu schiessen, werden sie vom Geheimdienst hingerichtet.
Wer steckt hinter der Opposition?
Auf der Strasse sind es die parteilosen Rebellen. Im Untergrund und im Ausland agieren alte und neue Parteien des gesamten Spektrums: von den Islamisten über die Liberalen, Atheisten, Nationalisten bis hin zu den Kommunisten sowie zahlreiche Intellektuelle, die wie ich parteilos sind.
Welche Rolle spielen die religiösen Überzeugungen?
Die Assad-Diktatur hat alle Parteien, politische Gruppierungen und Verbände zerschlagen. Die Religion blieb als einzige Flucht gegen die Ungerechtigkeit der «Zeit». Die Massen auf der Strasse verbindet der Ruf nach Gott, um sich Mut zu machen.
Dabei geht es weniger um religiöse Entzückung, wenn sie rufen: Wir knien nur vor Gott. Dieser Satz gleicht jenem freiheitlichen Satz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und wenn die Demonstranten ausrufen: Gott, wir haben nur Dich als Verbündeter, so heisst das: Wo bleibt ihr Araber und Muslime, Europäer und andere freiheitsliebende Völker? Helft uns!
Der Aufstand wird von den Sunniten getragen – also von der Muslimbruderschaft?
Nein, aber die Muslimbrüder sind erfahrene Opportunisten, die sich gut organisieren und mit viel Geld aus Saudiarabien schneller als die anderen Oppositionellen Einfluss gewinnen. Doch sie werden es sehr, sehr schwer haben mit einem Volk, das so viel bezahlt für seine Freiheit.
Die Elite des Staates bilden die Alawiten. Geht es auch um eine soziale Revolution?
In erster Linie ja, aber auch um Freiheit im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft. Die Syrer haben es satt zu sehen, wie alle Völker in Freiheit leben, sich frei bewegen, sich frei äussern – und sie nicht!
Staatschef Bashar ist Alawit, seine Frau Asma al-Assad eine Sunnitin?
Das war ein Arrangement des Vaters – und beide gehorchten. Der Taktiker Hafiz al-Assad wollte die obersten Kreise der Sunniten auch familiär anbinden, nachdem er sie wirtschaftlich korrumpiert hatte. Deshalb rebellieren die Hauptstadt Damaskus und die Wirtschaftsmetropole Aleppo noch nicht. Sie sind in der Hand dieser Sunniten.
Asmas Familie stammt aus der Rebellenhochburg Homs. Zufall?
Ja.
Die Präsidenten-Gattin ist in London aufgewachsen, hat Informatik und französische Literatur studiert, eine beachtliche Karriere bis zur Investmentbankerin gemacht – und engagiert sich karitativ. Das tönt alles sehr zivilisiert?
Das wurde von der Propagandamaschine der Diktatur auch so geschliffen. Sie ist genauso korrupt wie die Frau von Mubarak. Frau Mubarak hat fast 70 Millionen Dollar an Spendengelder der humanitären Organisationen für sich kassiert. Ihr Mann und ihre Söhne haben sich auf noch lukrativere Geschäfte mit Waffen, Drogen und Verbrechen grösseren Kalibers spezialisiert.
Wie man sieht, gab es auch in der korrupten arabischen Sippe eine klassische Arbeitsteilung: Frauen für das Humanitäre und Männer für die harten Geschäfte.
Gerade vor wenigen Tagen hat man aufgedeckt, dass Asma al-Assad Millionen von Spenden beschlagnahmt und damit Privatgeschäfte wie teure Spezialkliniken für reiche Ölscheichs aufgebaut hat.
Asma wird auch als «Syriens Lady Diana» bezeichnet. Einverstanden?
Um Gottes Willen, nein! Sie hat nicht einen Funken von Lady D.
Ihr Mann Bashar war Augenarzt, und auch er galt lange als Hoffnungsträger…
….für ganz einfach gestrickte Geister, verzweifelte Syrer, müde Intellektuelle, die ihren kritischen Geist am syrischen Flughafen aufgegeben haben, um sich in ihren alten Tagen nach so vielen Jahren des Exils oder des Gefängnisses zu erholen. Und für gewisse europäische Opportunisten vom Schlage eines Peter Scholl-Latour, die immer eine Zuneigung zur Diktatur hatten.
Eine zentrale Rolle in Syrien spielt der Geheimdienst. Weiss Assad überhaupt, was in seinem Land geschieht?
Er ist der oberste Herr der 15 Geheimdienste und trägt die Verantwortung für jeden Schuss – für jeden Mord. Das ist auch sein Dilemma: Er verspricht Reformen und lügt dabei. Denn die wichtigste Reform wäre die Auflösung aller 15 Geheimdienste, welche die Syrer seit 40 Jahren demütigen. Aber wenn er an so etwas schon nur denkt, ist er bereits tot. Assad ist Gefangener seines Systems.
Begonnen haben die Unruhen vor bald einem Jahr mit Protesten gegen ein seit 48 Jahren geltendes Ausnahmegesetz. Worum ging es dabei?
Begonnen hat es am 15. März 2011, als Kinder und Jugendliche in der staubigen Stadt Daraa arglos Sprüche gegen die Korruption, gegen die Demütigungen durch die Geheimdienste und gegen die Armut auf Wände sprayten. Sie wurden verhaftet und gefoltert. Als die Eltern nach ihren Kindern fragten, wurden sie vom Chef des Geheimdienstes, einem Cousin des Präsidenten, brutal zurückgewiesen. Die Eltern und ihre Freunde demonstrierten am nächsten Tag gegen diesen Geheimdienstchef. Sie sagten kein Wort gegen den Präsidenten.
Dann beging Baschar al-Assad einen tödlichen Fehler: Anstatt seinen Cousin zu bestrafen, schickte er Panzer, welche die Stadt umzingelten, und liess den Geheimdienst auf die Zivilisten schiessen. Er wolle keine tunesischen oder ägyptischen Zustände, sagte er – er bekam syrische.
Assad hat aber das Ausnahmegesetz umgehend aufgehoben – dennoch hielten die Proteste an?
Das war eine Farce, die sich nach jedem neuen Versprechen wiederholte: Am selben Tag schossen die Soldaten in über 30 Städten auf Demonstranten. Vom Aufheben der Ausnahmegesetze war gar keine Rede mehr!
Letzte Woche hat er erneut Reformen und eine Referendumsabstimmung für eine neue Verfassung versprochen. Er gibt sich einsichtig?
Nein, er will nur Zeit gewinnen, um alle Nester des Widerstands zu liquidieren. Dann wird es wieder eine Friedhofsruhe geben. Seine Planung geht aber nicht auf. Die Zeiten haben sich verändert, und die über 7000 Toten lassen die Syrer nicht mehr vergessen, weshalb sie auf die Strasse gingen.
International ist Bashar al-Assad zunehmend isoliert, nur Russland und China stehen noch hinter ihm. Wird er zum Spielball der Weltmächte?
Nein. Es ist eine Strategie auf Gegenseitigkeit: Die Russen brauchen die syrischen Häfen als einzige ihnen gebliebenen «Warmwasser-Häfen», und die Syrer sind grosse Einkäufer für Waffen in beiden Staaten. Zudem haben China und Russland die Möglichkeit, einen Gegenpol zum Westen zu errichten. Das wird aber scheitern. Weniger als die Chinesen, die ein neues dynamisches Imperium aufbauen, werden die Russen die grossen Verlierer sein in Syrien – und Putin wird stürzen.
Die Türkei plant eine internationale Syrien-Konferenz. Was versprechen Sie sich davon?
Erdogan spricht zu viel und sein Vokabular ist hohl. Die Türkei hat eine entscheidende Rolle als mächtiger Nachbar. Bisher sah ich aber ausser der Aufnahme der Flüchtlinge herzlich wenig.
Welche Rolle spielt die Arabische Liga?
Sie ist ein Verein von Diktatoren. Aber sie verhalf vielleicht ungewollt der syrischen Opposition zu einem diplomatischen Sieg: Selbst in Syrien ist nun offiziell die Rede von einer grossen Krise des Systems. Und sie hat im UN-Sicherheitsrat die Verurteilung Assad beantragt. Das scheiterte zwar am Veto der Russen und Chinesen, aber es war einmalig in der Geschichte der Liga, dass sie ein arabisches Regime vor die UNO zerrt und öffentlich anprangert.
Was können Länder wie die Schweiz oder Deutschland tun?
Ihrer Freiheit und Demokratie würdig sein und dem syrischen Volk beistehen in dieser schweren Stunde!
Der Konflikt hat schon über 7000 Opfer gefordert – und spitzt sich dramatisch zu?
Es wird immer brutaler. Seit dem Veto der Russen, das dem Regime mit dem anschliessenden Besuch von Aussenminister Sergej Lawrow quasi grünes Licht zum «Weitermorden» gab, erhöhte sich die Zahl der Verschleppten und Gefallenen massiv. Ganze Städte werden von der Aussenwelt abgeriegelt und zusammengeschossen.
Letzte Woche war erneut von Armeegranaten auf Wohnquartiere, von Folterungen und Massakern die Rede. Was wissen Sie davon?
Es ist schlimm. Die schöne Stadt Homs wird systematisch zerstört, weil sie zum Herzen der Revolution aufstieg. Das sind Bilder, die ich kaum ertrage und niemanden zumuten möchte.
Wie informieren Sie sich?
Über die Kanäle des Nationalrats, über Oppositionssender wie «Orient», «SHAMSNN» und auch über die guten Sender wie BBC, Al Jazeera etc. oder direkt über Youtube.
Was kommt nach Bashar al-Assad?
Vermutlich irgendein unbekannter Typ einer Übergangsregierung. Danach werden die gemässigten Islamisten etwas Gewicht gewinnen und nach zwei Jahren wieder zu einer kleinen Partei schrumpfen, weil sie keine Antworten auf die globalen Fragen haben. Es wird dann eine grosse Koalition von Liberalen und neuen Konservativen geben. Von Sozialismus werden die Syrer eine Weile nicht mehr hören wollen.
Wie lange kann sich Assad noch an der Macht halten?
Vielleicht noch ein Jahr – und es wird das schlimmste Jahr in der Geschichte des Landes sein.
Wie lange werden Sie noch im Exil leben?
Nach dem Sturz von Assad bin ich nicht mehr im Exil. Dann werde ich zwei Wohnsitze haben: einen im alten Stadtviertel von Damaskus und einen in der pfälzischen Provinz in Deutschland. Das nennt man dann Luxus – und nicht mehr Exil.

Dieses Interview erschien am 12.2.2012 in der Südostschweiz


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Rafik Schami wurde als Suheil Fadél am 23. Juni 1946 in Damaskus geboren. Er wuchs im christlichen Viertel der Altstadt auf. 1971 floh er nach Heidelberg, wo er 1979 in Chemie doktorierte. Drei Jähre später verliess er die chemische Industrie und lebt seither als freier Schriftsteller. Seinen ersten grossen Erfolg hatte er 1989 mit «Erzähler der Nacht», 2004 erfolgte mit «Die dunkle Seite der Liebe», der Durchbruch. Seine Bücher sind bisher in 24 Sprachen erschienen. Seine neusten Veröffentlichungen sind: «Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte» (Hanser 2011) und das Kinderbuch «Das Herz der Puppe» (Hanser 2012). Für seine Werke wurden ihm zahlreiche Literaturpreise verliehen. Rafik Schami lebt mit Frau und Sohn in der Pfalz.

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