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Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister © cc

«Das Kapital ist ein nimmersattes Tier»

Red. /  Die Unternehmen sind nicht interessiert, in Fabriken zu investieren. Die Politik könnte das ändern, sagt Stephan Schulmeister.

Red. Stephan Schulmeister ist ein österreichischer Wirtschaftsforscher, der die heutige Wirtschaftspolitik ohne Scheuklappen hinterfragt. Unter den heutigen Bedingungen glaubt Schulmeister nicht an einen Aufschwung. In den vergangenen 30 Jahren habe die Politik die Anreize nach und nach so verschoben, dass es für Unternehmen oft lukrativer sei, mit ihrem Geld zu spekulieren, als damit neue Maschinen und Anlagen zu kaufen. Folgendes Interview erschien in der «Mitteldeutschen Zeitung».

Herr Schulmeister, das Jahr geht zu Ende, die Zeit der Vorhersagen bricht an. Nächstes Jahr wird Europas Wirtschaft wieder stärker wachsen, sie lässt die Krise hinter sich...

Das halte ich für unwahrscheinlich. Die europäische Wirtschaft ist derzeit in einer klassischen Depression. Und aus der kommt sie nicht heraus, wenn die Regierungen so weitermachen wie bisher.

Wie bitte? Depression? Sie widersprechen damit allen grossen Wirtschaftsforschungsinstituten.

Das verunsichert mich nicht im Geringsten. Führende Institute wie die OECD prophezeien seit sechs Jahren für das jeweils folgende Jahr eine Erholung. Und dann kommt der Aufschwung doch nicht. Die Prognosen sind regelmässig zu optimistisch.

Aber es gibt doch derzeit immerhin ein bisschen Wachstum.

Ich schaue nicht nur auf die momentane Situation, sondern auf die mittelfristige Wachstumsrate, und die bewegt sich um die Nulllinie. Die Wirtschaftsleistung in der Eurozone ist heute immer noch niedriger als im Jahr 2007.

Mag sein. Aber warum sprechen Sie gleich von einer Depression? Das klingt dramatisch.

Europa ist in einer klassischen Depression, weil sich die einzelnen Sektoren wechselseitig blockieren. Die Privathaushalte geben nicht mehr Geld aus, weil die Arbeitslosigkeit hoch ist und die Menschen insgesamt wenig Vertrauen in die Zukunft Europas haben. Wir sind von dem Grundoptimismus der 1960er-Jahre meilenweit entfernt. Deshalb stagniert der Privatkonsum. Das wiederum ist ein Grund dafür, dass Unternehmen wenig investieren. Und die Regierungen sagen: Wegen der prekären Staatsfinanzen können wir auch keine Initiativen ergreifen.

In Deutschland steigt aber der Privatkonsum. Viele Beschäftigte können mehr kaufen, weil sie höhere Gehälter erhalten und gleichzeitig die Preise für Verbrauchsgüter nahezu stabil sind. Die Inflationsrate liegt gerade einmal bei 0,4 Prozent.

Das ist richtig, aber wieder nur eine Momentaufnahme. Die Reallöhne in Deutschland sind ein wenig gestiegen, sie liegen aber immer noch auf dem Niveau der 1990er-Jahre! Es gab Jahre mit leichten Zuwächsen, dann ging es aber auch wieder abwärts. Und dass wir jetzt in Deutschland am Beginn eines kräftigen Aufschwungs stehen, ist eher unwahrscheinlich.

Erklären Sie das bitte noch einmal, wir haben es nicht verstanden.

Der Kapitalismus entfaltet seine Dynamik dann, wenn Unternehmen kräftig investieren. In Deutschland und in der gesamten Eurozone sind die Realinvestitionen aber auf einem desaströsen Pfad. Sie liegen derzeit etwa 30 Prozent unter dem Niveau von vor der Finanzkrise. Wenn Firmen kaum neue Fabriken bauen, wenn sie kaum neue Maschinen anschaffen, um ihre Produktivität zu erhöhen, dann entstehen auch kaum neue Arbeitsplätze. Dass die Produktivität kaum noch steigt, ist ein Problem in fast allen Industrieländern.

Die Investitionsschwäche sehen fast alle Ökonomen als Problem. Als Gegenmittel werden Strukturreformen empfohlen, zum Beispiel flexiblere Arbeitsmärkte oder Steuersenkungen. So sollen Investitionen wieder rentabler werden.

Das wird das Grundproblem nicht beheben. Denn erstens ist – wie gesagt – die Nachfrage zu schwach. Zweitens stimmen ganz prinzipiell die Profitanreize nicht. In den vergangenen 30 Jahren hat die Politik die Anreize nach und nach so verschoben, dass es für Unternehmen oft lukrativer ist, mit ihrem Geld zu spekulieren, als damit neue Maschinen und Anlagen zu kaufen.

Die Finanzmärkte wurden liberalisiert, die festen Wechselkurse aufgegeben, Finanz-Derivate geschaffen, der Hochfrequenzhandel erlaubt. Dadurch wurden unendlich viele Möglichkeiten geschaffen, mit Spekulationen hohe Gewinne zu machen. Gleichzeitig wurde das Wirtschaftswachstum schwächer. Für Unternehmen wurde es schwieriger, mit der Ausweitung der Produktion hohe Gewinne zu erzielen. Also verlagerte sich ihr Gewinnstreben auf die Finanzmärkte. Das Kapital ist nun einmal ein nimmersattes Tier, das dorthin geht, wo es am meisten zu fressen gibt.
Spekulieren ist aber auch nicht immer von Erfolg gekrönt.

Natürlich. Die Frage ist, wo Unternehmen höhere Gewinnchancen sehen? Und die sehen sie oft auf Finanzmärkten. Aktien zu kaufen, hat für Unternehmen noch einen Vorteil: Sie bleiben liquide, weil sie Aktien jederzeit wieder verkaufen können. Wenn sie eine Maschine anschaffen, ist das Geld dagegen erst einmal gebunden. Die Finanzspekulation ist aber nicht nur attraktiver als die Realinvestition – sie verschlechtert auch die Investitionsbedingungen in der realen Sphäre.

Wie das?

Gehen Sie mal in die Handelsräume und reden mit Tradern. Da gibt es Händler, die halten eine Aktie für völlig überbewertet. Dann sehen sie auf ihrem Bildschirm, dass irgendwo auf der Welt die Post abgeht und die Aktie plötzlich in die Höhe schiesst. Also kaufen sie für fünf Sekunden ein Aktienpaket und machen damit einen Gewinn. Solche Spekulationen lassen die Preise von Aktien, aber auch von Rohstoffen stark schwanken. Diese Schwankungen schaffen Spekulationsgewinne, hemmen aber gleichzeitig Investitionen in die Realwirtschaft, weil Unternehmen weniger Planungssicherheit haben. Wenn der Ölpreis mal nach unten, mal nach oben schiesst, ist es für Firmen extrem schwer abzuschätzen, ob es sich lohnt, Geld in Energieeffizienz zu stecken.

Woran erkennen Sie, dass sich das Gewinnstreben auf die Finanzmärkte verlagert hat?

Seit mehr als zehn Jahren nehmen die Unternehmen in Industrieländern netto keine Schulden mehr auf, um mit dem zusätzlichen Geld zu investieren. Stattdessen häufen sie Finanzkapital an, etwa in Form von eigenen oder fremden Aktien, Bargeld oder Fondsanteilen. Mit dem Kapital können dann auch milliardenschwere Firmenkäufe finanziert werden.

Was kann die Politik tun, damit Unternehmen mehr investieren und es zu einem Aufschwung kommt, von dem auch die Bürger profitieren?

Die Politik muss die Spielanordnung ändern. Finanzspekulationen müssen unattraktiver werden. Man könnte zum Beispiel festlegen, dass der Preis von Aktien nur noch alle zwei Stunden festgelegt wird, und zwar durch elektronische Auktionen. Dann wäre das ganze Millisekunden-Geschäft weg, mit dem man aus Geld mehr Geld machen kann. Gleichzeitig muss die Politik Realinvestitionen attraktiver machen. Wir haben doch genug Probleme, die man anpacken könnte. Deutschland könnte beispielsweise sagen, wir machen jetzt Ernst mit dem Klimaschutz, wir lassen den gesamten Gebäudebestand über 15 Jahre sanieren und unterstützen dafür private Investitionen. Das würde ziemlich viele Arbeitsplätze schaffen.

Sie plädieren also dafür, die Binnennachfrage zu stärken?

Eine Wirtschaft kommt nur durch mehr staatliche Aktivität und die Stärkung der Binnennachfrage aus einer Depression heraus. Das lehrt die Geschichte. Die Nationalsozialisten haben die Wirtschaft durch Aufrüstung und Krieg angeschoben. Es gab aber auch zivile Wege. Der deutsche Reichskanzler Bismarck hat in den 1880er-Jahren den Sozialstaat gegründet und so eine Phase der Prosperität eingeläutet. Franklin D. Roosevelt hat die USA in den 1930er-Jahren mit dem New Deal aus der Weltwirtschaftskrise geführt. Die Regierung hat die Finanzmärkte reguliert, Sozialleistungen eingeführt und den Wohnungsbau gefördert.

In der Eurozone werden auch hier und da Investitionsprogramme aufgelegt. Der Handlungsspielraum der Staaten ist aber stark begrenzt, weil sie sich im Fiskalpakt dazu verpflichtet haben, nur wenig neue Kredite aufzunehmen.

Der Fiskalpakt ist eine Katastrophe. Er ist so konstruiert, dass er die Staaten zu einer rigiden Sparpolitik zwingt, die die wirtschaftliche Entwicklung abbremst. In seiner konkreten Ausgestaltung widerspricht dieses Regelwerk fundamental dem europäischen Sozialmodell.

Wie kommen Sie auf diese Idee?

Der Fiskalpakt erlaubt zwar im Prinzip, dass die Staaten in einer Krise mehr Geld ausgeben dürfen, um Arbeitslose zu unterstützen oder Investitionsprogramme aufzulegen. Aber wann liegt eine Krise vor? Wenn die aktuelle Arbeitslosenrate weit über dem liegt, was man strukturelle Arbeitslosenrate nennt. Jetzt kommt der Clou: Die EU schätzt die strukturelle Arbeitslosenrate so, dass sie immer der tatsächlichen folgt, starke Abweichungen werden weggeschätzt und damit auch die Krise!

Das heisst konkret?

Derzeit liegt die strukturelle Arbeitslosigkeit in der Eurozone laut EU bei fast zehn Prozent. Das ist ein Skandal. Das bedeutet nämlich: Die EU geht davon aus, dass die Arbeitslosenquote auch dann zehn Prozent beträgt, wenn die Wirtschaft normal läuft und ihr sogenanntes Produktionspotenzial ausgeschöpft ist. Die Folge: Bei einer aktuellen Arbeitslosenquote von zehn Prozent dürfen Staaten nicht mehr Geld ausgeben, um die Wirtschaft anzukurbeln, damit neue Jobs entstehen. Diese Arbeitslosen hat die EU abgeschrieben und für derzeit nicht brauchbar erklärt.

Damit hätte die EU fast alle Erwerbslosen abgeschrieben. Die Quote liegt ja zurzeit bei 10,7 Prozent.

Genauso ist es, und es geht noch weiter: Die EU unterstellt, dass die strukturelle Arbeitslosigkeit nur durch sogenannte Strukturreformen gesenkt werden kann. Also durch Abschaffung von Tarifverträgen, niedrigere Löhne und weniger Arbeitslosengeld. Das sind keine theoretischen Erwägungen, das ist praktische Politik, die die EU in Staaten wie Griechenland und Spanien durchgesetzt hat.

Wird die Sparpolitik wenigstens dazu führen, dass die Staatsverschuldung sinkt?

Es ist ein Irrglaube, dass ein Staat allein mit Sparen seine Verschuldung abbauen kann. Grossbritannien hat in den vergangenen Jahren die Ausgaben ziemlich stark begrenzt. Dennoch ist die Staatsschuldenquote gemessen am Bruttoinlandsprodukt von 45 auf 90 Prozent gestiegen. Das Land hat sich mit seiner Sparpolitik eine Doppel-Rezession eingehandelt. Und in der Rezession sinken die Steuereinnahmen, da kann man dann keine Schulden abbauen.

Die EU will ja auch die Wirtschaft ankurbeln. Sie setzt aber – nach dem Vorbild Deutschland – weniger auf staatliche Impulse und die Stärkung des Binnenmarkts, sondern mehr auf die Exporte.

Diese Strategie kann eine Zeit lang für ein Land wie Deutschland funktionieren. Ich halte es aber für ausgeschlossen, dass man so die gesamte europäische Wirtschaft aus der Krise führen kann. Die Eurozone exportiert bereits fast 30 Prozent ihrer produzierten Waren in andere Weltregionen. Nunmehr ist die Eurozone die Weltregion mit den weitaus höchsten Leistungsbilanzüberschüssen. Es ist unrealistisch zu glauben, dass andere Weltregionen immer noch mehr Waren aus Europa kaufen. Denn die Wachstumsraten in China, Brasilien und Russland gehen markant zurück.

Was passiert, wenn alles so weiterläuft wie bisher?

Es gab in der Geschichte schon öfter Gesellschaften, in denen das Gewinnstreben immer stärker auf die Finanzmärkte verlagert wurde. Die holländischen Republiken mit ihren Tulpenspekulationen im 17. Jahrhundert sind das älteste Beispiel. Solche Systeme haben sich am Ende immer selbst zerstört. Ich halte es deshalb für wahrscheinlich, dass es noch mal zu einem Finanzcrash kommt, bei dem Vermögen in grossem Stil zerstört wird. Vielleicht denkt die Politik danach um.

Das Gespräch für die «Mitteldeutsche Zeitung» führten Stephan Kaufmann und Eva Roth.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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3 Meinungen

  • am 28.12.2015 um 19:42 Uhr
    Permalink

    In einem Punkt bin ich mit Stephan Schulmeister voll einverstanden: Man sollte die Spielzeugkiste der Börsianer radikal ausmisten und den ganzen Finanzsektor kräftig gesundschrumpfen. Der Finanzsektor hat sich weit über das, was für die reale Wirtschaft nützlich ist, aufgebläht.

    Ich finde es allerdings etwas befremdlich, wie Schulmeister das Heil ausschliesslich im sogenannten Aufschwung sucht. Ist ein zu tiefes BIP denn tatsächlich das grösste Problem der reichen Schweiz? Werden wir glücklicher, wenn wir noch mehr konsumieren?

    Die Arbeitslosigkeit allerdings ist ein reales Problem. Aber ist es wirklich gottgegeben, dass nur Wirtschaftswachstum dagegen hilft? Und ist so viel Wirtschaftswachstum, wie zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit nötig wäre, überhaupt machbar? Ein Blick in die Realität lässt daran zweifeln. Die frühindustrialisierten Länder erreichen seit vielen Jahren notorisch nicht die Werte, die gemäss ökonomischer Lehrmeinung nötig wären.

    Grosse Teile der Ökonomie belegen sich seit Jahren mit einem umfassenden Denkverbot.
    Die Frage, was wäre, wenn sich unsere heutigen Probleme nicht mehr mit Wachstum lösen liessen, ist tabu. Für die einzelne Person ist zwar erwiesen, dass irgendwo genug ist, und mehr Konsum darüber hinaus nicht glücklicher macht. Dies auf den volkswirtschaftlichen Rahmen zu übertragen steht aber auf dem Index der verbotenen Ideen.

  • am 29.12.2015 um 09:05 Uhr
    Permalink

    Ich teile Ihre Ansicht. Hanspeter Guggenbühl und ich hatten im Buch «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für eine Umkehr» aufgezeigt, dass die Probleme Arbeitslosigkeit und Sozialversicherungen nicht mit mehr heutigem Wirtschaftswachstum (und noch grösserer Verschuldung) gelöst werden können. Der Versuch, es trotzdem zu tun, führt in eine gefährliche Sackgasse.

  • am 4.01.2016 um 16:46 Uhr
    Permalink

    Grundlagenforschung in Sichtweite ?

    (Zitat ):
    "Das Geld ist für den Tausch entstanden, der Zins aber weist ihm die Bestimmung an, sich durch sich selbst zu vermehren. Daher widerstreitet auch diese Erwerbsweise unter allen am weitesten dem Naturrecht."
    Aristoteles (*384 v.Chr., †322 v.Chr.), griech. Philosoph

    (Ende des Zitates)

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