Kathedrale Edschmiadsin Armenien

Kathedrale von Edschmiadsin: Sie wird als der älteste christliche Ort der Armenier verehrt und stellt das religiöse Zentrum des Landes dar. © Areg Amirkhanian / CC BY-SA 3.0

Eine Konferenz in Bern führt zu Streit in Armenien

Amalia van Gent /  Das kirchliche Oberhaupt wehrt sich für das kulturelle Erbe der Bergkarabach-Armenier. Der Regierungschef reagiert empört.

Die Bilder aus Edschmiadsin, dem religiösen Zentrum der Armenisch-Apostolischen Kirche, waren schockierend: Am 27. Juni betraten bewaffnete Bereitschaftspolizisten das ausgedehnte Areal der Kathedrale, um Erzbischof Mikael Ajapahyan, den Leiter der Diözese Schirak im Nordwesten des Landes, zu verhaften. In einem heftigen Streit gelang es den Verfechtern der Kirche schliesslich, die Polizei aus dem Kathedralen-Areal zu vertreiben.

Wachsende Kluft zwischen Kirche und Staat

Der Vorfall war beispiellos. Wie der Vatikan für die Katholiken gilt für Armenier Edschmiadsin als ein heiliger Ort. Und wie bei den Juden ist auch bei den Armeniern die Religion Teil ihrer Identität.

Auf rund zehn Millionen Menschen wird die Zahl der Armenier geschätzt. Knapp ein Drittel lebt in der Republik Armenien, zwei Drittel sind in der weltweiten Diaspora verteilt. Bei Armeniern im In- und Ausland sorgte der Vorfall in Edschmiadsin für grosse Empörung. Von der «Schändung einer heiligen Stätte» ist die Rede.

Zum jüngsten Konflikt zwischen Kirche und Staat äussern sich die Kirchenväter betroffen: Als «beschämend und unehrenhaft» bezeichnete etwa das armenische Patriarchat in Jerusalem die Streitigkeiten, während das einflussreiche Kirchenoberhaupt in Libanon, Katholikos Aram I., die Regierung in Jerewan unverhohlen aufforderte, «mit Ehrfurcht und Ruhe» vorzugehen, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Patriarch Sahak II. Mashalian von Konstantinopel sieht in der «wachsenden Kluft zwischen Kirche und Staat» die Gefahr einer neuen, selbstzerstörerischen Zerrissenheit der Nation: «Wie können die Armenisch-Apostolische Kirche und der armenische Staat miteinander in Konflikt stehen?», fragte er während einer Sonntagsliturgie in Istanbul. «Als es noch keinen Staat gab, haben wir Armenier tausend Jahre lang für einen gebetet».

Welle von Festnahmen

Der seit Wochen eskalierenden Konflikt zwischen der Regierung und der Kirche mündete in eine Welle von Festnahmen. Erzbischof Mikael Ajapahyan, der in Edschmiadsin verhaftet werden sollte, stellte sich später der Polizei. Jetzt sitzt er für zwei Monate in Untersuchungshaft. In den letzten zwei Juniwochen landeten 14 Vertreter der Opposition hinter Gitter. Sie sind Kleriker, Rechtsnationalisten oder, wie Davit Galstyan, Politiker aus Bergkarabach. Der prominenteste von ihnen dürfte aber der russisch-armenische Unternehmer Samvel Karapetyan sein. Der Milliardär Karapetyan ist Gründer der Taschir-Group, eines diversifizierten Mischkonzerns mit bedeutenden Investitionen in den Bereichen Immobilien, Energie, Einzelhandel und Infrastruktur. Ihm gehört auch die Electric Networks of Armenia (ENA), der wichtigste Stromversorger des Landes. Nach Karapetyans Festnahme hat die Regierung ihre Absicht geäussert, die ENA verstaatlichen zu wollen.

Die Regierung wirft den Inhaftierten vor, den gewaltsamen Sturz der verfassungsmässigen Ordnung geplant zu haben. Demnach soll diese kleine Gruppe von «Abenteurern» geplant haben, das Land mit Bomben und Terroranschlägen zu destabilisieren. Die Inhaftierten hingegen sehen im Vorgehen der Regierung einen groben Versuch der Regierung, die Opposition einzuschüchtern.

Armenienkonferenz in Bern

Die Krise, die Armenien so fundamental erschüttert, geht offenbar auf eine Tagung im vergangenen Mai zurück, die der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) und die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz in Bern organisiert hatten. Hauptthema der Armenienkonferenz in Bern war die Frage, wie Religionsfreiheit im Südkaukasus und der Schutz des armenischen kulturellen und historischen Erbes in Bergkarabach gewährleistet werden könnten.

Kurzer Rückblick: Aserbaidschan hatte in einem als «Blitzkrieg» bezeichneten Angriff im September 2023 innerhalb einer knappen Woche rund 120’000 Menschen aus ihrer historischen Heimat vertrieben. Seitdem werden wir, so das Schluss-Communiqué der Tagung, «Zeugen der Auslöschung der jahrtausendealten Präsenz armenischer Christen in der Region und der Zerstörung von Kirchen, Friedhöfen, Denkmälern und anderen heiligen Stätten».

An der Berner Konferenz nahmen neben zahlreichen Klerikern auch hochkarätige Wissenschaftler, Juristen und Politiker teil. Der Schweizer Historiker Hans-Lukas Kieser und der türkische Forscher Taner Akçam gelten weltweit als Koryphäen in der Frage des Genozids an den Armeniern im Osmanischen Reich. Rund 1,5 Millionen Armenier kamen im Schatten des Ersten Weltkriegs bei Massakern und Todesmärschen zu Tode. Es war der erste Völkermord von einem solch makabren Ausmass im 20. Jahrhundert.

Unter den teilnehmenden Juristen befanden sich der ehemalige Oberstaatsanwalt des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (IGH), Luis Moreno Ocampo, sowie Adama Dieng, ehemaliger Bevollmächtigter des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda.  Beide setzen sich mit der Frage auseinander, wie im Falle von schweren Kriegsverbrechen Gerechtigkeit wiederhergestellt werden kann. An der Konferenz in Bern wurde über die Rückkehr der 120`000 Vertriebenen nach Bergkarabach debattiert.

Das ist nichts Neues: Bereits im November 2023 wies der Internationale Gerichtshof Aserbaidschan an, die «sichere, ungehinderte und rasche Rückkehr der Vertriebenen» zu gewährleisten. Und ein Jahr später rief auch das Europäische Parlament Aserbaidschan auf, die «sichere und würdige Rückkehr der Vertriebenen» zu ermöglichen und das armenische kulturelle Erbe Bergkarabachs zu beschützen. Schliesslich forderten der National- und Ständerat den Bundesrat mit einer Motion auf, er solle vermitteln, um eine Rückkehr der Vertriebenen nach Bergkarabach zu ermöglichen – ein Appell, der wohl aus realpolitischen Überlegungen beim EDA auf taube Ohren stiess.

Unerbittlicher Machtkampf

Dass sich das Oberhaupt der Armenisch-Apostolischen Kirche, Katholikos Karekin II., in Bern für die Rechte der Bergkarabach-Armenier einsetzte, empfand die Regierung in Jerewan als grobe Einmischung der Kirche in die Politik. Regierungschef Nikol Paschinjan griff das Kirchenoberhaupt persönlich an und forderte seinen Rücktritt. Dabei warf er Karekin II. vor, Vater eines Kindes zu sein und damit sein Zölibatsgelübde verletzt zu haben.

Im Gegenzug warfen hochrangige Kleriker dem Regierungschef vor, lediglich den Interessen der Türkei und Aserbaidschans zu dienen und wie die Türken «beschnitten» zu sein. Der verbale Schlagabtausch der Kontrahenten nahm in den Social Media geradezu abstruse Züge an. Sätze wie – «zeig mir dein Kind, und ich zeige dir meinen Penis» – schockierten die gesamte Nation.

Unerreichbarer Frieden

Nikol Paschinjan steht unter Druck: Im Zuge einer friedlichen sozialen Revolution 2018 an die Macht gekommen, versprach er seinen Wählern einen Staat der «Moderne», mit mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Rechten für alle und weniger Korruption. Die Versprechen blieben zum Teil unerfüllt.

Denn zwei Jahre später folgte der erste Angriffskrieg Aserbaidschans gegen Armenien um Bergkarabach und im Jahr 2023 der bislang letzte. Beide Kriege endeten für Armenien mit einer vernichtenden Niederlage, weil Aserbaidschan, von der Türkei, von Israel und neuerdings auch von Pakistan mit hochmodernen Waffen ausgerüstet, mächtiger war als je zuvor. Nikol Paschinjan weiss, dass ein weiterer Krieg womöglich das Ende der Republik Armenien bedeuten würde. Deshalb strebt er ein Friedensabkommen mit seinem übermächtigen Nachbarn Aserbaidschan an und will die bilateralen Beziehungen zur Türkei normalisieren. Kritiker werfen Paschinjan vor, er strebe einen Frieden «um jeden Preis» an. Im Namen des Friedens zeigte er sich auch bereit, schmerzhafte Konzessionen, wie den Verlust Bergkarabachs, hinzunehmen.

Paschinjans Besuch in der Türkei

Am 19. Mai stattete Nikol Paschinjan Ankara einen Arbeitsbesuch ab – es war der erste eines armenischen Regierungschefs in der Türkei überhaupt. Paschinjan hoffte, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan könne Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew doch noch zur Unterzeichnung eines Friedensabkommens bewegen. Er hoffte zudem, die Türkei werde, wie seit 2022 vereinbart, die gemeinsame Grenze vorübergehend für Drittstaatler öffnen. Seit 1991 hält die Türkei diese Grenze völkerrechtswidrig geschlossen, was zu einer Strangulierung der armenischen Wirtschaft führt.

Doch Recep Tayyip Erdoğan und Ilham Aliyev liessen den Gast aus Jerewan leer ausgehen. Nikol Paschinjans Popularität erreichte ein neues Tief. Eine Umfrage Ende Juni zeigte, dass fast 70 Prozent der Armenier nicht mehr an einen Frieden mit Aserbaidschan glauben.

Start für Neuwahlen

Nächstes Jahr finden in Armenien Neuwahlen statt. Sie gelten als Richtungswahlen, die darüber entscheiden, ob das Land seinen heutigen Kurs der Annäherung an Europa fortsetzt oder das Lager wechselt. Der prominente Gefangene Samvel Karapetyan rief am letzten Freitag aus seiner Gefängniszelle Nikol Paschinjan zum Rücktritt auf: «Nikol hat in Armenien nichts mehr verloren.» Armenien soll von einer neuen Kraft, die «unsere Identität, unseren Glauben, unsere Kirche, unsere spirituellen und nationalen Grundlagen vertritt», regiert werden, so Karapetyan. Es gibt keine Zweifel, dass die Kirche, die sich als Hüterin eben dieser traditionellen Werte versteht, auf der Seite der geforderten neuen Kraft steht.

Ein Kurswechsel in Armenien würde auch die politische Lage im Südkaukasus grundlegend verändern. Nach dem israelischen Angriff gegen den Iran ist das Mullah-Regime zu schwach, um seinen bisherigen Einfluss im Südkaukasus geltend zu machen. Die Türkei hat nach dem jüngsten Besuch Paschinjans in Ankara ihre Chance vertan, Frieden im Südkaukasus zu vermitteln und damit ihren Einfluss zu festigen. Mit einem Kurswechsel in Armenien nach dem Beispiel Georgiens würde die gesamte Region wieder unter der faktischen Kontrolle Russlands stehen.

Deshalb wird auf allen Ebenen mit harten Bandagen gekämpft. Der russische Journalist Wladimir Solowjow, führender Exponent der russischen Staatspropaganda, beschimpft im öffentlichen russischen Radio die Regierung Paschinjan regelmässig als «käuflich, niederträchtig und unbedeutend» und Nikol Paschinjan als «Türken». Dass die heutige Regierung Armeniens die «Geschichte des Landes verraten», «Bergkarabach aufgegeben» und «heilige Symbole zerstört» habe, wiederholen oft und in aller Öffentlichkeit auch hochrangige russische Politiker. Wenn es einen «hybriden Krieg» gibt, dann wird er in Armenien erfolgreich durchgeführt. Verwirrt darüber, was richtig, was falsch ist, werden diese Argumente von einem grossen Teil der Bevölkerung und des Klerus ungefiltert übernommen.

Eine Frage der Sicherheit

«Für die Wähler ist die Frage der Sicherheit von primärer Bedeutung», urteilt der politische Analyst Tigran Grigorian. Die Armenier würden für jenen geostrategischen Partner stimmen, von dem sie sich mehr Sicherheit versprechen. Denn diesmal gehe es den Wählern «um eine Frage des Überlebens ihrer Republik, um einer Frage ihrer Existenz». Vom Sieg in den beiden Karabach-Kriegen berauscht, erhebt Aserbaidschan unverhohlen Anspruch auf den sogenannten Sangesur-Korridor im Süden Armeniens und deklariert ihn als «historische Heimat der West-Aserbaidschaner». Sollte Armenien sich dem nicht beugen, so droht Aserbaidschan mit einem neuen Krieg.

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