Bald verfassungswidrig? Kanton Zürich erlaubt Gesichtserkennung
psi. Dies ist ein Gastbeitrag. Er erschien zuerst auf dnip.ch unter der CC-BY-4.0-Lizenz.
Ein seltsam-kuriose Posse ereignete sich vor wenigen Tagen im Zürcher Kantonsrat (Stream ab Zeitcode 2:15 –29). Gut möglich, dass diese Posse der Volksinitiative «Digitale Integrität», über die der Kanton Zürich am kommenden Sonntag abstimmt, zum Durchbruch verhilft.
In Kürze: Im Rahmen der Totalrevision des Zürcher Datenschutzgesetzes (IDG) beschloss eine Mehrheit des Kantonsrats in der ersten Lesung, dass der Regierungsrat via Verordnung Pilotprojekte für biometrische Erkennungssysteme (Gesichtserkennung) bewilligen kann. Dies sogar gegen den Willen des bürgerlichen Regierungsrats, der selber im Moment keine solchen Pilotprojekte möchte, aber offenbar auch kein explizites Verbot. Dies notabene auch ein paar Tage vor der Abstimmung über die Volksinitiative für ein Recht auf digitale Selbstbestimmung. Damit kann das Zürcher Stimmvolk eine solche Echtzeitüberwachung entweder via Annahme der Volksinitiative oder des Gegenvorschlags indirekt per Verfassung verbieten.
Ich habe hier die wichtigsten Punkte zur Volksinitiative und zum Gegenvorschlag in der Republik.ch zusammengefasst. Es handelt sich hierbei um eine einzigartig neue Bürgerrechtsbewegung, die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt.
Nur Initiative garantiert Verbot
Was hat dies mit dem Kantonsratsentscheid zu tun? Das hängt davon ab, welche Variante am Sonntag durchkommen wird.
Gewinnt bei der Stichwahl die Initiative, wäre das IDG sicherlich illegal – und vermutlich viele andere Gesetze zur Strafverfolgung ebenfalls.
Dann hätten die Einwohner:innen des Kantons Zürich ein Recht darauf, «nicht überwacht, vermessen und analysiert» zu werden. Denn dies bedeutet de facto ein Verbot der Gesichtserkennung im öffentlichen Raum und der Videokameras per se. Genau das wollte aber der Kantonsrat nicht.
Ich zitiere aus der guten NZZ-Zusammenfassung der Ratsdebatte:
«Ganz anders sahen das die bürgerliche Parteien. ‹Was nützt es, Technologien zu haben, sie aber nicht ausprobieren zu dürfen?›, fragte Susanne Brunner (SVP). Es gehe bei der Gesichtserkennung um die öffentliche Sicherheit – sie pauschal zu verbieten, schade der gesetzestreuen Bevölkerung und sei ausserdem technologiefeindlich.
Auch Fabian Müller (FDP) argumentierte, KI-gestützte Möglichkeiten zur Gesichtserkennung seien weltweit im Vormarsch. Dieser Entwicklung könne sich der Kanton Zürich nicht verschliessen. Ein Technologieverbot bringe nichts. Es sei ausserdem überzogen, vor flächendeckender Überwachung zu warnen – eine solche bedürfe auch ohne Verbot einer klaren gesetzlichen Grundlage.»
Wie absurd diese Aussagen sind, darauf muss ich nicht weiter eingehen. Es gibt auch Atomwaffen. Will die Schweiz diese denn auch «ausprobieren»?
Noch absurder ist, wie dieses Thema in 15 Minuten abgehandelt wurde, als ob es um irgendeinen Kredit für ein Schulhaus ginge.
Was passiert bei Annahme des Gegenvorschlags?
Diese Frage stellt sich, denn der Gegenvorschlags postuliert ein Recht darauf, nicht permanent überwacht, vermessen und analysiert zu werden. Benjamin Krähenmann von den Grünen, der am Gegenvorschlag mitgearbeitet hat, sagt dazu: Die Formulierung ziele darauf ab, dass es räumlich und zeitlich klar begrenzte Möglichkeiten der Überwachung gibt – zum Beispiel bei Grossanlässen, um die Sicherheit der Besucher:innen zu gewährleisten. Mit einer solchen zeitlich begrenzten Überwachung sei aber ganz bestimmt nicht automatisierte Gesichtserkennung gemeint. Er wollte vorgestern mit einem Verbot die klare rote Linie gesetzlich verankern – und unterlag im Kantonsrat.
Aus der Debatte geht hervor: Für die linken Kantonsrätinnen, welche die Initiative «Digitale Integrität» ablehnten, aber für den Gegenvorschlag kämpften, ist die Einführung von Gesichtserkennungstechnologie grundsätzlich ausgeschlossen. Und schon gar nicht sollen Pilotprojekte via Verordnung eingeführt werden.
Eine andere Interpretation des Gegenvorschlags hat das Initiativkomitee, bestehend aus der Zürcher Piratenpartei und der neuen Partei «Digitale Integrität». Die Zürcher Piraten weisen darauf hin, dass der Gegenvorschlag so formuliert ist, dass die Behörden sich eben nicht die ganze Zeit daran halten müssen. Aus der Medienmitteilung vom Montag:
«Nicht permanent» ist derart vage, dass – übertrieben gesagt – selbst fünf Sekunden ohne Überwachung am Tag schon genügen würden, um nicht darunterzufallen.
Selbes gilt auch für das Recht, nicht von einer Maschine beurteilt zu werden, das darauf reduziert wird, dass Beurteilungen
– nicht ausschliesslich (durch Maschinen)
– in einem begrenzten Anwendungsbereich (wenn es Grundrechte betrifft)
– und meistens von einer natürlichen Person
durchgeführt werden sollen – aber auch dann mithilfe von Maschinen.
Die Piraten weisen damit auf einen weiteren Punkt hin: Die zweite Bestimmung in der Volksinitiative – das Recht, nicht von einer Maschine beurteilt zu werden – würde ebenfalls den Einsatz einer permanent aktiven Gesichtserkennungstechnologie, die ununterbrochen Videobilder analysiert, verunmöglichen. Ein solches Recht steht auch im Gegenvorschlag, jedoch in abgeschwächter Form.
Die Partei «Digitale Integrität Schweiz» erachtet den Gegenvorschlag ebenfalls als No-Go, weil er zu viele Ausnahmen erlaubt und insgesamt zu abgeschwächt ist.
Auch die wichtigste netzpolitische Stimme des Landes, die «Digitale Gesellschaft», findet deutliche Worte zum Entscheid des Kantonsparlaments. Sie empfiehlt nun sogar explizit die Volksinitiative und den Gegenvorschlag zur Annahme, um den vorgestrigen Entscheid zu «korrigieren».
Aus der Stellungnahme:
«Wir hoffen, dass die Stimmbevölkerung auf diesen Vertrauensbruch schon am kommenden Abstimmungssonntag mit einem Ja zur Volksinitiative ‹Für ein Grundrecht auf digitale Integrität› oder mindestens mit einem Ja zum Gegenvorschlag reagiert. In jedem Fall erwarten wir, dass der Kantonsrat und ansonsten später die Bevölkerung den heutigen Fehlentscheid korrigiert.
Die Digitale Gesellschaft setzt sich seit Jahren auf nationaler und internationaler Ebene für ein Verbot von biometrischer Gesichtserkennung im öffentlichen Raum ein. In der Schweiz steht eine breite Koalition dafür ein, dass diese Technologie in einer freien und demokratischen Gesellschaft nicht eingesetzt werden darf.
80 Prozent der politisch Aktiven aus allen Parteien befürworten ein Verbot von biometrischer Gesichtserkennung, wie eine Befragung von 2023 zeigt. In den letzten Jahren haben sich zahlreiche kantonale und kommunale Parlamente dafür ausgesprochen, biometrische Massenüberwachung im öffentlichen Raum zu verbieten.»
Zürcher Kantonsrat gegen Zivilgesellschaft
Allgemein tanzt der Zürcher Kantonsrat aus der Reihe. Der Trend beim Thema Gesichtserkennung bewegt sich dank intensiver Kampagnenarbeit der digitalen Zivilgesellschaft in der Schweiz in die entgegengesetzte Richtung.
Wie bekannt ist, wird das Thema Gesichtserkennung im öffentlichen Raum kantonal geregelt: entweder über Polizeigesetze oder Datenschutzgesetze.
Eine hilfreiche Zusammenstellung liefert «Algorithm Watch Schweiz» – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Das Verbot von automatisierter Gesichtserkennung in der Schweiz gehört zu den Schwerpunktthemen der Organisation. Gemeinsam mit der «Digitalen Gesellschaft» fordert «Algorithm Watch» ein nationales Verbot.
Hier eine Übersicht, welche Kantone und Gemeinden bereits ein Verbot für Gesichtserkennung im öffentlichen Raum beschlossen haben:
| Kategorie | Auf Gemeindeebene | Auf kantonaler Ebene |
| Vorstösse wurden angenommen | Stadt Zürich: Postulat 2021/451 und Motion 2021/450 Stadt St-Gallen: Motion Stadt Lausanne: Regulierungsentwurf; Regulierungsentwurf; Postulat Stadt Luzern:Motion Stadt Genf: Motion M1659 | Kanton Basel-Stadt : Anzug 22.5022 (nur Postulat – Kein Verbot) Kanton Basel-Landschaft: Motion 2023/205 Kanton Genf: Motion 2891 |
| Vorstösse sind in Bearbeitung im Parlament | Kanton Zürich: kantonale Behördeninitiative Stadtparlament Winterthur 2023.30 | |
| Vorstösse abgelehnt | Kreuzlingen: Motion | Kanton Zürich: Motion 2022/1473 |
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Adrienne Fichter ist Tech-Journalistin bei den Online-Magazinen «Republik» und «Das Netz ist Politisch».
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