Krim und Oblaste

Die Krim und die vier östlichen Verwaltungsbezirke der Ukraine, die sich mit umstrittenen Abstimmungen der Russischen Föderation anschlossen. Gestrichelt: von Russland kontrolliert. Dunkelgrün: von der Ukraine kontrolliert. Dazwischen verläuft die Kriegsfront. © openstreetmap

Abstimmungen in besetzten Gebieten statt Wahlen in der Ukraine

Urs P. Gasche /  Wenn die Bevölkerung ihre Zukunft selber bestimmen könnte, wäre der Krieg vorbei. Doch weder der Westen noch Russland wollen das.

Das Selbstbestimmungsrecht ist ein wichtiger Teil des Völkerrechts. Es gibt sogar ein Recht auf Sezession. Der letzte konkrete Fall war die Abspaltung des Kosovo von Serbien. Diese erfolgte ohne Volksabstimmung.

Die Krim sowie die vier ukrainischen Verwaltungsgebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson («Oblaste») im Osten der Ukraine sind vom Krieg verwüstet und beklagen viele Opfer und Schwerverletzte. 

Von insgesamt fast neun Millionen Einwohner der vier Oblaste sind schätzungsweise vier Millionen vorwiegend Richtung Westen geflohen oder ausgewandert und ein kleinerer Teil nach Russland. Genauere Zahlen gibt es keine.

Insbesondere seit dem Machtwechsel in Kiew im Jahr 2014 strebten die vier Oblaste und die Krim eine starke Autonomie innerhalb der Ukraine an. Doch trotz Zusicherung in den Minsker Abkommen verweigerte ihnen die Ukraine die Autonomierechte.

Im September 2022 befürworteten die Bevölkerungen in den russisch kontrollierten Gebieten mit grossen Mehrheiten, sich der Russischen Föderation anzuschliessen. Auf der Krim hatte die Abstimmung bereits im März 2014 stattgefunden. Diese rechtswidrig durchgeführten Abstimmungen wurden international nicht anerkannt.

Das Recht der Menschen auf Selbstbestimmung kann ebenso wichtig sein wie die Unverletzbarkeit von Grenzen. Den Kurden beispielweise wird das Selbstbestimmungsrecht schon seit vielen Jahren verweigert – eine Ursache folgenschwerer Konflikte. 

Die Ukraine hatte sich 1991 die Krim rechtswidrig angeeignet und den dortigen Menschen seither das Recht verweigert, über einen Verbleib bei der Ukraine oder über eine Trennung von der Ukraine selber zu bestimmen.

Es wäre naheliegend, die erwähnten Abstimmungen auf der Krim und in den vier Oblasten unter Aufsicht der OSZE oder der Uno zu wiederholen, ausgeweitet auf die gesamten Gebiete der betroffenen Oblaste. Voraussetzung wäre ein Waffenstillstand und viele internationale Organisatoren und Beobachter vor Ort.

Bei den Abstimmungen in den vier Oblasten könnten drei Varianten zur Wahl stehen: 

  1. Ein Verbleib bei der Ukraine unter der bestehenden Verfassung
  2. Ein Verbleib bei der Ukraine mit einer in der Verfassung verankerten Autonomie
  3. Ein Anschluss an die Russische Föderation

Andreas Zumach, langjähriger Genfer Uno-Korrespondent und Kenner des Selbstbestimmungsrechts, sah im September 2023 Referenden als Möglichkeit, den Krieg zu beenden:

«Das beste Verfahren wären von der Uno und/oder der OSZE organisierte, überwachte und ausgezählte Referenden auf der Krim und in den Donbas-Provinzen. Unter der wichtigen Voraussetzung, dass seit März 2014 bzw. seit Februar 2022 aus diesen Regionen vertriebene oder geflohene Menschen an diesen Referenden teilnehmen können. Und anders als bei dem 2014 von Moskau organisierten Referendum auf der Krim müsste bei künftigen Abstimmungen auch die Option für einen weitreichenden Autonomiestatus (Sprache, Kultur, Finanzen/Steuern etc.) der Krim und des Donbas innerhalb der Ukraine auf dem Stimmzettel stehen.»

Vor einseitgen territorialen Konzessionen, wie sie heute wieder im Raum stehen, hatte Zumach gewarnt:

«Mit derartigen territorialen Konzessionen würde die Pandorabüchse mit militärischer Gewalt erzwungener Grenzveränderungen in Europa, die die Nato im Jahr 1999 mit ihrem völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Serbien und der nachfolgenden Abspaltung des Kosovo aufgebrochen hat, noch weiter geöffnet – ein fatales Ergebnis für die hauptbetroffene Zivilbevölkerung der Ukraine und ein fatales Signal mit Blick auf Konflikte in anderen Teilen der Welt.»

Präzedenzfälle

Faire Abstimmungen unter Kontrolle der OSZE oder der Uno durchzuführen, wäre schwierig, jedoch machbar. 

Slowenien hatte sich am 25. Juni 1991 einseitig für unabhängig von Jugoslawien erklärt – gegen den Willen der jugoslawischen Zentralregierung. Während zehn Tagen kam es zu einigen Kampfhandlungen. Im Dezember 1991 verabschiedete Slowenien eine eigene Verfassung und wurde – auf Druck der damaligen deutschen Bundesregierung Kohl/Genscher – innerhalb weniger Wochen von allen Staaten der damaligen EU als unabhängiger Staat anerkannt. 

Deutschland und in der Folge die gesamte EU missachteten dabei das zuvor beim damaligen französischen Verfassungsgerichtspräsidenten Roland Ballantier eingeholte Gutachten, das vor einer selektiven Anerkennung Sloweniens und Kroatiens warnte, so lange kein Gesamtkonzept für die Zukunft auch der anderen Teilrepubliken Jugoslawiens vorliege. Auch der damalige UN-Generalsekretär Perez de Quellar warnte im Oktober 1991 in einem Schreiben an den deutschen Aussenminister Genscher, eine selektive Anerkennung nur Sloweniens und Kroatiens werde «zu einem Blutbad in Bosnien-Herzegowina führen». Anfang April 1992 begann dann das Blutbad.

Die Krim hatte schon lange ein eigenes Parlament, eine eigene Regierung und eine eigene Verfassung. Doch es gab einen Unterschied: Auf der Krim hatte die Ukraine Militär stationiert und konnte Autonomiebestrebungen stets eindämmen. Die jugoslawische Zentralregierung dagegen hatte in Slowenien kein Militär stationiert.

In Bosnien und Herzegowina hatte die OSZE 1997 dafür gesorgt, dass Gemeindewahlen trotz einer gehässigen Atmosphäre demokratisch durchgeführt werden konnten. Allerdings fanden diese Wahlen statt, ohne dass sich zuvor neue demokratische Parteien formieren konnten. Deshalb wurden die alten nationalistischen Parteien aller drei ehemaligen Kriegsgegner (Serben, Kroaten und Bosniaken) in ihren Machtpositionen bestätigt. Sie haben diese bis heute inne. Der damalige Schweizer OSZE-Präsident hatte vergeblich vor zu frühen Wahlen gewarnt. Doch die damalige Clinton-Administration drängte darauf.

Im Donbas gibt es keine Parteien, die ähnlich verankert sind, wie sie es in Bosnien waren.

Weder Russland noch der Westen interessiert

Russland hat die Krim und die vier ostukrainischen Oblate bereits in ihrer Verfassung als Mitglieder der Russischen Föderation verankert. Präsident Putin will diese Verwaltungsgebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson militärisch unter russische Kontrolle bringen. Neue Abstimmungen unter Aufsicht der OSZE oder der Uno könnten dazu führen, dass sich diese Oblaste gegen einen Anschluss an die Russische Föderation und zugunsten einer starken Autonomie innerhalb der Ukraine entscheiden. 

Präsident Selensky und die Regierungen im Westen sind ebensowenig daran interessiert, das Selbstbestimmungsrecht zu gewähren. Sie würden riskieren, dass sich die Krim und die Ostgebiete der Ukraine mehrheitlich für einen Anschluss an die Russische Föderation aussprechen. Und sie würden das erklärte Ziel verpassen, Russland eine klare Niederlage zu bereiten. 

Hatte doch die deutsche Bundesaussenministerin Annalena Baerbock westliche Waffenlieferungen auch damit begründet, Russland «niederzuringen» und zu «ruinieren». Pentagon-Chef Lloyd Austin hatte dafür plädiert, man müsse den Krieg solange weiterführen, bis Russland zu einem militärischen Vorgehen gegen andere Staaten nicht mehr in der Lage sei. «NZZ»-Chefredaktor Eric Gujer meinte 2024, der «dämonische Zauber Putins» werde nur gebrochen, «wenn er eine unzweideutige Niederlage erleidet». Denn es handle sich um «ein Schaulaufen im grossen Konflikt der Systeme».

Diesem Ziel stünden Abstimmungen zur Selbstbestimmung und ein Ende des Krieges entgegen.

Bei all dieser Machtpolitik bleibt das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Bevölkerungen auf der Strecke. Es könnte zu einem dauerhaften Frieden mehr beitragen als etwa die vorgesehene Präsidentenwahl in der von Kiew kontrollierten Ukraine, wo gegenwärtig Kriegsrecht herrscht.

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2 Meinungen

  • am 18.12.2025 um 11:11 Uhr
    Permalink

    Focus/DW 17.12.2025, 19:49: «Europäische und vor allem deutsche Waffenschmieden verkaufen deutlich mehr Rüstungsgüter. Als Hauptgrund nennt ein…Forschungsinstitut den UkraineKrieg.»

    Höchst interessante Aussage im Artikel: «Insbesondere seit dem Machtwechsel in Kiew im Jahr 2014 strebten die vier Oblaste und die Krim eine starke Autonomie innerhalb der Ukraine an Doch trotz Zusicherung in den Minsker Abkommen verweigerte ihnen die Ukraine die Autonomierechte..Die Ukraine hatte sich 1991 die Krim rechtswidrig angeeignet und den dortigen Menschen seither das Recht verweigert, über einen Verbleib bei der Ukraine oder über eine Trennung von der Ukraine selber zu bestimmen..»

    Man braucht nur in die Vergangenheit zu blicken, um zu verstehen warum das heutige Ukraine-Total-Fiasko entstehen konnte. Gestern berichtete Markus Lanz in seiner Sendung, dass in den letzten zwei Monaten zehntaussende ukrainische Soldaten desertiert sind. Ein klares Votum.
    Gunther Kropp, Basel

  • am 18.12.2025 um 13:02 Uhr
    Permalink

    Sie schreiben
    «Doch trotz Zusicherung in den Minsker Abkommen verweigerte ihnen die Ukraine die Autonomierechte.»
    Haben Sie vergessen, dass MinskII NICHT umgeseztzt wurde???
    Und wie Poroschenko, Hollande und Merkel nach 8 Jahren in die Mikrophone sagten, dass sie von Anfang an auch nicht vorgehabt hätten, MinskII umzusetzen sondern nur der Ukraine Zeit für ihre Aufrüstung geben wollten???

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