Kommentar
kontertext: Tinnitus, das Schlossgespenst der Seele
Lieber Tony,
meine Liebste, die Du nur als Besucherin Deiner Konzerte kennst, ermutigt mich, Dir zu schreiben. Beide haben wir unlängst mit Sorge festgestellt, dass Dein «Trommelstuhl» erneut leer blieb. Das heisst, selbstredend war er besetzt, sogar exzellent. Trotzdem kann von Ersatz keine Rede sein – nur Tony klingt wie Tony. Das ist der Grund, weshalb wir Dich dort im Club gerne live hören.
So war es ein schöner Abend, unterlegt mit dem Bitterstoff Deiner Absenz. Nach dem Konzert haben wir darüber gesprochen, wie furchterregend doch das Wort «Hörsturz» klinge. Bitte erlaube mir also, mit dem Wenigen, das ich habe, auf Deine Situation einzugehen. Dieses Wenige sind meine eigenen Erfahrungen rund um den Lärm im Kopf, der aus dem Innern kommt und doch auch etwas Äusseres spiegelt: das Zuviel, das auf uns einstürzt, die tobende Parallelaktion in einer globalisierten 24/7-Welt.
Ein paar Bruchstücke aus dem Hörsturz-Leben
Sicher, in Krankheitsdingen sind individuelle Erfahrungen nur um den Preis der Vereinfachung zu übertragen von Person zu Person, gerade bei einem so versteckten, medizinisch kaum objektivierbaren Leiden. Trotzdem lass mich ein paar Passagen aus der Kakophonie meines Lebens zum Besten geben. Als vor etwa sechzehn Jahren ein eifriger Allgemeinpraktiker daran ging, mich von der Verstopfung eines Gehörgangs zu befreien, lief so ziemlich alles schief, was in dieser Situation schieflaufen konnte. Ich verliess seine Praxis mit einem geplatzten Trommelfell, einem ärztlich gesetzten Infekt und einem Trauma der Gehörknochen.
Heute höre ich auf der betroffenen Seite noch etwa 50 Prozent. Offenbar gibt man das in Fachkreisen in Prozenten an. Ich habe nie daran gedacht, den Täter zur Rechenschaft zu ziehen – zu welcher Rechenschaft denn? Nach etwas Insistieren hat er seinen Fehler ja off the record eingestanden. Erst als einige beigezogene Kollegen ihn zu decken versuchten, habe ich kurz mit dem Gedanken gespielt, ihn zu verklagen.
Die physische Beschädigung heilte schnell aus. Zuerst glaubte ich, recht gut wiederhergestellt zu sein. Dann auf einmal war etwas zu vernehmen, das ich zuvor nur bei hohem Fieber gehört hatte: ein Geschehen meines Innern, das alles, was von aussen zu mir vordrang, aufmischte und verzerrte: ein Gellen und Zischen, ein Brausen vieler Pfeiftöne und darunter ein fernes Schollern. Ich fühlte mich wie ein Ein-Mann-Orchester, dessen einzige Aufgabe es war, die Reize der Umwelt mit markanten Fehltönen zu parieren.
Nun hatte ich leider zugleich auch Ohren, und die begann ich mehr und mehr zu spitzen wider mich selbst. Tage- und wochenlang war ich ganz Ohr, von Kopf bis Fuss auf Fehlklang eingestellt. Auch der Alltag mit seinen Zugbremsen, Fräsen und Laubbläsern war wie geschaffen, mir die volle Kakophonie in Hi-Fi zu bieten. Und mein Inneres bewies dabei kongeniale Helfergaben.
Ein Monster-Teleskop für Fehltöne
Diese Disposition verstärkte vor allem den störenden Teil – als wäre ich ein Monster-Teleskop für alle Fehltöne dieser Welt. Die waren derart aggressiv, dass ich kaum noch schlief. So offen waren meine Ohren über dem Abgrund der vereitelten Stille, dass mein Verstand und mein Selbstgefühl darin verschwanden. Je weniger ich schlief, desto angespannter verfolgte ich das bunte Treiben zwischen meinen Ohren. Dabei entsprach das äussere Geschehen meinem Innenbild: Wie Du lebte ich in einer Gesellschaft, die vor dem selbstproduzierten Lärm flieht – in die Berge, zum Meeresgrund, ins Meditationszentrum, sogar ins All, wo die Stille auf der Raumstation absolut sein soll.
Einen Monat später sass ich beim Notfallpsychiater. Meine Partnerin hatte mich aus Sorge hingefahren, denn ihr war klar, was mir inzwischen entglitten war: Erst wenn ich eine Nacht durchgeschlafen hätte, wäre ich wieder ich selbst, jene Person, die gerade im Begriff war, sich in Parallelwelten der Selbstresonanz und Hyperakusis zu verlieren.
Ich weiss nicht, wie viel das alles zu tun hat mit dem, was Du, lieber Tony, gerade erlebst, nur etwas will ich Dir ans Herz legen: Hör auf, hinzuhorchen! Durchbrich die Anspannung, leg eine Pause ein und zerstreue deinen Geist. Ich weiss, das sagt sich leicht, und es klingt entsetzlich banal. Und ich weiss, Menschen wie wir hegen Vorbehalte gegen jede Zerstreuung. Ich muss nun an einen der vielen Spezialisten denken, der zu mir sagte: Gehen Sie mit diesen Lärm so um, wie Sie mit Ihren Schuhen umgehen. Ist Ihnen in diesem Augenblick etwa bewusst, dass Sie Schuhe tragen? Nein, Sie vergessen sie. – Darüber lachte meine Liebste nur und sagte: Aber wenn er drückt?
Trotzdem, lieber Tony, halte ich Zerstreuung jetzt für richtig. Denn eines ist gewiss: Wenn diese Zeit ausgestanden ist, wirst Du wieder Zeit genug finden, Dich zu sammeln und in Dich zu gehen.
Du schreibst, Du würdest das Wort Hörsturz geflissentlich meiden, was ich als gutes Zeichen deute: Dieser Begriff sei furchterregend – «als ob wir eine Warnung missachtet hätten und ins Meer gestürzt wären, gestrandet im Orkus der Fehltöne».
Der Lärm von innen als Angstphänomen
Von vielem, was helfe, wird man Dir jetzt vielstimmig berichten, ich weiss: Salbeiumschläge, Tautreten, Gurkendiät, Inhalieren in Höhenlagen … Dabei hilft nur eines, das aber zuverlässig: die Zeit, die verstreicht. Stell Dir vor, wenn ich mich heute, bald siebzehn Jahre nach dem missglückten Eingriff, frage, wie es Dir geht, und dabei in mich hineinhorche, höre ich es wieder, das kratzbürstige Haustier in meinem Kopf. Es ist noch da, die Jahre haben ihm nichts angehabt – und ich bin fast schockiert, wie laut es sich gebärdet. Doch bei aller Schärfe erinnert es an nichts Traumatischeres als die Verletzung selbst. Hätte es aber den Vorfall in der Praxis nicht gegeben, würde ich vielleicht darüber nachgrübeln, ob das alles ein Zeichen sei, das es zu deuten gelte. Tu das bitte nicht, Tony. Such stattdessen einen Weg, wie daran vorbeizuleben ist. Man kann da alles hineinlegen oder nichts, beides führt nirgends hin. Der Tinnitus mag lärmig sein, aber er schweigt. Dort liegt der Schlüssel für den Versuch, die Stille wiederzugewinnen.
Trotzdem finde ich es bis heute erstaunlich, dass es gelingt, etwas so Lautes zu überhören. Wollte ich nicht zeitlebens das Gegenteil eines Weghörers sein? Und nun sichert dieses Kabinettstück der (Nicht-)Wahrnehmung den Burgfrieden meiner Existenz – und erinnert an einen Umstand, den die Neurowissenschaften beschreiben: Offenbar müssen Moment für Moment Abertausende von Impulsen in einem Hirn unterdrückt werden, damit der Mensch sich einigermassen gesellschaftsfähig benehmen kann.
Hausgeist des Körpers
Zumindest was meine Ohrgeräusche betrifft, bin ich also ein erfolgreicher Verdränger. Das mag auch dem Umstand zu danken sein, dass die Angst von mir gewichen ist. Als Mittler-Dämon zwischen Reiz und Wahrnehmung kann der Tinnitus ja sehr unheimlich werden. Seine Ursachen sind eher selten physiologisch dingfest zu machen. Wie aus dem Nichts schwingt er sich auf; ohne Auslöser in der beobachtbaren Welt koppelt er sich mit der Angst, und aus der Anomalie wird Terror. Denn bei seiner Wahrnehmung fallen Subjekt und Objekt zusammen: Mein eigenes Nervensystem bringt ihn hervor, und in einem regelrechten Belagerungszustand wird er zum Hausgeist des Körpers, zum Schlossgespenst der Seele. Höre ich ihn, höre ich mich selbst. Je enger er mir auf die Pelle rückt, desto mehr fürchte ich den endgültigen Verlust der Stille in meinem Leben, desto ängstlicher horche ich in mich hinein. (Schon diese Wendung zeigt die Verzwicktheit der Situation: Wie soll ich «in mich hineinhorchen», etwa von ausserhalb meiner selbst? Als Urheber oder als wahrnehmende Instanz?)
In diesem Dilemma scheint das vermeintliche Aussen von innen zu kommen. Diese Selbstwahrnehmung allerdings, und das ist die versöhnliche Gewissheit der Situation, wird sich laufend überlagern und vermischen mit Fremdwahrnehmungen. Deshalb, lieber Tony, hoffe ich, dass es Dir gelingt, Dich zu überhören – auf dasjenige hin, was um dich ist. Zuerst für kurze, dann für immer längere Zeit. Bis Du einmal wieder ganz draussen bist, am Horizont des Hörbaren, um von dort peu à peu zu Dir, zum Epizentrum zurückzukehren.
Ich weiss, das ist leicht gesagt. Und es klingt so, als wollte ich Dich zu einem Baron Münchhausen machen, der sich am eigenen Schopf aus dem Morast zieht. Ja, warum nicht, wenn es hilft? Nur eins versprich mir: Bei der nächstbesten Gelegenheit, wenn Du das Lärmzuchthaus verlassen kannst, spielst Du wieder auf, wie nur Du es kannst. Um aus der Stille hinter den Klängen ein neues Kunstwerk zu machen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ihre Meinung
Lade Eingabefeld...