Die Russen können nicht einmal den ganzen Donbas einnehmen
upg. Militärs und Politiker hämmern der Bevölkerung fast täglich ein, wie bedrohlich die Lage sei. Ein imperialistischer Putin bedrohe auch Nato-Staaten. Deshalb müsse Europa massiv aufrüsten.
Infosperber möchte eine andere Einschätzung zur Diskussion stellen. – Nach einer Einordnung des russischen Imperialismus, der Rolle der Nato-Osterweiterung und eines Angstszenarios jetzt zur Frage, wie real die Bedrohungslage ist.
Weder Polen noch das Baltikum sind bedroht
Mit dem ständigen Wiederholen erscheint die Bedrohungslage als real. Russland habe schon immer imperialistische Absichten gehabt. Diese Einschätzung freut die Rüstungskonzerne, deren Aktienkurse in die Höhe schnellen.
Doch viele namhafte Stimmen sprechen Russland sowohl die Absicht als auch die Fähigkeit ab, in absehbarer Zukunft einen baltischen Staat oder Polen anzugreifen und zu besetzen.
Jakub Janovsky, dessen Militärplattform Oryx die Verluste im Ukraine-Krieg akribisch dokumentiert, erklärte am 16. November 2024 in der NZZ: «Unsere Daten zeigen klar auf, wie veraltet die Ausrüstung insbesondere auf der russischen Seite ist. Sie könnte teilweise direkt aus dem Museum stammen. Weit über die Hälfte des Materials, das Russland in der Ukraine verliert, stammt noch aus sowjetischen Zeiten.» Zur verbreiteten Angst, Russland werde in einen der baltischen Staaten einmarschieren, erklärte Stephen Wertheim von der Denkfabrik Carnegie Endowment for International Peace: «Russland war nicht in der Lage, die Ukraine zu erobern. Wieso sollte der Kreml dann einen Nato-Staat überrennen wollen?» («NZZ» 9.11.2024)
Bereits ein halbes Jahr nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hatte «NZZ»-Chefredaktor Erich Gujer festgestellt, die russische Armee entpuppe sich als «Scheinriese». In einem konventionellen Schlagabtausch sei Russland «keine Bedrohung für die Nato».

Westliche Beobachter seien davon ausgegangen, dass die Armee nach postsowjetischem Zerfall umfassend modernisiert worden sei: «Welch ein Irrtum.» Es fehle «an vielem, was den zeitgenössischen High-Tech-Krieg ausmacht», darunter «Präzisionswaffen, multisensorische Aufklärung und genaue Zielerfassung». Die meisten Panzerfahrzeuge würden «auf Entwicklungen aus den siebziger Jahren» basieren und seien «gegen Projektile der ukrainischen Infanterie unzureichend geschützt». Flugzeuge der fünften Generation – wie der amerikanische F-35 – hätten in Russland «die Serienproduktion noch nicht erreicht».
Die Nato verfügt über doppelt so viele aktive Soldaten wie Russland und gibt – kaufkraftbereinigt – fast fünfzig Prozent mehr Geld fürs Militär aus als Russland.
Russland kann nicht einmal den ganzen Donbas unter seine Kontrolle bringen
Fast vier lange Jahre nach dem Einmarsch in die Ukraine konnte das russische Militär nicht einmal den ganzen Donbas unter seine Kontrolle bringen. Der Krieg hat einen grossen Teil der russischen Armee zerstört. Sie verlor weit über tausend Kampfjets und Panzer sowie einen grossen Teil ihrer besten Soldaten.
Die Kriegswirtschaft ist für Russland ruinös. Nato-Generalsekretär Mark Rutte sprach bereits im Oktober 2024 von 600’000 Toten und Verletzten, während Kiew die Zahl im November 2024 auf über 716’000 schätzte. Das hinterlässt in der russischen Gesellschaft tiefe Wunden. Unterdessen dürften eine Million russischer Soldaten umgekommen oder schwer verletzt sein.
Die Russland-Spezialisten Thomas Lattanzio und Harry Stevens schrieben am 5. August 2024 in einem «NZZ»-Gastkommentar: «Insgesamt zeigen die verfügbaren Zahlen die enorme Belastung, die der Krieg in der Ukraine für Russland bedeuten wird, wenn die Waffen ruhen. Die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen, das Versorgen körperlich verwundeter Soldaten und die Unterstützung ihrer Familien werden in den kommenden Jahrzehnten einen wichtigen Haushaltsposten darstellen und könnten zu einer politischen Schwachstelle für den Kreml werden, wenn er die Erwartungen der Veteranen und ihrer Familien nicht zu befriedigen vermag.»
Der ungarische Politikwissenschaftler Janos I. Szirtes bestätigte am 12. August 2025 die Einschätzung der «NZZ» vom Vorjahr:
«Militärisch kommen die Russen in der Ukraine trotz Vorteilen und Übergewichten nicht erwartungsgemäss voran. Die Ideologie und Propaganda von der bärenstarken, unbesiegbaren russischen Armee ist widerlegt. Putin vermag seit über drei Jahren die nach allen Kriterien kleinere Ukraine nicht zu bezwingen. Wie soll er es dann mit dem Nordatlantikpakt aufnehmen, der 32 Länder umfasst?
Die unablässigen Sorgen und Bedenken, Europa sei auf einen möglichen russischen Angriff nicht vorbereitet und deshalb unterlegen, gehen an den wirtschaftlichen und militärischen Wirklichkeiten vorbei. Das EU-BIP ist 2024 achtmal so gross wie jenes von Russland. Die Länder der EU geben doppelt so viel für die Verteidigung aus wie Russland. […] Die mobilisierbaren Kräfte sind dreieinhalb Mal so gross wie jene Russlands. Mit Ausnahme von Atomwaffen hat die EU gegenwärtig ein Übergewicht an Militärgerät: zweifach bei den Flugzeugen, dreifach bei Panzern. […] Für einen erfolgreichen konventionellen Angriff wird geschätzt, dass der Angreifer mindestens ein dreifaches Übergewicht haben muss, über das Russland nicht verfügt. Ein militärischer Überfall auf die Nato wäre für Russland schon jetzt Selbstmord.»
Fest steht: Nach diesem Krieg wird es viele Jahre dauern, bis die russische Armee und die massiv sanktionierte russische Wirtschaft auch nur das Level erreichen können wie vor dem Krieg. Und dann wäre Russland noch längst nicht in der Lage, die Nato anzugreifen.
Auch die behauptete Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung hat ihre Grenzen. Um einen konventionellen Krieg zu führen, braucht es nicht nur militärische Kampfkraft, sondern auch eine genügend starke Wirtschaft und die Unterstützung der Bevölkerung.
Selbst mit allen Propaganda-Tricks würden es der Putin-Clan, Patriarch Kyrill und die Staatsmedien nicht schaffen, den Russinnen und Russen weiszumachen, dass auch Polen, die baltischen Staaten oder Finnland zur russischen Identität gehören.
Der britische Historiker Richard Evans, der eine Trilogie über das «Dritte Reich» publizierte, zieht Bilanz: «Ich glaube nicht, dass Putin plant, Europa anzugreifen. Bisher hat er nicht einmal die Ukraine erobert. Er ist ja nicht komplett wahnsinnig und sich bewusst, dass ein Angriff auf die Nato sehr schlecht für ihn wäre.» («NZZ am Sonntag», 19.10.2025)
Kein Interesse, ein Nato-Land zu besetzen
Fazit: Es ist zwar nachvollziehbar, dass die Polen, Finnen und Balten aus historischer Erfahrung vor Russland Angst haben – wie Russland Angst vor Deutschland hat. Aber die Fakten sprechen dagegen, dass Russland für diese heutigen Nato-Staaten eine Gefahr darstellt. Russland ist auf lange Zeit geschwächt und hat weder die Fähigkeit noch ein Interesse, einen Staat gegen den Widerstand der ganzen Bevölkerung militärisch zu besetzen.
Auf der Krim und im Donbas waren die Voraussetzungen anders: Dort wollte sich die Mehrheit der Bevölkerung lieber der Russischen Föderation anschliessen, als ohne Autonomie-Rechte bei der Ukraine zu bleiben.
Bisher:
– Die Machtpolitik der Sowjetunion und der USA
– Die Erzählung vom russischen Imperialismus
– Die Nato-Osterweiterung aus der Diskussion genommen
– Medien: «Russland und China könnten den Westen gemeinsam angreifen»
– Die Russen können nicht einmal den ganzen Donbas einnehmen
Demnächst:
So schürt der militärisch-industrielle Komplex Angst. Es geht um Milliardenaufträge.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.









So ist es. Auch wenn man die hier angegegeben Verlustzahlen getrost als überhöht bezeichnen darf. Dieser Krieg hat auch Taktik und Ausrüstung ganz gehörig verändert; hier war es mit mehr konventionellem Material nicht getan. Drohnen und die dazugehörige Einsatzdoktrin mussten her. Dazu kommt, dass Russland wegen seiner schier unendlichen Aussengrenze einen Großteil der Armee gar nicht offensiv einsetzen kann. Russland begann diesen Krieg ohne Luftvorbereitung mit lächerlichen 190.000 Mann Invasionstruppen, die noch dazu in unzählige wirkungslose Angriffskeile aufgeteilt wurden. Zum Vergleich: allein die USA brachten 1991 gegen Saddam Husseins Armee, die ohne Verbündete war, 500.000 Mann auf und bombardierten den Irak 40 Tage lang, bevor auch nur ein US-Soldat am Boden aktiv wurde (abgesehen von Kommandounternehmen). Diese verhaltene Kriegsführung wird ja auch von vielen Russen kritisiert, die hier die Ursache für die hohen Verluste und geringen Erfolge sehen.
Russland will die NATO nicht angreifen. Sollte die NATO Russland direkt militärisch angreifen, ist das eine ganz andere Situation. Die Russen müssten keine Rücksicht nehmen auf die Zivilbevölkerung wie jetzt in der Ukraine und können ganz andere Waffensysteme einsetzen. Russen und Ukrainer sind Brudervölker. Ein Krieg wie er jetzt tobt, war nicht die Absicht, deshalb wurden im Februar 22 keine zivilen Objekte und die Infrastruktur angegriffen, bzw. waren nur ca. 190000 Soldaten im Einsatz. Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn begannen die Friedensverhandlungen, die wurden dann von den Angloamerikanern zunichte gemacht und der Krieg der NATO gegen Russland begann indirekt. Einen Krieg gegen Russland wird die EU nicht gewinnen, es würde keinen Sieger geben, nur ein zerstörtes Europa. Man sollte in Brüssel, Berlin, Paris, London, Warschau und sonst wo, zur Diplomatie zurückkehren. Nicht Russland ist unser Feind!!!
Meine Hoffnung klammert sich daran, dass diese Einschätzungen nicht Wunschdenken sind. Wir totalen Laien können ja eigentlich die Leistungsfähigkeit der russischen Armee gar nicht beurteilen, jedoch ist kaum zu bezweifeln, dass die Ukraine längst besetzt wäre, hätte Putin die Schlagkraft dazu. Wie heisst es doch: die Hoffnung stirbt zuletzt…
Blicken wir zurück, etwa auf die Jahre 2020 oder 2021 und fragen U. P. Gasche ob er damals – und das war nach der Annektion der Krim – einen Angriff Russlands auf die Ukraine und all die schweren Kriegsverbrechen irgendwie voraus gesehen hat, wenigstens mit der Möglichkeit eines Überfalls auf die Ukraine gerechnet hat. Wenn er damals bezüglich Putin so naiv und bedenkenlos war, wie es die allermeisten Politiker (Parlamentarier wie Regierungen), die Wirtschaftsführer und die Kulturmanager waren, dann soll er doch bitte jetzt sein Lieblingsthema weglegen und schweigen.
Da der Angriff auf die Ukraine im Gegesatz zur westlichen Propaganda nicht grundlos erfolgte, können Sie Ihre Fragen wahrscheinlich selbst beantworten, wenn Sie diese Gründe einmal vorbehaltlos studieren. Richten Sie Ihr Augenmerk insbesondere auf die Verhandlungsversuche Russlands im Winter 2021/2022 und auf das Verhalten Selenskis an der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar 2022.
Ojee… wenn Sie die Argumente von Herr Gasche nicht mit besseren entgegnen können, ist die Sichtweise von Herr Gasche möglicherweise nicht ganz falsch?
Aber nein, Russland bzw. Putin ist ja böse, d.h. egal wie widersinnig die westliche Kriegspropaganda ist (Putin hat keine Chance, Putin greift die Nato an), sie muss stimmen.
Danke für ihren guten Artikel, Herr Gasche. Ihre Argumente – die auch von vielen anderen vorgebracht werden – sind überzeugend. Auch die 18 US-Geheimdienste kommen in ihrem Sicherheitsbericht zum Schluss, dass Russland keinen Krieg mit der NATO will. Das hindert die Mainstream-Propaganda-Medien aber nicht daran, die russische Bedrohung in dunkelsten Tönen zu malen. Wie etwa heute SRF im «Rendez-vous am Mittag», wo ihr «Sicherheitsexperte» schon die Apokalypse prognostiziert hat, wenn die EU jetzt nicht eine Billion Euro ausgibt, um die russische Bedrohung abzuwenden.
Dass Russland keinerlei Absichten hat, Westeuropa anzugreifen, ergibt sich eigentlich schon daraus, dass die russische Armee die Logistik für ein solches Unternehmen gar nicht hat, und offensichtlich auch nie aufzubauen angestrebt hat.-
Aber der «Westen» erscheint schon reichlich schizophren, wenn einerseits ein Rutte sich u.a. am Nato-Treffen in Ljubljana darüber freut, wie die Nato Russland doch unendlich überlegen sei (verbatim), und andererseits auf Teufel komm raus (nicht vorhandenes) Geld in Rüstung gesteckt wird, auf dass man spätestens 2030 «kriegstüchtig» (und nicht etwa «verteidigungsfähig») sei.
Nimmt man beides zusammen, könnte man glatt auf den Verdacht kommen, es plane da jemand, Unternehmen Barbarossa 2 loszutreten…
Die Übernahme der ganzen Ukraine, und ein Angriff auf die Nato, ist ein Hirngespinnst in den Köpfen von einigen wenigen. Es dient lediglich dazu die Menschen in Europa in Angst und Kriegslaune zu versetzen.
Wäre Frieden das Ziel der führenden Köpfe in Europa, müsste dieses Wort immer wieder zu hören sein in ihren Reden.
Was wir hören, ist aber immer nur Krieg und Aufrüstung und Nein zu allem was auch nur im Entferntesten mit Frieden oder Waffenstillstand zu tun hat.
Dank an Infosperber! Zum Mutmachen der Satz „Man muss das Wahre immer wieder wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird …“ wird Johann Wolfgang von Goethe zugeschrieben – Gespräche mit Johann Peter Eckermann (16. Dezember 1828) In diesem Sinne … PS. Die Unfähigkeit Russlands in drei Jahren 20% des Ukr.Staatsgebietes einzunehmen, trotz eher «willfähriger» Bevölkerung in den umkämpften Gebieten, spricht Bände, ist nun mal eine Wahrheit.