Kommentar

kontertext: Für eine WELT mit mehr als 4 Buchstaben

Tine Melzer © Mara Truog

Tine Melzer /  Wer Kunst studiert, ist oft Misstrauen und Unverständnis ausgesetzt. Unnötig! Unmöglich! Denken viele. Hier eine Gegenrede.

Red. – Am 27. Juni hielt die Schriftstellerin Tine Melzer im KKL Luzern eine Diplomrede für die Absolvent:innen der Studiengänge Design, Film und Kunst der Hochschule Luzern. Melzer wirft Fragen auf, die sich mit der Existenz kreativer Berufe für alle stellen. Wir dokumentieren die Rede in redigierter Form als Gastkommentar.

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Was machst du eigentlich?

Wenn Kunststudierende gefragt werden, was sie eigentlich machen, wird es oft schwierig. Es fragt die Tante, die als Chirurgin arbeitet, der Vater, der Gärtner ist. Die alten Schulkameraden wollen auch wissen: Was machst du eigentlich? Was lernt ihr? Was sind die Arbeitsbedingungen? Was will die Welt von euch? Was ist die Wirksamkeit eurer Tätigkeit? Welche Verantwortung übernehmt ihr?  

Das ist manchmal schwierig zu erklären, es ist nicht eindeutig. Design- und Kunsthochschulabsolvent:innen sind keine Bäckerinnen geworden und keine Zahnarzthelfer. Es braucht eine Übersetzungsleistung, um auf die Frage zu antworten: Was machst du da eigentlich? 

Bedeutung, Ambiguität und Mehrdeutigkeit

Etwas, was alle an Kunsthochschulen gelernt haben ist, Bedeutungen erforschen, Bedeutungen lesen, Bedeutungen verstehen. Sie gestalten, verschieben, äussern. Sie publizieren, alle in der eigenen Disziplin, mit dem geeigneten Material – mit Bildern, mit Worten, mit Tönen, mit Bewegung, mit Form, mit Werkstoffen. Mit Menschen. 

Bedeutungen sind aber keine Dinger, keine Brötchen im Regal der Bäckerin. Bedeutungen sind wandelbar. Sie sind mehrseitig. Sie verschieben sich. Sie sind nicht eindeutig. Bedeutungen haben verschiedene Seiten, verschiedene Aspekte. Je nachdem, von welcher Seite man sie anschaut, von welcher Seite man an sie herangeht und mit ihnen arbeitet. Bedeutungen hängen auch davon ab, wie man mit ihnen umgeht. Es gibt das was, aber das wie ist oft wichtiger. Zum Beispiel widmet man sich der Frage, wie eine alte Kulturtechnik wiederbelebt werden kann oder wie alltägliche Situationen mit Bedeutung aufgeladen sind – entscheidend ist, wie und warum man das tut. Mit welchen Schattierungen, Entwürfen und Spekulationen.

Mehrdeutigkeit, Ambiguität mögen Menschen eigentlich nicht. Es fällt oft schwer, Dinge anzusehen, die auf verschiedene Weisen verstanden werden können. Widerspruch stört meistens. Vielfalt juckt, Eindeutigkeit lähmt. Deshalb braucht es Künstler:innen, um die Spannung und die Ambiguität auszuhalten und immer wieder zu beginnen, sie zu übersetzen. 

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«Wenn ich dich filme, bedeutet das unweigerlich auch, dass ich dich ausbeute?» – Filmstill und Fragen aus dem Video-Essay «Der Weg zum Andern» von Leonie Berger (2025).

Das Publikum will verstehen

Kunst bedeutet Publizieren. Künstlerische Arbeit braucht ein Publikum und diese Arbeit sucht es sich selbst, künstlerische Tätigkeiten generiert das Publikum, das zuhört, die Arbeit ansieht, sie nutzt, sie versteht. 

Kunst und Design bedeuten immer auch Vermittlung und diese Arbeit will immer Verstehen erzeugen. Verstehen erzeugt Genuss. Verstanden werden ist ein gutes Ziel an sich. Menschen mögen es, verstanden zu werden, auch von Fremden, von einer Gesellschaft. Deshalb ist die Kunst dringlich. Es braucht sie. 

Künstlerisches Schaffen in all diesen verschiedenen Formen braucht Publikum, braucht Förderung, braucht Gesellschaft. Die sogenannte Welt braucht Kunst. Subjektivität ist die Währung.

Die Welt, wie wir sie kennen: vier Buchstaben und ein grosses W – das  klingt einfacher, als es ist. So als wäre die Welt selbst ein Brötchen im Regal der Bäckerei. Aber die Welt ist nur ein Wort für etwas sehr Komplexes, etwas Mehrseitiges, etwas Plurales, etwas, an dem viele Menschen gleichzeitig gemeinsam gestalten, daran schaffen, um sie zu verstehen, einzuordnen, um sie zu verbessern, und manchmal: um sie zu zerstören. 

Zurzeit erscheint die Welt mit ihren vier Buchstaben eher bizarr, einschüchternd und erzeugt Unsicherheit in Vielen. Die Weltlage? Die Welt liegt in unserem Sonnensystem. Die sogenannte Weltlage lockt zu viele, auf einfache Erklärungen zu setzen, anstatt die Vielfalt von Stimmen, Perspektiven, Geschichten und Meinungen auszuhalten. Anstatt erst mal zuzuhören. 

Bildung ist kein «Nice to have»

Wie sind die Künstler:innen ausgerüstet? Welches Rüstzeug haben sie, um auf Mehrdeutigkeit zu bestehen? Sie zu verteidigen? 

Sie haben eine gute Rüstung! Ihre Bildung ist ihre Waffe gegen Ignoranz und Populismus. 

Es braucht sie. Ohne Bildung ist eine, ist unsere Gesellschaft verloren. Denn nicht nur die Ausbildung in kreativen Berufen, auch die Berufsausbildung – zur Zahnarzthelferin, zur IT-Spezialistin und zum Bäcker – sind unsere Ressource. Wer Bildung gegen Rüstung ausspielt, hat das Spiel und den Wert einer lebenswerten Gesellschaft nicht verstanden. Es braucht die Bildung immer. Jetzt noch mehr. Sie steht ganz oben auf der Liste der wichtigen Investitionsfaktoren. Bildung und Kunstausbildung ist nicht nur nice to have. Euer Erfolg lässt sich nicht nur in Zahlen und Geld ausdrücken. Die Währung der Bildung ist subtil, verletzlich und genau. Sie zahlt sich aus in Empathie und Resonanz.

Für diese WELT

Diese Welt. Diese vier Buchstaben zwingen Künstler:innen zu einem Lebensentwurf und zu Entscheidungen. Was sind die Kriterien? Es gibt die Notwendigkeit, ein Einkommen zu generieren, ein Auskommen, um die Grundbedürfnisse zu finanzieren. Ein Auskommen bedeutet auch: ein Miteinander-Auskommen. Es gibt also auch inhaltliche Fragen, einen Sinn und Aufgaben, die gelöst werden wollen, die nur sie lösen können. Mit ihrer Subjektivität, mit den Kolleginnen und Kollegen im eigenen Gebiet. Wenn sie die Verantwortung dafür übernehmen, diese Aufgaben anzugehen, dann ist das Teil ihrer Währung, ihres Wertes: komplexe Zusammenhänge erkennen, aushalten und gestalten. 

Sie müssen nicht alle Aufgaben lösen. Ein Leben ist kein Kreuzworträtsel. Aufgaben sind nicht nur da, um sie zu lösen, sondern auch, um sie zu zeigen. Um die Komplexität zu zeigen, Diskurs zu ermöglichen, in der Vieldeutigkeit zu bleiben. 

In Verantwortung steckt Antwort. Künstlerische Arbeit braucht Hingabe und Zuneigung an bestimmte Werte, an bestimmte Erlebnisse, Erfahrungen, an den Genuss des Verstehens innerhalb des Werks. Werte können Vielfalt sein und Ausdruck einer subjektiven Sichtweise, die Intersubjektivität und Empathie erzeugt und mit Genauigkeit in der Sprache und in den Bildern andere erreicht. 

Dazu braucht es Ausdauer und Geduld. Und ein Hinauszögern des Urteils. Einen Moment warten. Noch einmal zuhören. Es noch einmal versuchen. Durch die Augen des anderen sehen. Also Zuhören und Zusammenarbeit – und gemeinsames Scheitern. 

Und vielleicht ist der wichtigste Faktor, der junge Kunstschaffende leiten kann bei den Entscheidungen, die anstehen – unmittelbar jetzt, nach diesem Sommer: Welchen Job? Mit welchen Leuten? Für wie viel Glamour, für wie wenig Geld wollt ihr eure Zeit einsetzen? – Der wichtigste Faktor ist: Mit wem? Für wen? 

Ich schlage vor: Sucht die Menschen, mit denen ihr gern zusammen seid. Findet neue Gegenüber. Findet euch Verbündete, sucht euch eure richtige Gesellschaft, um an der Bedeutung dranzubleiben und die Vielfalt weiterhin zu erzeugen, die es dringend braucht. In einer Welt mit vier Buchstaben, die gern vereinfacht, was komplex ist und die Verantwortung jenen überlässt, die eher zerstören als gestalten wollen. Lasst euch nicht einlullen vom Entweder-Oder. Übt das Sowohl-Als-Auch. Mischt euch ein, gestaltet mit und bleibt dran. 

Wir brauchen euch. Für eine Welt mit mehr als vier Buchstaben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Tine Melzer ist Autorin und Kunstdozentin.

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Eine Meinung zu

  • am 3.08.2025 um 11:13 Uhr
    Permalink

    Viel zeitgenössische Kunst ist schöngeredete Sinnlosigkeit.

    Mir machen die Besucher:innen und Betrachtenden von «nicht-dekorativen» Kunstwerken immer einen etwas verstörten Eindruck. Täusche ich mich, wenn ich meine, dass es immer nur eine sehr kleine Minderheit ist, welche diese Kunst wirklich geniessen kann? Sollten diese entsprechende Ausstellungen und Events nicht selbst finanzieren?

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