Kommentar
kontertext: Zu viele sitzen viel zu lange
Wer Kummer hat, wendet sich an Ibrahim. Kummer und Dauerstress aber haben alle. Ibrahim kennt daher die Geschichten von fast allen und er hört seinen Schicksalsgenossen mit grosser Anteilnahme zu. Er ist ja auch schon acht Monate hier.
Wir befinden uns im Basler Ausschaffungsgefängnis Bässlergut. Die Mehrheit der Insassen stammt aus Nordafrika. Wer sich vorstellt, dass sich in dieser Haftanstalt lauter Nichtsnutze befinden, macht sich ein ganz falsches Bild. Da ist beispielsweise Issa, der fürsorgliche Familienvater. Seine hochschwangere Frau erarbeitet das Familieneinkommen und muss nun in den fünf Monaten, die ihr Mann im Bässlergut verbringt, auch noch die ganze Familienarbeit übernehmen. Das Paar hat sich religiös verheiratet, ihre Beziehung ist zivilrechtlich nicht abgesichert, und er besitzt keine Aufenthaltsbewilligung. Nur sie hat einen C-Ausweis. Sie schuftet sich halb zu Tode, gerade jetzt während den Schulferien und kurz vor der dritten Geburt. Einmal mehr stossen wir hier, wie so oft im Männergefängnis, auch auf die schwierigen Lebensumstände der angehörigen Frauen – Partnerinnen, Mütter, Schwestern – und der Kinder: Die Töchterchen rufen nach Papi und heulen ins Telefon, wenn Issa sie anruft. Und während ich diese Sätze schreibe, erfahre ich, dass der Haftrichter in Solothurn Issas Haft wieder um drei Monate verlängert hat.
Was denken sich Behörden und Richter?
Der Tröster Ibrahim selbst hat keine leichte Bürde zu tragen. Er sagt, er sei aus Liberia, aber dieses Land und die anderen benachbarten Länder wollen ihn nicht zurück. Er hat schon drei Mal auf jeder Botschaft vorgesprochen. Dessen ungeachtet hat der Haftrichter in Basel die Haft um weitere drei Monate auf rund zwölf verlängert. Doch die Rekordhalter sind andere: Fethi aus Algerien wartet bereits neun Monate, Khaled aus demselben Land ein volles Jahr und Kader aus Marokko ebenfalls. Zu Beginn seiner Ausschaffungshaft litt er an heftigen Zahnschmerzen. Unterdessen sind die kranken Zähne abgestorben oder gezogen. Zuvor sass er schon in Strafhaft wegen Verstosses gegen das Ausländergesetz. 15 Monate Haft für eine nicht vollziehbare Wegweisung! 15 Monate Zermürbung und Dauerstress. Bald acht Monate sitzt Mohamed, er kam vor 13 Jahren in die Schweiz und leidet an einem schmerzvollen Morbus Crohn. Ohne die vierzehntägliche Injektion eines teuren Medikaments überlebt er nicht. Verständlich, dass er sich gegen seine Ausschaffung sperrt. Unverständlich hingegen, dass an der Ausschaffung unbeirrt festgehalten wird. Auch als sich der etwa 40-jährige Mann auf bloss 40 Kilo herunter gehungert hatte, zeigte die Behörde kein Einsehen. Und grundsätzlich gefragt: wozu überhaupt Ausschaffungshaft in diesem Fall? Allein schon seine Abhängigkeit von der intensiven medizinischen Behandlung verbietet ihm jegliches Untertauchen. Die behördliche Zusicherung einer ausreichenden Behandlung in Algerien ist für ihn wenig glaubhaft. Sein Schicksal ist auch für uns Besuchende belastend.
Stille Wegsperrung
Die Mehrheit der Insassen werden gemäss Dublin-Verordnung nach kurzer Zeit in ein anderes europäisches Land weitergeschoben, auch nach Griechenland, Kroatien und anderen Ländern, selbst wenn diese jegliche menschenrechtskonforme Aufnahme verweigern. Unter den auf diese Art Herumgeschobenen gibt es sicher auch ein paar Schlitzohren oder Verwahrloste, aber die Mehrheit entspricht nicht den hiesigen Vorurteilen. Besonders stossend ist die beträchtliche Anzahl von Insassen, die ins Herkunftsland abgeschoben werden sollen und die übermässig lange festgehalten werden. Die Wegsperrung erfolgt ganz im Stillen und unbemerkt von der Öffentlichkeit – am Rande einer doch eher liberalen Stadt. Sie gleicht einer Strafe für die unrechtmässige Einreise und den illegalen Aufenthalt. Doch eine solche Strafe haben viele schon in der Strafhaft abgesessen. Die Ausschaffungshaft ist eine Administrativhaft und wird mit der Sicherstellung des Wegweisungsvollzugs begründet. Dann sollte aber auch die Verhältnismässigkeit in Bezug auf ihren Zweck gewahrt werden. Die Beurteilung der Angemessenheit ist letztlich eine politische Frage, die im kantonalen Parlament gestellt werden muss. Eine diesbezügliche Anfrage ist in Vorbereitung.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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