Tamiflu

Nutzen fraglich: Über 90 Millionen Menschen haben diese Pillen geschluckt © Flickr/ahisgett/cc

Roche wegen Milliarden-Tamiflu am Internet-Pranger

upg /  Wissenschaftlern ist der Kragen geplatzt: Sie haben ihren entlarvenden Briefwechsel mit Roche vollständig ins Internet gestellt.

Das hat es noch nie gegeben: Das «British Medical Journal» (BMJ) hat den jahrelangen Briefverkehr, den das BMJ und Forscher des renommierten Cochrane-Zentrums mit dem Pharmakonzern Roche, der WHO und andern Behörden geführt haben, vollständig als Faksimile ins Internet gestellt. Die Dokumentation «liest sich wie eine Anleitung zum Verschleiern, Tricksen und Täuschen», schreibt die Wissenschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung.

Es geht um Nutzen und Risiken

Gesundheitsbehörden auf der halben Welt kauften für Milliarden Steuergelder Tamiflu ein, um im Falle einer Epidemie einen Teil der Bevölkerung damit versorgen zu können. Diese Behörden hatten die Beweise für den angeblich grossen Nutzen von Tamiflu und die angeblich geringen Nebenwirkungen nicht selber gesichtet, sondern sich mit unvollständigen Unterlagen des Pharmakonzerns begnügt. Das geht aus der detaillierten Dokumentation hervor, die das BMJ ins Internet gestellt hat.

Als die Schweinegrippe-Pandemie die Bevölkerung 2009 verunsicherte, hatte die WHO und eine US-Behörde Tamiflu als Mittel der Wahl empfohlen. Schon damals bezweifelten unabhängige Forscher des Cochrane-Forschungszentrums, dass dieses Grippemittel mehr als einen bescheidenen Nutzen hat. Als einzigen dokumentierten Nutzen anerkannten sie, dass die Influenza-Grippe im Durchschnitt 21 Stunden weniger lang dauert, sofern man Tamiflu sofort nach Auftreten der ersten Symptome einnimmt. Die Cochrane-Forscher verlangten von Roche die vollständigen Studien, die beweisen, dass das Grippemittel von grösserem Nutzen ist und keine schweren Nebenwirkungen hat. Doch bis heute behält Roche die wichtigsten Unterlagen zu Wirkungen und Nebenwirkungen unter Verschluss.
Das Cochrane-Zentrum beurteilt Nutzen und Risiken von Medikamenten aufgrund von wissenschaftlichen Evidenzen. Ohne vollständige Unterlagen von Roche war dies nicht möglich. Wiederholte Anfragen beantwortete Roche mit Ausreden wie «Wir sind gerade selbst mit der Auswertung beschäftigt» oder «Sie haben doch schon etwas bekommen», oder «Wir sorgen uns um den Datenschutz»: Alles nachzulesen in der Korrespondenz mit Roche, der WHO, der US-Behörde sowie der EU-Medikamentenbehörde EMA im Internet**. Nach Durchsicht der ganzen Korrespondenz musste Cochrane-Forscher Peter Doshi feststellen: «Die US-Behörden und die WHO haben Roche nicht einmal nach allen Studienunterlagen gefragt.»

Irreführung der Swissmedic

Dies hat auch die Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic nicht getan. Die Schweizer Aufsichtsbehörde hatte auf eine Frage vom Dezember 2009 erklärt, sie verfüge über «alle Unterlagen», namentlich auch über die Roche-Studien, die den behaupteten Nutzen bei Lungenentzündungen betreffen. Swissmedic behauptete also, Nutzen und Risiken von Tamiflu besser überprüft zu haben als die FDA und andere Bewilligungsbehörden. Doch heute krebst Swissmedic zurück und räumt ein, dass «tatsächlich der irreführende Eindruck entstehen konnte, Swissmedic verfüge – im Gegensatz zur Cochrane-Gruppe – über alle erwähnten Studien».

FDA verbot Anpreisungen

Weil Roche den Nachweis des behaupteten Nutzens nicht erbringen konnte, hat die US-Aufsichtsbehörde FDA dem Schweizer Konzern schon vor mehr als zehn Jahren verboten, weiterhin zu behaupten, dass
• Tamiflu bei Grippe die Ansteckungsgefahr verringere,
• das Risiko von Komplikationen senke, und
• zu weniger Spitaleinweisungen führe.
Trotzdem macht Roche ausserhalb der USA mit diesen Argumenten weiterhin für Tamiflu Werbung. Der Konzern halte sich an das, was die Behörden der jeweiligen Länder erlauben, erklärt Roche-Sprecher Daniel Grotzky.

«Vertraulichkeitserklärung» hätte geheim bleiben sollen
Das Cochrane-Zentrum sei selber schuld, dass sie die gewünschten Daten nicht erhalten habe, meint Roche. Denn die Cochrane-Forscher hätten sich geweigert, eine «Vertraulichkeitserklärung» zu unterzeichnen. Den Wortlaut der verlangten Erklärung wollte Roche auf Anfrage jedoch nicht bekannt geben. Doch sie ist jetzt im Internet veröffentlicht: Es geht nicht um Patientendaten, wie Roche suggeriert, sondern schon eher um einen Maulkorb. Die Cochrane-Forscher hätten nicht einmal bekannt machen dürfen, dass eine solche Vertraulichkeitserklärung existiert, auch nicht informieren dürfen über die blosse «Tatsache, dass Verhandlungen stattfinden», und schon gar nicht über «den Inhalt der Verhandlungen», sofern Roche nicht ausdrücklich damit einverstanden ist.
Mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte von Patienten hat die Erklärung wenig zu tun, denn Cochrane verlangte nur Studien mit anonymisierten Daten, wie Peter Doshi von Cochrane versichert. Hans-Georg Eichler von der Europäischen Medikamenten-Zulassungsstelle EMA erklärt sich einig mit Peter Doshi von Cochrane: «Klinische Studien dürfen nicht als Geschäftsgeheimnis behandelt werden». Die Studien müssen nach internationalen Standards erfolgen und wissenschaftlich reproduzierbar und kontrollierbar sein.

Sieben Milliarden Umsatz – keine Daten zur Unbedenklichkeit
Vor sieben Jahren hatte Professor Gianfranco Domenighetti, der damals im Tessiner Gesundheitsdepartement arbeitete, Tamiflu als «politisches Medikament» eingestuft. Er wollte damit sagen, dass die Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic und der Bundesrat beim Tamiflu die Interessen des Pharmakonzerns berücksichtigten (Wachstumsbranche, Arbeitsplätze, politischer Einfluss) und die Evidenz des Nutzens vernachlässigten.
Der damit gewonnene Zeitgewinn hat sich für den Pharmakonzern gelohnt. Mit dem Grippemittel Tamiflu hat Roche bis heute einen weltweiten Umsatz von über sieben Milliarden Dollar erzielt. Nach Angaben von Roche haben über 90 Millionen Menschen Tamiflu geschluckt.

Es geht nicht nur um viel Geld, sondern vor allem um die Gesundheit von Millionen Menschen. Denn die Risiken von Tamiflu könnten grösser sein als dessen bescheidener Nutzen. Die Swissmedic schreibt in ihrer Fachinformation: «Bei der Verabreichung von Tamiflu zur Therapie der Influenza wurden insbesondere bei Kindern und Jugendlichen neuropsychiatrische Störungen wie Konvulsionen und Delirium beobachtet. In seltenen Fällen führten diese Störungen zu ungewollten Verletzungen, in sehr seltenen Fällen mit tödlichem Ausgang…Es liegen keine Daten hinsichtlich Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von Tamiflu bei Patienten vor, deren schlechter oder instabiler Gesundheitszustand eine Krankenhauseinweisung erforderlich machen könnte.»
Ob die Risiken von Tamiflu grösser sind als dessen Nutzen, dürfen unabhängige Forscher wie die des Chochrane-Zentrums nicht überprüfen.

Jetzt hat die britsche Medizinzeitschrift BMJ eine «Open Data Campaign» für mehr Transparenz mit Studiendaten gestartet. In einem offenen Brief an Roche, in dem das BMJ einmal mehr kritisiert, dass die wichtigsten Daten zum Bestseller-Medikament noch immer fehlen, fragt Chefredaktorin Fiona Godlee rhetorisch: «Was hat Roche zu verstecken?».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor vertritt die Patienten und Prämienzahlenden in der Eidgenössischen Arzneimittelkommission.

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3 Meinungen

  • am 28.01.2013 um 19:44 Uhr
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    Die Macht des Konzernes Roche…

    Es sind nicht nur die sieben Milliarden Gewinn die die Konzernchefs betören, es ist die Macht Millionen Menschen zu beeinflussen und die Macht entscheiden welche Mittel lohnenswert sind und mit bwelchen Mittel sich mehr verdiennen lässt. Provokative These: lohnt sich Forschung dort voran treiben wo wirklich bahnbrechende Resultate möglich wären? Ich glaube nicht, da wären etliche wenig nützliche Heilmittel doch sofort wertlos…

  • am 30.01.2013 um 21:11 Uhr
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    Der Autor Urs P. Gasche ermöglicht mit seinem Beitrag einen nahezu unverstellten Blick auf die » Spitze eines Eisberges » von bisher unbekanntem Volumen .
    Ein Vorgang von globaler Stringenz .- Uwe Dolata als Sprecher des Landesverbandes Bayern im Bund Deutscher Kriminalbeamter ermittelte im Pharmabereich mafiöse Strukturen . Der Autor Kurt G. Blüchel versieht sein Buch > Heilen verboten Töten erlaubt< mit dem Untertitel : » Organisierte Kriminalität im Gesundheitswesen «.
    Die Massenmedien verharren – wie immer , wenn es um potente Kunden geht – in einem von «interessierter Seite» verordneten Koma . – Warum läßt sich nicht ausschließen , daß möglicherweise politische Mandatsträger dabei diskret » Schmiere stehen » ?

  • am 7.03.2013 um 17:38 Uhr
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    Zwei Anschluss fragen: welche Konsequenzen zieht Swissmedic aus der Täuschung der Roche? Und fechten Bund und Kantone, die Tamiflu gekauft haben, diese Verträge zum nun an (und wenn nein, warum nicht)? Bei absichtlicher Täuschung beträgt die Frist 1 Jahr ab dem Zeitpunkt der Entdeckung. Das wäre in diesem Fall die oben erwähnte Veröffentlichung.

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