Covid-Pandemie: «Jetzt klopfen sie sich alle auf die Schulter»
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Vor sechs Jahren begann die Corona-Pandemie. Wie beurteilen Sie diese Zeit im Rückblick?
Sie war sehr bedrückend. Ich habe mich damals oft mit Politikern auseinandersetzen müssen. Die Politik meinte, sie könne Infektiologie betreiben. Aber nur wenige Fachleute hatten wirklich Erfahrung mit der Seuchenbekämpfung. Diese hätten die Politiker beraten müssen. Aber das fand nicht statt.
Warum nicht?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es lief ab wie eine Lawine: Ein Land machte etwas, die anderen zogen nach, keines konnte sich angeblich entziehen. Es gab für solche Situation einen Pandemieplan, es gab vorbereitete Lösungen – trotzdem griff man nicht darauf zurück. Das war der erste grosse Fehler.
Aber Schweden scherte aus.
Ja. Es war das einzige Land, das abwich. Und es kam besser durch die Pandemie als wir in Deutschland.
War denn die Übersterblichkeit in Schweden geringer als in der Schweiz oder in Deutschland?
Allerdings.
Welche weiteren grossen Fehler hat die Politik gemacht?
Zu den grössten Fehlern gehörte, dass Politiker ausschliesslich auf sogenannte Experten hörten. Dazu zähle ich auch die Leopoldina und die Ethik-Kommission. Was dort für teils völlig abwegige Ideen verbreitet wurden, war teilweise unsäglich. Leider meldeten sich auch aus dem Öffentlichen Gesundheitswesen Kolleginnen und Kollegen zu Wort, die keine Erfahrung mit Pandemiebekämpfung hatten. Man hat unnötiger Weise den Flugverkehr lahmgelegt, zu einem Zeitpunkt, als es innerhalb des Landes schon wesentlich mehr Krankheitsübertragungen gab, als per Flugzeug eingeschleppt wurden. Aber das geschah ja leider weltweit.
Zur Person

Der Leitende Ministerialdirektor a.D. und Medizinprofessor René Gottschalk (geb. 1956) ist Biotechniker, Bio-Ingenieur und Arzt. Er bildete sich weiter zum Facharzt für Innere Medizin mit dem Spezialgebiet Infektiologie und für Öffentliches Gesundheitswesen. 1998 wechselte er von der Universitätsklinik Frankfurt ans dortige Gesundheitsamt, dessen Leitung er von 2009 bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung 2021 innehatte. In dieser Zeit wandelte sich das Amt von einer verstaubt anmutenden Behörde zu einem wissenschaftlich arbeitenden, modernen Zentrum. Als Sars-1 ausbrach, leitete Gottschalk im Nebenamt das hessische «Kompetenzzentrum für hochpathogene Krankheitserreger». Später habilitierte er zu Sars-1. Er war lange Jahre Sprecher eines Arbeitskreises für hochpathogene Erreger am Robert Koch-Institut (RKI), beriet die deutsche Bundesinformationsstelle für biologische Gefahren und spezielle Krankheitserreger am RKI und war Mitglied einer Expertengruppe der WHO. Sein besonderes Interesse galt dem Krisen- und Infektionsmanagement an Flughäfen, dem Management hochpathogener Keime, der Epidemie-Prävention sowie Fragen der öffentlichen Gesundheit und des Bioterrorismus. 2014 etablierte er im Frankfurter Gesundheitsamt die «Studentische Poliklinik». Dort behandeln Studierende unter ärztlicher Aufsicht Menschen ohne Krankenversicherung. Gottschalk hat viele Auszeichnungen erhalten, unter anderem 2023 das Bundesverdienstkreuz und mit der Paracelsus-Medaille die höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft.
«Es wurden Daten erhoben, aber denen wurde nicht geglaubt», haben Sie kürzlich bei den Bad Nauheimer Gesprächen gesagt. Welche Daten waren das?
Schon im Februar 2020 lagen erste epidemiologische Daten auf dem Tisch: Der Ausbruch auf dem Kreuzfahrtschiff «Diamond Princess» zeigte, welche Personengruppen gefährdet waren und wie hoch die Sterblichkeit an Covid war. Die «Heinsberg-Studie» bestätigte diese Ergebnisse. Man wusste also sehr früh, in welcher Altersgruppe Personen schwer erkranken, wie viele davon stationär behandelt werden müssen, welcher Anteil wahrscheinlich sterben wird. Aus diesen Daten hätte man einen Plan machen können, wie man am besten vorgeht. Aber das geschah nicht. Coronaviren sind gefährlich für alte Menschen, aber nicht für junge. Das wusste man schon von Sars-CoV-1. Man hätte den Befunden, die ganz am Anfang erhoben wurden, trauen müssen.
Die Bilder aus Bergamo sind allen eingefahren.
Ja, sie waren auch deshalb eindrücklich, weil sie – wie jene von 9/11 – gefühlt 1000-mal gezeigt wurden. Man hätte aber sehr leicht herausfinden können, wie es zu diesen Bildern kam: Fast alle Verstorbenen dort waren alte Menschen, die von Jüngeren angesteckt worden waren. Die Jüngeren hatten sich beim Skifahren in Skiorten infiziert und das Virus dann zum Beispiel nach Bergamo eingeschleppt. Weil im Spital kein Platz für die erkrankten Senioren war, wurden die kranken alten Menschen in Altersheime verlegt und steckten dort andere Bewohner an. Das war ein fataler Kreislauf zwischen Spital und Heim.
In Deutschland wie auch in der Schweiz lagen Pläne für den Notfall bereit. Der Pandemieplan definierte drei Phasen: Die «Containment Phase» mit erst wenigen Infektionen, in der man mit allgemeinen Präventionsmassnahmen Zeit gewinnen will. Danach die «Protection Phase», wenn die Epidemie grassiert und man spezifisch die Risikogruppen schützen muss. Und schliesslich die «Mitigation Phase», in der es vor allem darum geht, die Folgen zu mindern. Sie haben kritisiert, dass der Pandemieplan nicht beachtet wurde. Was lief da schief?
Die Politik hat den Öffentlichen Gesundheitsdienst zum Containment in einer Phase gezwungen, in der es nur noch eine Arbeitsbeschaffungsmassnahme für Gesundheitsämter darstellte. Im Sinne des Seuchenschutzes hat es im Verlauf der Pandemie überhaupt nichts mehr gebracht. In der Containment Phase versucht man, die Infizierten, die es im Land gibt, zu erfassen, inklusive ihrer Kontaktpersonen. Das Ziel ist, die Virusverbreitung zu verlangsamen. Nur in dieser Zeit ist die Kontaktpersonennachverfolgung sinnvoll. Danach muss es darum gehen, die Risikopersonen zu schützen und sich um sie zu kümmern.
Die Gesundheitsämter wurden über Monate hinweg zur Kontaktpersonennachverfolgung angehalten, als es schon haufenweise Infektionen gab. Wie viel Arbeitskapazität wurde durch den Auftrag, die Kontakte nachzuverfolgen, gebunden?
Im Frankfurter Gesundheitsamt waren das 100 Prozent. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren damit beschäftigt. Diese völlig abwegige Kontaktpersonennachverfolgung hat unsere komplette Kapazität belegt. Das war in allen Gesundheitsämtern so. Wichtige andere Aufgaben, zum Beispiel die Schuleingangsuntersuchungen der Kinder, konnten nicht mehr erfüllt werden, ebenso sozialpsychiatrische Beratungen, Sprechstunden und vor allem Hygieneberatungen zum Beispiel in Altersheimen.
Warum haben Sie sich nicht dagegen gewehrt?
Ich habe mich tatsächlich über die politische Weisung hinweggesetzt. Wir hatten an einem Tag 400 Neu-Infizierte. Bei allen sollten die Kontaktpersonen ausfindig gemacht werden. Teilweise haben bei uns im Amt 60 Soldaten und ungelernte Hilfskräfte bei der Kontaktpersonennachverfolgung mitgeholfen. Trotzdem kamen wir nicht mehr nach. Ich habe dann das Personal angewiesen, sich nur noch um die Risikogruppen zu kümmern.
Haben Sie deshalb Ärger bekommen?
Nein.
Warum hat die Politik den Gesundheitsämtern solche Vorgaben gemacht?
Das müssen Sie die Politiker fragen. Ich begreife es heute noch nicht. Diese politische Einflussnahme und auch das Versagen von Kollegen im eigenen Fachgebiet – da rede ich mich jetzt noch in Rage. Damals wurden teilweise unterirdisch schlechte Stellungnahmen abgegeben. Das Virus war neu, ja, doch die Daten, wie es übertragen wird, welches die Risikogruppen sind usw. – das war alles bekannt. Aber man hat diese Daten nicht wahrgenommen. Wir sind damals verzweifelt.
«Die Inzidenz» beherrschte die Schlagzeilen.
Das ist auch so ein Beispiel. Inzidenz ist ein definierter epidemiologischer Begriff. Aber während der Pandemie hat das Robert Koch-Institut die «Inzidenzrate» falsch berechnet. Das war in Wahrheit nur eine Melderate an positiven Tests. Dass ein Labortest als Beweis für die Krankheit diente – das widersprach grundlegendem Wissen. Die WHO war dafür mitverantwortlich. Ebenso wurde die «Letalität» – also wie tödlich eine Krankheit ist – gleichgesetzt mit der Mortalität, also die Sterblichkeit bedingt durch alle Krankheiten bezogen auf die Gesamtbevölkerung.
Ein grosser Streitpunkt waren die Schulschliessungen. Warum stemmten Sie sich so dagegen?
Meine frühere Kollegin Ursel Heudorf hat ab 2020 mehrfach Schulkinder untersucht und die Resultate veröffentlicht. Sie zeigten, dass von den Kindern keine Gefahr ausgeht. Trotzdem behaupteten Virologen danach immer noch, dass die Kinder Virenschleudern seien. Die Testpflicht für Schulkinder hätte man ebenfalls nicht einführen dürfen. Es hätte jedem klar sein müssen, dass man in einer Bevölkerungsgruppe, die sich testen lassen muss, mehr Fälle findet, als in Bevölkerungsgruppen, die sich nicht testen lassen müssen. Daraus kann man aber nicht schliessen, dass es in der zwangsweise getesteten Gruppe mehr Krankheitsfälle gibt als in anderen Bevölkerungsgruppen.
Weihnachten 2020 galten strenge Regeln, wie viele Personen gemeinsam feiern dürfen. Auch Silvester waren grosse Menschengruppen verboten, sogar im Freien.
Jeder Laie konnte erkennen, dass man die Virus-Ausbreitung befördert, wenn man die Leute zusammensperrt. Trotzdem hat man den Kindern das Spielen im Park verboten … Das Robert Koch-Institut und die WHO sind damals von den Grundsätzen der Infektiologie abgewichen. Und als das Bundesverfassungsgericht beurteilen musste, ob die angeordneten Massnahmen rechtens waren, hat es genau die Experten eingeladen, die diese Einschränkungen vorher gefordert hatten. Gegenteilige Stimmen wurden nicht zugelassen. Das Infektionsschutzgesetz wurde zu einem Covid-19-Gängelgesetz für die Bevölkerung. Dort wurden etliche Paragrafen eingefügt, und das ohne den normalen Gesetzgebungsablauf.
Welche zum Beispiel?
Bahnreisende ab 14 Jahren mussten eine FFP2-Maske tragen. Da hätten die Arbeitsmediziner auf die Barrikaden gehen müssen, denn das Arbeitsschutzgesetzt verlangt, solche Masken nach einer halben Stunde abzusetzen, bevor wieder eine verwendet werden darf — und das bei professionellen Mitarbeitern in medizinischen Bereichen. Für den «normalen» Bürger sind diese Masken im Grunde nicht zulässig. Auch das Robert Koch-Institut hätte sofort protestieren müssen. Aber es gab keinen Widerstand. Wenn Sie damals von München nach Hamburg gefahren sind, mussten Sie die FFP2-Maske stundenlang tragen. Dabei hätte ein Mund-Nase-Schutz genügt.

Wo wären die FFP2-Masken sinnvoll gewesen?
Wenn überhaupt — abgesehen von Kliniken — hätte sie das Pflegepersonal in Altersheimen tragen sollen. Und das auch nur, wenn man vorher einen «FIT-Test» gemacht hätte, um zu prüfen, ob diese Maske wirklich dicht sitzt. Gibt es nämlich Leckagen, gelangt dort mehr Luft hindurch als beim Mund-Nase-Schutz. Ich habe Kinder mit FFP2-Masken gesehen, die waren so gross, dass die halbe Maske unter dem Kinn hing. Absurd.
Wäre es ohne all die Massnahmen nicht viel schlimmer gekommen in der Pandemie?
Dieses Argument wird immer wieder vorgebracht. Da kann ich nur lachen. Für die Kontaktpersonennachverfolgung zum Beispiel gab es keine Beweise, dass das über die lange Zeitdauer etwas bringt.
Sie können aber auch nicht beweisen, dass es anders besser verlaufen wäre.
Das stimmt nicht. Für die in den Hygieneplänen vorgesehenen Massnahmen gibt es schon lange Belege, dass sie nützen. Gute Schutzausrüstung und Schulung des Personals, das mit Risikopatienten zu tun hat, sind essenziell.
Sie und Ihre Mitarbeiter haben auch die Alters- und Pflegeheime besucht. Welche Zustände herrschten dort?
Wir haben dort Sachen gesehen, das glauben Sie nicht. Es gab Heime mit keinerlei Vorräten an Masken — absolut nichts. Händedesinfektionsbehälter standen an völlig falschen Orten. Es gab viel zu wenig Schutzbekleidung. Die Isolierungsmassnahmen erfolgten falsch, zum Beispiel wurden praktisch alle Personen in den Altersheimen kaserniert, ein krasser Verstoss gegen die Grundrechte des Menschen. Lediglich schwer erkrankte Patienten hätte man isolieren, aber nicht von der Aussenwelt abschotten dürfen. Das man Menschen allein hat sterben lassen, ohne dass Verwandte zu Ihnen durften, hinterlässt mich fassungslos.
Welcher Anteil der Covid-Todesfälle bei den Bewohnern von Alters- und Pflegeheimen ist mangelnder Hygiene anzulasten?
Ich kann keine Zahlen angeben, aber ich würde meinen, der Anteil war erklecklich. Es gab aber auch sehr positive Beispiele: Als es in einem jüdischen Altersheim in Frankfurt ein paar Covid-Erkrankungen gab, haben wir mit dem dortigen ärztlichen Leiter zusammen sofort einen Massnahmenplan entwickelt. Damit konnte die Infektionskette im Heim gestoppt werden. Es ging also auch anders.
Wie wirksam war die Impfung gegen Covid?
Für alte Menschen war sie absolut sinnvoll. Es war aber schnell klar, dass sie nicht vor der Virusübertragung schützt. Deshalb war ich, nach anfänglicher Befürwortung für den medizinischen Bereich, gegen eine Impfpflicht. Hinzu kommt: Je öfter man mit dem gleichen Impfstoff boostert, desto schlechter wird die Immunantwort. Darauf hat der Immunologie-Professor Andreas Radbruch hingewiesen und das gilt wahrscheinlich auch für die Grippe-Impfung. Ich halte die Grippe für den grössten Killer überhaupt. Aber ich lasse mich nur noch dagegen impfen, wenn es eine deutliche Änderung beim Impfstoff gibt.
Was lief ausser der Impfung aus Ihrer Sicht noch gut in der Pandemie?
Dass wir nicht alleine waren und dass wir uns die Meinung nicht haben verbieten lassen. Ich durfte Teil einer Gruppe von exzellenten Wissenschaftlern sein, die gesagt haben: «So geht es nicht!» Diese Gruppe setzte sich damals 14-tägig online zusammen und erstellte Stellungnahmen, in denen regelmässig auf Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten hingewiesen wurde. Aber die Stellungnahmen wurden offensichtlich nicht mal diskutiert.
Manche sprechen von der «Plandemie» und vermuten einen Plan hinter dem Ganzen.
Das ist völliger Unsinn. Die Verschwörungstheoretiker und die Aluhüteträger haben so einen Schwachsinn erzählt. Sie picken sich immer nur einzelne Aussagen heraus und basteln das dann in ihr Weltbild.
Im Jahr 2021 sind Sie nach 12 Jahren als Leiter des Frankfurter Gesundheitsamts vorzeitig in Pension gegangen. Warum?
Ich konnte es nicht mehr mitansehen, wie auch einfachste seuchenhygienische Massnahmen falsch umgesetzt wurden. Besonders geärgert hat mich die Tatsache, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst in entsprechenden Gremien allenfalls rudimentär und wenn, dann durch Kollegen ohne ausreichende Expertise in der Pandemiebekämpfung vertreten war. Heute bin ich froh, dass ich das alles nicht mehr mitverantworten muss.
Sie haben sich während der Corona-Pandemie mit Ihren Äusserungen «zahlreiche Feinde gemacht», hiess es 2024 in der Laudatio zur Verleihung der Paracelsus-Medaille. Sind die Gräben von damals mittlerweile zugeschüttet?
Die Gräben bleiben. Und es ist bedrückend zu sehen, wie jetzt die Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie in Deutschland besetzt ist: Die Fachleute, die schon damals unhaltbare Dinge von sich gaben, sind darin wieder vertreten. Jetzt klopfen sie sich alle auf die Schulter, wie gut sie waren.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.










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