Cytotec-Skandal: Der Gewinner verkauft 50-mal teurere Tablette
Aufgrund der Medienberichte zum Medikament Cytotec im Februar 2020 meldeten sich fast 500 Familien beim deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Alle hegten den Verdacht, dass ihnen Cytotec geschadet habe – Verdachtsmeldungen, die dem BfArM zuvor nicht gemeldet worden waren.
Im März 2020 schickte das BfArM ein Warnschreiben an die Ärzteschaft: Es gebe «zahlreiche, neue Berichte über schwere Nebenwirkungen». Im Frühling 2021 kamen das BfArM und die Importeure überein, Cytotec in Deutschland vom Markt zu nehmen.
Daraufhin appellierten 16 Berufsverbände, von den Hebammen bis zur Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, an den Gesundheitsminister: Dieses «Standardmedikament» in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe, werde «dringend benötigt […] Eine Erschwerung des Zugangs zu Cytotec ist die falsche Konsequenz. In der Folge wird die medizinische Betreuung von Frauen schlechter!»
Nun machte die «Süddeutsche Zeitung» eine Kehrtwende. Hatte sie den Einsatz des in der Geburtshilfe nicht zugelassenen Cytotec im Februar 2020 noch angeprangert, zitierte sie nun den Leiter der Geburtsmedizin an der Uniklinik Leipzig: «Mit dem drohenden Aus für Cytotec ‹fällt nicht nur einfach eine Möglichkeit weg, sondern vor allem eine sehr gute, sichere und sehr erprobte›.»
Der lachende Dritte
Für die niederländische Pharmafirma Norgine dagegen kam der Rückzug von Cytotec wie gerufen. Sie profitierte vom Schlechtmachen von Cytotec. Denn Norgine verkauft das Medikament «Angusta». Dieses Medikament nannte das BfArM als mögliche Alternative zu Cytotec.
Angusta wurde 2017 in Dänemark zugelassen und enthält Misoprostol, den gleichen Wirkstoff wie Cytotec, aber pro Tablette bloss 25 Mikrogramm – also die Dosis, welche den Empfehlungen der WHO und der Cochrane-Wissenschaftler entspricht. Allein für Deutschland rechnete Norgine pro Jahr mit rund 100’000 Schwangeren, die Angusta brauchen würden.
Hersteller beruft sich auf Studien, die mit Cytotec gemacht wurden
Norgine verlangt für Angusta einen exorbitanten Preis: Eine Tablette kostet rund 25 Franken. Eine Tablette Cytotec dagegen gibt es (je nach Packungsgrösse) für 44 oder 86 Rappen. Apotheken mit Fachwissen und Kapselmaschine können aus einer einzigen 200-Mikrogramm-Tablette Cytotec acht Dosen à 25 Mikrogramm herstellen. Das kommt viel günstiger als die Angusta-Tabletten. Doch als Cytotec in Verruf geriet und Angusta aus dem Ausland importiert werden konnte, war diese Eigenherstellung obsolet geworden.
Vor der Zulassung in Dänemark musste der damalige Hersteller namens Azanta belegen, dass Angusta sicher und wirksam ist. Die Firma berief sich auf bereits vorhandene Fachliteratur zu Cytotec und anderen Misoprostol-Präparaten, insbesondere auf die Cochrane-Übersichtsstudie von 2014.
Ähnliche Anzahl von Nebenwirkungen wie bei Cytotec
Azanta konnte jedoch nicht belegen, dass sich die Angusta-Tabletten im Körper vergleichbar verhalten wie die Cytotec-Tabletten. «Auch was die Sicherheit betrifft, durchlief Angusta keine klassische Zulassungsstudie», berichtete «Die Zeit» im Juli 2025. Zum Zeitpunkt der Zulassung hätten 29’000 Frauen in Dänemark, Norwegen und Finnland im Rahmen eines Härtefallprogramms Angusta zur Geburtseinleitung erhalten. «Berichte über Nebenwirkungen seien in ihrer Frequenz ähnlich jenen aus den klinischen Studien mit Cytotec, schrieb die Behörde und deutete das als positives Zeichen. In der Zusammenschau aller Daten folgerte sie, der Nutzen von Angusta sei grösser als das Risiko» – und liess Angusta zur Geburtseinleitung zu.
«Die Zeit» zitierte dazu Philip Lange Møller, der früher zwölf Jahre bei der dänischen Arzneimittelbehörde arbeitete: Einen Zulassungsantrag wie den für Angusta habe er noch nie erlebt. «Ich hoffe, dass es ein einmaliges Ereignis bleibt, dass ein solcher Antrag durchkommt.»
Der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Bernd Mühlbauer, schrieb dem «ZDF»: «Aus meiner Sicht hätte das Präparat Angusta mit den vorgelegten Daten nicht zugelassen werden dürfen.»
Hersteller darf die Zulassungsbehörde wählen
Die Zulassung in Dänemark öffnete dem Hersteller Türen in ganz Europa. Ende 2017 wurde Angusta in Frankreich und elf weiteren Ländern zugelassen. Die Basis dafür bildete die dänische Zulassung. Bei einem solchen «dezentralisierten Verfahren» darf die Pharmafirma die Behörde eines Landes wählen, die federführend sein soll, und kann damit gleichzeitig die Zulassung in allen von ihr gewünschten EU-Ländern beantragen. Sofern die Arzneibehörden der anderen Staaten keine ernsthafte Gefahr erkennen, erteilen sie die nationale Zulassung. Folglich bewertete die Behörde in Dänemark Angusta.
Im März 2020 – kurz nachdem die Medienberichte in der «SZ» und im «Bayrischen Rundfunk» erschienen waren – wurde der Hersteller Azanta von der niederländischen Firma Norgine gekauft. Norgine informierte, dass sie die Zulassung für Angusta für das übrige Europa wohl im ersten Halbjahr 2020 beantragen werde.
Knapp sieben Monate nach den Skandalberichten war es so weit: Angusta wurde am 14. September 2020 in Deutschland zugelassen, wiederum auf der Basis der dänischen Zulassung. Damit war das Problem des Tablettenteilens bei Cytotec erledigt – nicht aber das der falschen Handhabung des Wirkstoffs.
Déja-vu in der Schweiz
Im Jahr darauf wiederholte sich das Muster. Im Juli 2021 titelte der «Tages-Anzeiger»: «Als zerrisse es mir den Unterleib.» «Kontroverses Medikament Cytotec ist für die Einleitung einer Geburt nicht zugelassen, doch Schweizer Ärztinnen und Ärzte wenden es breit an. Trotz gefährlicher Vorfälle.» Die Mediziner sollten «stattdessen die Alternativen nutzen», forderte die Autorin. Sechs Monate später war Angusta auch in der Schweiz zugelassen.
Schon länger zugelassen sind Medikamente mit dem Wirkstoff Dinoproston zur Geburtseinleitung. Dazu zählt zum Beispiel «Prostin E2» (in Deutschland unter dem Markennamen «Minprostin E2»). Es wird – genau wie Cytotec – von Pfizer hergestellt, ist aber deutlich teurer: Rund 60 Franken kostet eine Vaginaltablette Prostin E2.
Doch die Probleme blieben die gleichen. Im Juni 2021 warnte das BfArM vor Risiken wie Gebärmutterriss, einschliesslich des Kindstodes bei Einsatz von Dinoproston-haltigen Arzneimitteln wie zum Beispiel Minprostin E2.
Im Mai 2025 berichteten «Die Zeit» und das «ZDF» über «Die Nacht, in der sie Eva verloren». Im Zentrum des Artikels stand ein Ehepaar, dessen erstes Kind unter dramatischen Umständen kurz vor der Geburt starb. Die Mutter bekam Angusta – mehrere Dosen in zu kurzem Abstand.
Gebärmutterriss, Plazentaablösung, Todesfolge
Wie schon nach den Medienberichten zu Cytotec geschehen, meldeten sich daraufhin beim BfArM Familien, die den Verdacht hegten, dass ihnen Angusta geschadet habe: 40 Verdachtsfälle, 25 davon wurden als schwerwiegend eingestuft, darunter Wehen-Überstimulation, Absinken der Herztöne beim Kind, vorzeitige Plazentaablösung, Gebärmutterriss sowie Sauerstoffmangel beim Kind.
In mehreren Fällen habe es Hinweise auf unsachgemässe Anwendung wie zu hohe Dosis oder Einsatz bei schon bestehenden Wehen gegeben, teilte das BfArM mit – und warnte die Ärzteschaft Ende Juni 2025: Dem Institut wurden «jüngst zahlreiche Fälle aus Deutschland über schwere Nebenwirkungen bei der Anwendung ausserhalb der zugelassenen Dosierungsempfehlungen und trotz bestehender Kontraindikationen berichtet. In einem Fall mit Todesfolge für das ungeborene Kind, in einem weiteren Fall mit Todesfolge für die Mutter».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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