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PFAS-Vereinsmitglieder aus Kallinge deklarieren ihre PFAS-Werte. © PFAS Föreningen

Ein schwedisches Dorf ertrinkt in PFAS

Daniela Gschweng /  Die Bevölkerung von Kallinge hat grosse Mengen PFAS im Blut. Die Behörden beruhigten, die Betroffenen gingen vor Gericht.

Anfangs spielte die Verwaltung die Sache herunter. Es handle sich um harmlose Substanzen im Trinkwasser, man wechsle deshalb den Wasserversorger. Eine Gefahr bestehe nicht, sagte die Verwaltung Ende 2013. Die Bewohnerinnen und Bewohner des schwedischen Städtchens Kallinge hatten jahrzehntelang belastetes Wasser getrunken.

Die Menschen in dem 4600-Personen-Städtchen in der Gemeinde Ronneby machten sich dennoch keine Gedanken. «PFAS» war 2013 noch kaum jemandem ein Begriff. Die Chemikalien im Wasser stammten vom nahegelegenen Luftwaffenstützpunkt. Bei Feuerlöschübungen waren sie beinahe täglich im Boden versickert – jahrelang. Eine Frau erinnert sich, wie sie als Kind mit dem Velo durch die Schaumreste fuhr, beschreibt der «Guardian» in einer Reportage.

Tausendmal mehr PFAS im Blut, als sicher ist

2014 liess die Gemeinde die Kinder testen, dann die Erwachsenen. Die Gemeinde versuchte weiter, Bedenken zu zerstreuen. Es gebe keinen Grund, weshalb jemand krank werden sollte, schrieb sie in einer Pressemitteilung.

PFAS (per- und polyfluorierte Kohlenstoffe),

auch als PFC (Poly- und Perfluorcarbone) bezeichnet, sind künstliche Chemikalien, die nicht natürlich vorkommen. Sie machen Oberflächen gleitfähig, wasser- und fettabweisend und werden in der Industrie verwendet. PFAS sind sehr stabil, zerfallen in der Natur quasi nicht und werden auch als «ewige Chemikalien» bezeichnet. Für einzelne Substanzen aus der etwa 5000 bis 15’000 Chemikalien umfassenden Stoffklasse ist belegt, dass sie Krebs auslösen, das Hormonsystem, die Fruchtbarkeit und das Immunsystem beeinflussen und weitere Krankheiten auslösen können. Die Nutzung einzelner PFAS ist verboten. In der EU gibt es Bestrebungen, die gesamte Stoffklasse von der Nutzung auszunehmen. Zum Infosperber-Dossier PFAS.

Als die Ergebnisse der Bluttests zurückkamen, waren viele schockiert. Sein PFAS-Spiegel sei wenigstens neunmal höher gewesen als der von Menschen ausserhalb des Orts, sagt der IT-Manager Herman Afzelius, der 2002 nach Kallinge gezogen war. Das sei noch wenig. Bei einigen Einwohnern seien tausend Mal mehr PFAS im Blut gefunden worden, als heute als sicher gelte, schreibt der «Guardian».

Die Bevölkerung verklagt den Wasserversorger – und verliert

Die PFAS-Werte im Wasser waren die bisher höchsten in Trinkwasser entdeckten Werte überhaupt. Afzelius wurde zur treibenden Kraft. Er gründete eine Facebook-Gruppe und lud Experten der schwedischen Lund-Universität sowie Vertreter der Streitkräfte und der Gemeinde zu einer Versammlung ein. Dann rief er mit anderen Einwohnern einen PFAS-Verein ins Leben.

Schon in der ersten Sitzung beschlossen die sechs Gründungsmitglieder, ihr Anliegen vor Gericht zu bringen. 165 Kläger kamen zusammen. Einige sprangen aus finanziellen Gründen wieder ab. Es sei schwierig, die Streitkräfte oder die eigene Gemeinde zu verklagen, speziell dann, wenn man dort angestellt sei, erklärt Afzelius.

2021 wurde das Urteil gefällt – zugunsten der Kläger. Aber schon 2022 kassierte ein Berufungsgericht den Urteilsspruch wieder. Ein direkter Zusammenhang zwischen der PFAS-Belastung des Wassers und der Krankheit einer Person sei nicht nachvollziehbar, urteilte das Gericht. Zusätzlich zu ihren eigenen Kosten mussten die Kläger nun auch die Kosten der Gegenpartei tragen – bis zu zehntausende Franken pro Haushalt. «Wir fühlten uns völlig im Stich gelassen», sagte Afzelius gegenüber dem «Guardian». Sie seien für den Rest ihres Lebens vergiftet und müssten dafür bezahlen.

Warum PFAS-Klagen so schwierig sind

Einige Kläger verzichteten auf weitere juristische Schritte. Die verbliebenen sechs Board-Mitglieder des Vereins beschlossen, ihre Klage an das höchste schwedische Gericht weiterzuziehen. Ein Anliegen, das juristisch schwierig zu werden versprach: Einen Zusammenhang zwischen einer PFAS-Belastung und einer bestimmten Krankheit zu beweisen, ist noch immer fast unmöglich – trotz zahlreicher Studien, die die Schädlichkeit von PFAS nachgewiesen haben.

Diese Schwierigkeit ist auch von vielen anderen Umweltchemikalien bekannt. PFAS sind nicht akut giftig. Eine Krankheit kann erst nach Jahrzehnten auftreten und eine konkrete Ursache-Wirkung-Beziehung ist fast nie zu klären. Tierversuche sind nicht uneingeschränkt übertragbar. Genaue Mechanismen zu erforschen, ist schon deshalb schwierig, weil es keine Kontrollgruppe gibt, die nie Kontakt zu PFAS hatte.

Kallinge als Fallstudie

«Das ist es, womit wir als Epidemiologen zu kämpfen haben. Es ist sehr schwierig, die Kausalität zu beweisen», sagt Christel Nielsen, eine Umwelt- und Gesundheitsforscherin an der Universität Lund. Nielsen forscht seit 2016 zu den Folgen, welche die hohe PFAS-Belastung auf die Menschen in Ronneby hat. Mit den knappen Mitteln, die sie und ihr Team bisher zur Verfügung hatten, veröffentlichten die Forschenden bisher mehr als ein Dutzend wissenschaftliche Arbeiten. Sie fanden unter anderem heraus, dass

Im Herbst 2021 bemerkte Afzelius eine Gewebeverdickung im Arm. Ein Arzt stellte fest, dass es sich um ein entzündliches Leiomyosarkom handelte – eine Krebsart, die so selten ist, dass es nur einige Dutzend beschriebene Fälle gibt. Er fand heraus, dass ein ehemaliger Angestellter der Streitkräfte, der auf dem Luftwaffenstützpunkt gearbeitet hatte, die gleiche seltene Krankheit entwickelt hatte. Zwei Personen aus einer Gruppe von wenigen tausend Personen, die eine extrem seltene Krankheit entwickeln – das ist eine sehr auffällige Häufung.

Zum Krebsrisiko noch keine Daten

Nielsens Daten sagen zum Krebsrisiko bisher allerdings nichts. Eine Studie, die auf der Grundlage von Daten bis 2016 durchgeführt wurde, ergab für das verschmutzte Gebiet «kein übermässiges Risiko für alle Krebsarten», lediglich ein geringfügig erhöhtes Risiko für Nierenkrebs. Aktuellere Daten könnten zu anderen Ergebnissen führen, aber die Mittel seien begrenzt. «Wir wissen, dass die Latenzzeit für Krebs oft mehr als 10 oder 15 Jahre beträgt», sagt die Wissenschaftlerin.

Von den ursprünglich sechs Vorstandsmitgliedern des PFAS-Vereins seien seit 2018 vier an Krebs erkrankt, drei von ihnen unter 50 Jahren. Ein Mitglied ist 2018 an Krebs gestorben. «Die meisten sind nach 2013 erkrankt», sagt Afzelius. «Wir sind nicht einmal Teil der Statistik.»

Sorge um die Kinder

Am meisten Sorgen machen sich Ronnebys Bewohnerinnen und Bewohner aber um ihre Kinder. Dass PFAS Embryonen und Kinder besonders schädigen können, ist bekannt. Über die Plazenta können die Chemikalien auf das ungeborene Kind übergehen. In Nielsens Institut finden sich tiefgefrorene Plazenta-, Muttermilch- und Nabelschnurproben aller Frauen, die zwischen 2015 und 2020 in Ronneby ein Kind geboren haben. Das Wissen, dass sie ihre Kinder unwissentlich vergiftet haben könnten, sei eine schreckliche Belastung für die Eltern, sagt sie.

Die Studien ihres Teams zeigen, dass

  • Kinder in Ronneby mit hoher PFOS- und PFHxS-Belastung eher Sprachentwicklungsstörungen haben – ein Indikator für andere neurologische Entwicklungsstörungen, so Nielsen,
  • die Kinder ein höheres Risiko für angeborene Fehlbildungen, Lebererkrankungen und Krebs aufweisen,
  • sie Probleme mit dem Immunsystem haben. Nielsens neueste Studie deutet darauf hin, dass PFAS-belastete Kinder anfälliger für bestimmte Arten von Infektionen sind, wie etwa Ohrentzündungen. Studien haben bereits gezeigt, dass Impfstoffe weniger anschlagen (Infosperber berichtete).

Seine beiden Töchter seien oft krank zu Hause, sagt Afzelius. Andere Eltern untersuchen ihre Kinder regelmässig auf auffällige Knoten. Einzelne brauchen therapeutische Unterstützung, weil die Unsicherheit ihnen zusetzt. Natürlich könne man dennoch nicht sagen, dass eine Krankheit direkt von PFAS verursacht sei, sagt Nielsen.

Schwedens Oberstes Gericht urteilt: PFAS sind Körperverletzung

Schwedens oberstes Gericht fällte am 5. Dezember 2023 sein Urteil. Der Oberste Gerichtshof entschied endgültig, dass die blosse Anwesenheit von PFAS im Blut eine Körperverletzung darstellt. Unabhängig davon, ob jemand krank ist oder nicht. Das bedeute, dass die Produkthaftung greife. Über Art und Umfang einer Kompensation sei damit nichts gesagt.

Ein bahnbrechendes Urteil. «Der Oberste Gerichtshof musste dafür eine neue Rechtsprechung schaffen», erklärte Markus Segerström, Afzelius› Anwalt. Für den Anwalt ging es damit erst los. Bisher haben 150 Parteien Klage eingereicht. Vom internationalen Fachpublikum wurde der Urteilsspruch genau beobachtet. Ähnliche Fälle gab es bisher nur in den USA, wo bereits Milliarden an Kompensation erstritten wurden.

Ronneby ist der schlimmste bisher bekannte PFAS-Verschmutzungsfall der Welt, aber aber keinesfalls der einzige kontaminierte Ort in Schweden, auch nicht in Europa.

Die Einwohner von Kallinge sind erschöpft. Einige hoffen auf das Medikament Colestyramin, einen Cholesterinsenker, der nach bisherigen Studien die PFAS-Belastung im Blut reduzieren kann. Viele wollten gar nicht mehr darüber reden, sagt eine Einwohnerin. Afzelius will weitermachen. Damit es kein zweites Kallinge gebe, sagt er. Seine Tochter werde im mittleren Alter sein, bevor ihr PFAS-Spiegel auf den eines Durchschnittsschweden sinke – die Halbwertszeit einiger PFAS im Körper beträgt mehrere Jahre. «Und niemand hat die Verantwortung übernommen», sagt er, noch immer ungläubig. «Niemand.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

PFAS.Dossier.M&P

PFAS-Chemikalien verursachen Krebs und können Erbgut schaden

Die «ewigen Chemikalien» PFAS bauen sich in der Natur so gut wie gar nicht ab. Fast alle Menschen haben PFAS bereits im Blut.

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2 Meinungen

  • am 3.07.2025 um 08:21 Uhr
    Permalink

    zit.(«….Der Oberste Gerichtshof entschied endgültig, dass die blosse Anwesenheit von PFAS im Blut eine Körperverletzung darstellt. Unabhängig davon, ob jemand krank ist oder nicht….»).
    Dem ist nichts hinzuzufügen.Dieses Urteil sollte beispielhaft sein – auch für den EuGh! Denn das war schon immer die crux :weil die Beweisführung für die Kausalität «inkorporierte Substanz……Krankeitsbild(er)» große Schwierigkeiten macht, sind Produzenten
    regelmäßig dahinter in Deckung gegangen.

  • am 3.07.2025 um 11:29 Uhr
    Permalink

    Ja, wenn Menschen ‹Sachen konsumieren›, die sie nie wollten/bestellten/kauften und darin eine Beeinträchtigung (welche auch immer) sehen, dann sollte die Beweislast an den ‹Lieferanten, Verursacher› gehen.

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