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Chemikalienverschmutzung kann anhaltende Gesundheitsschäden verursachen. Dennoch greift die Politik nicht durch. © Mistral AI

Die Schweiz rüstet ab im Kampf gegen Umweltchemikalien

Daniela Gschweng /  Das BAG steigt aus einer Langzeitstudie aus, das Parlament verwirft kurz darauf harte Massnahmen gegen PFAS. Und die EU schwächelt.

Kein Mensch lebt heute ohne Umweltchemikalien im Körper. Manche wirken erst nach Jahrzehnten oder gar in der nächsten Generation. Trotzdem hat das Bundesamt für Gesundheit eine lange geplante Langzeitstudie gestoppt – und die Politik vertagt strengere Regeln für PFAS. Der Schutz von Gesundheit und Umwelt wird weiter aufgeschoben. Dabei ist längst deutlich, dass die Belastung mit giftigen Chemikalien ein dringendes und weitreichendes Problem ist.

Die geplante Untersuchung hätte hunderttausend Probanden über 20 Jahre begleitet, Umweltgifte und Gesundheitszustand regelmässig erfasst und so wertvolle Daten über die Wirkung von Umweltchemikalien geliefert. Kostenpunkt: zehn bis zwölf Millionen Franken im Jahr. Das BAG sagte sie Anfang September aus Spargründen ab. Damit fällt eine zentrale Möglichkeit weg, Gefahren durch Umweltchemikalien frühzeitig zu erkennen – besonders da Schäden oft erst nach Jahrzehnten oder sogar in der nächsten Generation sichtbar werden.

Weniger Daten, weniger Vorsorge

Die Schädlichkeit von Chemikalien wie Pestiziden, Phthalaten, PFAS oder Schwermetallen lässt sich meist nur statistisch bewerten. Dazu braucht es viele, möglichst langfristige und flächendeckende Daten.

Unterschiede zwischen Regionen können gross sein, zum Beispiel bei lokalen PFAS-Verschmutzungen durch Feuerlöschschäume. Erfassbar werden sie durch die grosse Zahl. Wenn es beispielsweise irgendwo in Europa einen Weiler gibt, der ein ähnliches Verschmutzungsprofil hat – wie geht es der Bevölkerung im Vergleich? Wechselwirkungen zwischen Chemikalien oder Trends können nur erforscht werden, wenn viele Menschen untersucht werden.

Ob die Chemikalienbelastung im Tessin anders ist als in Zürich, werden wir zum Beispiel nicht erfahren. Welche Auswirkungen Unterschiede haben, auch nicht. Das gilt besonders für PFAS, weil sie sehr lange in der Umwelt bleiben. Einzelne PFAS aus der riesigen Chemikaliengruppe sind zwar verboten. Bei anderen wie Trifluoracetat (TFA), das sich flächendeckend im Wasser findet, gibt es einen Verdacht. Tausende sind noch unerforscht.

Die Schweiz streicht ihren Beitrag zur internationalen Forschung

Eine Pilotstudie zeigte kürzlich: Von 630 getesteten Erwachsenen in den Kantonen Bern und Waadt hatten alle PFAS im Blut, bei fünf Prozent war die Menge bedenklich. «Deutliche Gesundheitsfolgen sind möglich», sagte der Umweltwissenschaftler Martin Scheringer (ETH Zürich) zum «Tagesanzeiger».

Ob die Ergebnisse sich auf die gesamte Schweizer Bevölkerung übertragen lassen, lässt sich nun nicht klären. Annäherungsweise heranziehen kann man die Daten der EU. Langzeitstudien erlauben es, Risikofaktoren, Umwelteinflüsse und die gesundheitliche Entwicklung nicht nur national, sondern auch im europäischen Kontext einzuordnen, das sagt das BAG fast wörtlich sogar selbst. Nun stampft die Schweiz ihren Beitrag zu internationaler Forschung wie dem Parc-Projekt ein.  

Gesetze egal, Steuergelder aber gerne

So richtig ernst werden die Fluorchemikalien und ihre Folgen immer noch nicht genommen. Für Schlagzeilen sorgte im vergangenen Jahr St. Gallen: Dort wurden die Anfang 2024 von der EU übernommenen PFAS-Grenzwerte ignoriert und belastetes Fleisch ohne Deklaration verkauft. Eine informierte Entscheidung von Konsumentinnen und Konsumenten gab es nicht. In Zukunft soll unbelastetes mit PFAS-belastetem Fleisch gemischt werden. In diesem Punkt wenigstens hat der Nationalrat am 9. September in einer PFAS-Sondersitzung aber nachgefasst und eine Deklarationspflicht beschlossen.

Weiter entschied das Parlament, dass von PFAS-Verschmutzungen betroffene Bauern unterstützt werden – zahlen wird die Allgemeinheit. Eine Abgabe für Verursacher in Form einer «PFAS-Steuer» lehnte das Parlament ab. Ehemalige und zukünftige Verursacher werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Realistisch betrachtet dürfte das bei einer ganzen Reihe PFAS-Verschmutzungen so kommen. Entscheidungen zu den insgesamt acht behandelten Motionen blieben sonst eher unkonkret – nach dem Motto: «PFAS einschränken ja. Aber ohne, dass es der Wirtschaft schadet.»

Teure Zukunft

«Es geht um Existenzen», sagte SVP-Nationalrat Mike Egger. Vermutlich trifft das zu – aber nicht nur für Landwirte. Auf die Allgemeinheit kommen enorme Kosten zu. PFAS verschwinden nicht, sie bleiben sehr lange in der Umwelt. Trinkwasseraufbereitung und Bodensanierung kosten Milliarden.

Forschende wie Scheringer fordern deshalb, die Quelle zu stoppen: Kein PFAS-Einsatz mehr in der Produktion und in Produkten. Es sei denn, er lässt sich wirklich nicht vermeiden. Die gleichlautende Forderung von SP, GLP und Grünen wurde am 9. September aber abgelehnt.

Griffige Massnahmen – und vor allem: konkrete Grenzwerte – wurden weiter in die Zukunft verschoben. Bundesrat Rösti verwies auf einen PFAS-Aktionsplan, der Anfang 2026 präsentiert werden solle. Und einmal mehr auf die Gesetzgebung der EU, die ebenfalls im kommenden Jahr erwartet wird.

Wo die Schweiz kein Geld hat, hat die Echa keine Zeit: EU schwächt PFAS-Prüfung ab

Wenn sie denn kommt – und in der Form, mit der bisher gerechnet wurde. Denn auch auf europäischer Ebene gibt es Rückschläge. Die Chemikalienagentur Echa will ihr Verfahren zum Totalverbot von PFAS aufteilen und acht Anwendungsbereiche ausklammern – von Medizin über Militär bis Maschinenbau. Die betroffenen Bereiche machen laut Chem Trust etwa neun Prozent der PFAS-Anwendung aus. Organisationen wie Chemsec kritisieren das scharf: Wer bereits in Alternativen investiere, werde bestraft.

Als Grund führten die fünf Initianten Dänemark, Deutschland, die Niederlande, Norwegen und Schweden in einer Mitteilung vom 27. August Zeitmangel an. Es habe tausende Kommentare zum ursprünglichen Antrag gegeben. Dieser sieht ein Totalverbot von PFAS vor, erlaubt wären nur sogenannte essenzielle Ausnahmen. Klammert die Echa Anwendungsbereiche aus, wäre die Herstellung von PFAS in der EU weiterhin zulässig und Produkte mit Recyclinganteilen dürften weiterhin PFAS enthalten. Guten Appetit – sehr vorsorglich ist das nicht.

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