Zypern: Hoffnung auf eine Lösung eines eingefrorenen Konflikts
Knapp eine Woche nach seinem überwältigenden Wahlsieg trat Tufan Erhürman letzten Freitag offiziell sein Amt im türkischen Norden Zyperns an. In seinem Amtseid schwor er unter anderem, «den Prinzipien Atatürks und einem demokratischen, säkularen und sozialen Rechtsstaat treu zu bleiben». Solche Versprechen von «einem demokratischen, säkularen und sozialen Rechtsstaat» waren in Nordzypern seit sehr langer Zeit nicht mehr zu hören gewesen.
Zum Präsidentenpalast ging Erhürman in Begleitung seiner Ehefrau, die ihr langes blondes Haar offen trug. Für den türkischen Norden der Insel, in dem die Islamisierung der Bevölkerung bewusst vorangetrieben wurde, wirkte auch dieses Bild aussergewöhnlich.
Noch ist unklar, ob der Machtwechsel in Nordzypern nur symbolischer Natur sein wird. Oder ob er tatsächlich einen Wendepunkt in diesem seit Jahrzehnten zementierten, «eingefrorenen Konflikt» einläuten und im östlichen Mittelmeer für Entspannung sorgen kann.
Zweistaatenlösung oder Vereinigung der Insel
Die Wahlen vom 19. Oktober in der Türkischen Republik Nordzyperns (KKTC) wurden von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen. Denn der gesamte Urnengang mutete wie ein längst abgekartetes Spiel an. Der seit fünf Jahren amtierende Präsident Ersin Tatar war der klare Favorit des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Der rechtsnationalistische Politiker Tatar versprach seinen Wählern, die faktische Teilung der Insel im östlichen Mittelmeer auch de jure und damit unumkehrbar zu machen.
Dieses Versprechen stand im absoluten Einklang mit dem Wunsch der Regierung in Ankara. Während der letzten Vollversammlung der Vereinten Nationen mahnte Recep Tayyip Erdoğan, die Türkei würde auf Zypern keine andere Lösung als die «Zweistaaten-Lösung» akzeptieren.
Ein türkischer Staat im Norden und ein griechischer im Süden würden jedoch die endgültige Teilung der Insel bedeuten – und den Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei auf Ewigkeit zementieren.
Vor einer Woche wähnte sich Ersin Tatar seines Wahlsiegs noch sicher. In der international nicht anerkannten Minirepublik hatte sich schliesslich Ankaras Wille im letzten halben Jahrhundert schon immer durchgesetzt.
Tatars 55-jähriger Gegenspieler, Tufan Erhürman von der sozialdemokratischen «Republikanischen Türkischen Partei» (CTP), plädierte hingegen für alles, was Ankara nicht wollte: für eine Annäherung an die EU, für engere Beziehungen zu den griechischen Nachbarn im Süden der Insel und am Ende für eine Vereinigung der Insel in einer Föderation.
Einer der langwierigsten Konflikte
Bei einer Wahlbeteiligung von fast 65 Prozent erhielt Tufan Erhürman überraschend 62,76 Prozent der Stimmen. Erdoğans Ziehkind Tatar wurde mit lediglich 35,81 Prozent abgewählt. Das Wahlresultat hat die Politik in Ankara kalt erwischt.
Dabei war der Sieg Erhürmans, der von unterschiedlichen Umfragen vorausgesagt worden war, weniger das Problem. Vielmehr wurde der grosse Unterschied von fast 30 Prozent, der die Ablehnung der inseltürkischen Wähler gegenüber der türkischen Politik deutlich machte, in der Türkei als Demütigung empfunden.
Die Wähler hätten für Tufan Erhürman gestimmt, «auch nur, damit Ankaras Verwalter Tatar einfach verliert», erklärte der Sekretär der Zyprischen Linken Bewegung Abdullah Korkmazhan gegenüber der unabhängigen türkischen Internetplattform «BIANET». Die Politik Ankaras habe den türkischen Norden zu einer jahrzehntelangen politischen Isolation verurteilt und zu einem rechtsfreien Raum verkommen lassen: «Die Insel ist zu einem Zentrum für Menschenhandel, Waffen- und Drogenschmuggel sowie Geldwäsche geworden», so Korkmazhan.
Türkisch-israelische Rivalität auf Zypern ausgeweitet
Zudem sorgte der Gaza-Krieg für enorme Spannungen zwischen den beiden Teilen Zyperns. Wie die meisten EU-Staaten hat sich die griechisch-zyprische Regierung seit Kriegsbeginn klar auf die Seite Israels gestellt.
Dutzende israelischer Kampfflugzeuge durften von den britischen Stützpunkten auf Zypern aus starten, um Angriffe auf Gaza, Syrien und den Iran durchzuführen. «Zypern dient als Sprungbrett für regionale Kriegshandlungen und eine Fortsetzung des Genozids in Gaza», höhnte die türkische Politik immer wieder.
Denn im Konflikt um Gaza versteht sich die Türkei unter Erdoğan als der einzig wahre Fürsprecher der Palästinenser und als Israels geostrategischer Rivale im Nahen Osten. Seit Beginn des Gaza-Kriegs wurde die türkische Militärpräsenz in Nordzypern enorm verstärkt. Dabei hat Ersin Tatar die Nutzung des Flughafens Geçitkale im Norden für türkische Drohneneinsätze gutgeheissen.
Wende von Erdoğans Zypern-Politik?
Gleich nach Bekanntmachung der Wahlresultate gratulierte Erdoğan dem Wahlsieger zu seinem Sieg. Das Wahlergebnis habe die «demokratische Reife der türkischen Zyprer unter Beweis gestellt», sagte er lakonisch. Seither spekuliert man in Athen und in Nikosia, ob Erdoğan eine Wende in seiner strikten Zwei-Staaten-Politik vollzogen hat.
Tufan Erhürman versprach seinen Wählern eine EU-Annäherung, mehr Rechtsstaatlichkeit und engere Beziehungen mit den Inselgriechen. Schon allein dieses Versprechen hat das Zeug dazu, für Entspannung in dieser seit 1974 geteilten Insel zu sorgen.
Wie viel er davon tatsächlich umsetzen kann, wird vermutlich auch diesmal in Ankara entschieden. Gleich nach Bekanntmachung der Wahlresultate plädierte der Führer der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahceli, für eine sofortige Annexion der Türkischen Republik Nordzyperns: «Die Sicherheit und Zukunft Zyperns sind untrennbar mit der Sicherheit und Zukunft der Republik Türkei verbunden. In diesem Zusammenhang ist Zypern türkisch und wird es immer bleiben.»
Bahceli ist engster Alliierter der Regierung Erdoğan. Ob Erdoğan den mächtigen rechtsnationalistischen Flügel in seiner Regierung zur Mässigung gewinnen kann, bleibt vorerst dahingestellt.
Der «eingefrorene» Zypernkonflikt
Die Frage, ob sich die britische Kronkolonie Zypern nach ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1960 Griechenland anschliessen durfte, wie es die überwältigende Bevölkerungsmehrheit von rund 80 Prozent damals wünschte, hatte zunächst zu blutigen Kämpfen zwischen der griechischen Mehrheit und der türkischen Minderheit geführt. Die Inseltürken wurden mehr und mehr in isolierten Exklaven zusammengepfercht. Im Jahr 1974 putschten die griechischen Obristen gegen den ersten legitimen Präsidenten Zyperns, Erzbischof Makarios III.
Wie sich später herausstellte, waren die Obristen dazu vom damaligen US-Aussenminister Kissinger offen ermuntert worden. Makarios stand der Bewegung der Blockfreien nah – aus Sicht Washingtons offenbar zu nah.
Den misslungenen Putsch der griechischen Obristen nahm Ankara zum Anlass, um neue Tatsachen vor Ort zu schaffen: 40 Prozent der Mittelmeerinsel wurden besetzt und ein Bevölkerungsaustausch erzwungen. Alle Inseltürken mussten sich im Norden der Insel niederlassen und alle Inselgriechen im Süden. Es handelte sich um den ersten Krieg in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.
Seitdem teilt eine Demarkationslinie die Mittelmeerinsel von Osten bis Westen in einen türkischen Norden und einen griechischen Süden. Im Jahr 1983 wurde im Norden die Türkische Republik Nordzyperns (KKTC) ausgerufen und einzig von Ankara anerkannt. Völkerrechtlich gilt die KKTC als ein von türkischen Soldaten besetztes Land.
Der Zypernkonflikt hat die beiden NATO-Mitglieder Griechenland und Türkei zu erbitterten Feinden gemacht. Seit 1974 findet ein zermürbendes Wettrüsten dies- und jenseits der Ägäis statt.
Der Plan von Erdoğan und Ersin Tatar, die bestehende De-facto-Teilung auch de jure zu vollziehen, wurde letzten Sonntag von den Wählern zumindest vorläufig vereitelt. Wie Augenzeugen berichten, macht sich erstmals wieder Hoffnung auf eine Annäherung und Entspannung breit.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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