Kommentar

Brüssel und die reflexartigen Fehler der Politik

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Heiner Flassbeck /  Politiker erklären Terroristen den Krieg. Doch ohne eine radikal andere Politik des Westens ist dieser Krieg schon verloren.

Red. Der 1950 geborene Heiner Flassbeck war deutscher Staatssekretär und von 2003-2012 Direktor der Abteilung für Globalisierung und Entwicklungsstrategien bei der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung Unctad in Genf. Seine Wirtschaftsanalysen veröffentlicht er auf flassbeck.economics.de.

Reflexartig reagiert unsere Politik auf Anschläge wie die gestrigen in Brüssel – und sie reagiert reflexartig falsch. Wir müssen zusammenstehen und den Terrorismus endgültig besiegen, verkünden die Politiker in gebetsmühlenartiger Manier.
Wie schon nach Paris würden sie am liebsten wieder sofort einen Krieg erklären, aber es wäre wiederum ein Krieg gegen einen Gegner, den es nicht gibt. Den Terrorismus, der hier erneut zu Tage tritt, den kann man nicht mit Polizei und Militär bekämpfen, weil seine Ziele beliebig sind und seine Quellen werden ohne eine radikal andere Politik des Westens niemals versiegen.
Ich habe es schon nach den Anschlägen von Paris gesagt und es gilt noch immer: Der Staat kann seine Bürger vor solchen Anschlägen nicht schützen. Er kann nicht jeden Menschen, der vor seine Haustür tritt, daraufhin überprüfen, ob er Waffen oder Sprengstoff bei sich trägt. Und wenn er es mit all denen tut, die pauschal als verdächtig gelten, kreiert er unmittelbar neuen Terrorismus.
Auch die wichtigsten Quellen der Wut und des Hasses bleiben in unserer Hand. Wie viele traumatisierte junge Menschen mögen der Dreck, der Schlamm und die offenkundige Verachtung des Westens für die Not von tausenden von Menschen vor dem Zaun in Idomeni, Griechenland, hervorgebracht haben?
Wie viele werden in den «Auffanglagern» in der Türkei, die doch als entscheidender Durchbruch bei der europäischen Flüchtlingspolitik gelten, abgleiten in eine Welt voller Hass auf all diejenigen, die an ihren Stammtischen und in ihren Bierzelten diesen «Durchbruch» feiern? Man kann die Zahlen fast mit Händen greifen.
Drei Millionen Menschen, zusammengepfercht in der Türkei auf engstem Raum, versorgt nur mit Überlebensrationen, ohne Schule, ohne Studium, ohne Arbeit, ohne Zukunft, hin- und hergeschoben zwischen Staaten wie Vieh, aller Rechte beraubt und der Willkür eines in weiten Teilen undemokratischen Staates ausgesetzt. Wie viele werden sich radikalisieren? Zehn Prozent oder nur ein Prozent?
Selbst wenn es nur ein Promille ist, werden es genug sein, um für viele Jahre den Tod vieler weiterer unschuldiger Menschen in Europa und anderswo zu verursachen. Die Opfer des Terrors sind es, die den Preis für die Unfähigkeit der Politik in Europa und anderswo zahlen, mit verängstigten und traumatisierten Menschen menschlich umzugehen.
Doch statt wenigstens jetzt, nach dem zweiten schlimmen Ereignis in kurzer Zeit, nachzudenken und innezuhalten, flüchten sich die westlichen Politiker wieder in die gleichen sinnlosen Rituale. Sie lesen ihre leeren Statements vom Blatt ab, sie schicken mehr Polizei und Militär auf die Strassen, sie kontrollieren wieder die Grenzen und sie wollen mit Gewalt den Anschein erwecken, diesmal sei alles anders. Nichts ist anders und der nächste Anschlag ist nur eine Frage der Zeit.
Es ist beim Terrorismus wie bei der Flüchtlingsproblematik selbst: Wer nicht den Mut aufbringt, seine eigenen Überzeugungen in Frage zu stellen, wer nicht bereit ist, sich vorurteilslos und ernsthaft mit den Ursachen des Versagens unserer Welt in den Herkunftsländern der Menschen, um die es hier geht, auseinanderzusetzen, braucht auch nichts anderes zu tun. Warum hat gestern nicht ein Verantwortlicher gesagt: So geht es nicht! Wir haben versagt! Wir haben den falschen Krieg erklärt und wir haben ihn verloren!

Dieser Beitrag erschien auf flassbeck-economics.de.


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8 Meinungen

  • am 24.03.2016 um 00:50 Uhr
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    Im Bewusstsein, dass folgender Kommentar ein Fäkaliensturm auslösen könnte, versichernd, dass ich mit meiner ganzen Empathie und Trauer bei den Opfer der Anschläge in Brüssel bin und mein Beileid ihnen gehört, gilt zu beachten: seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien sind mehr als 10% der Bevölkerung Syriens getötet oder gestorben.

    Im Durchschnitt sind es mehr als 250 Tote

    pro Tag! Mit allem Respekt gegenüber den Toten (aktuell 31 bis 34) und Angehörigen von Brüssel: dass ist die grausame Realität. Und die Reaktionen der EU, vor den Gräueltaten in Brüssel, zum Flüchtlingsgipfel nur Wasser auf die Mühlen des Terrors.

    Sehen Sie dazu den Kommentar von Sigmund Gottlieb des Bayrischen Rundfunks: http://bit.ly/1MmNgyK

  • am 24.03.2016 um 11:36 Uhr
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    "Wer Ohren hat, der höre» heißt es in der Bibel. Die ‹traditionelle› Politik hat sich offenbar weitgehend von den Wirklichkeiten abgeschottet. Im letzten Absatz wird m. E. der Hebel beschreiben, der helfen könnte, die verderblichen politischen Leitvorstellungen aus den Angeln zu heben und neue Wege zu eröffnen. Es ist der Ansatz zu einer globalen Politik der Versöhnung, die auf Einsicht und Vernunft beruht und nicht auf globalem Profitstreben und zwischenmenschlicher Ausbeutung. Doch die Wege ins Verderben sind immer gut gepflastert, breit und komfortabel, weil es gut hinkommt, wenn man weitermacht «wie immer». …

  • am 24.03.2016 um 12:06 Uhr
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    «Den Terrorismus, der hier erneut zu Tage tritt, den kann man nicht mit Polizei und Militär bekämpfen.» – Aber sie gehören als ein Puzzleteil im Kampf natürlich schon auch dazu, genauso wie die anderen Rettungskräfte. Ohne sie wäre das Desaster noch grösser punkto Überlebende und Tote. Sollte genauso festgehalten werden (sage ich als pensionierter Feuerwehrmann).

  • am 24.03.2016 um 17:10 Uhr
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    Terrorattacken müssen polizeilich untersucht werden. Sie dürfen nicht gerächt werden, wie es die USA gemacht hat nach dem 11. September 2001.
    Seltsam ist jetzt, dass in Brüssel ein Testament eines der Attentäter gefunden wurde. Die Beamten sollen laut Angaben der Staatsanwaltschaft auf einem Computer im Brüsseler Viertel Schaerbeek ein Testament von Ibrahim El Bakraoui gefunden haben.
    Das erinnert mich daran, dass man auch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA das Testament des Selbstmordattentäters Atta in einem Auto auf dem Flugplatz fand. In den Trümmern des World Trade Center in New York entdeckte man sogar den Pass eines der Terroristen.
    Auch nach der Ermordung der Charlie Hebdo Mitarbeiter fand man einen Ausweis den einer der beiden Mörder verloren hatte. Ein Untersuchungsrichter der an der Untersuchung des Falles Charlie Hebdo beteiligt war, beging Selbstmord. Gerhard Wisnewski dokumentierte den Fall Charlie Hebdo aus seiner Sicht:
    https://www.youtube.com/watch?v=K7T-40_0nAE
    Bei den Bombenanschlägen in London am 5. Juli 2005 fanden am gleichen Tag Übungen statt, die ähnliche Attacken auf das Londoner Verkehrssystem wie sie an diesem Tag stattfanden simulierten, Paul Schreyer dies bei Telepolis.
    http://www.heise.de/tp/artikel/32/32915/1.html
    Alles sehr seltsame Dinge…
    Siehe auch zu den Terrorattacken in Brüssel bei Global Research Kanada:
    http://www.globalresearch.ca/former-israeli-intelligence-operatives-run-security-at-brussels-airport/5516262

  • am 24.03.2016 um 18:59 Uhr
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    Die EU spendiert jährlich 3 Mrd. der Türkei für die Verwaltung von Flüchtlingen. SaudiArabien spendiert jährlich 3 Milliarden $ für Sölder von DynCorp um den Jemen in Schutt und Asche zu legen wo man sich erst kürzlich einem US geförderten Despoten entledigte.

    Die EU Spenden an die Türkei werden also wie die Spenden aus dem Süden für weitere radikalisierung, bewaffnung, ausbildung von Menschen verwendet um den Nahen Osten weiterhin in Chaos und Gewalt zu versenken. Wirtschaftsflüchtlinge, den politische Flüchtlinge gab es dort nie in Massen von hunderten tausenden Flüchtenden.

    Die Enklave Kurdistan im Norden des Irak ist genau dort wo unter dem Boden sich die grössten Oelvorkommen des Landes befinden. Eine kleines quasi unabhängiges Kurdistan das schon lange völlig korrumpiert wurde ist leichter zu kontrollieren als demokratische Systeme und gut gebildete Menschen.

    Die Heimat der Millionen Flüchtlinge im Arabischen Raum wurde über Jahre aufgrund einer US Direktive im 2001 und freundlicher Kooperation der NATO strategisch zerstört, unbewohnbar zerbombt, die Herrschenden Strukturen mit umfassender Propaganda erst schlecht geredet, dann verteufelt, dann mit demonstrierenden Demokratie und Freiheitssuchenden in die Ecke getrieben, schliesslich mit Attentaten verunsichert und falls alles nichts nützt einfach Angreift. Im Namen von Demokratie und Freiheit belügt man uns hier seit Jahren mit immer genau dem gleichen Schema.

    Alles begann mit einer Lüge…

  • am 24.03.2016 um 21:04 Uhr
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    Wir brauchen nicht auswärts nach den Gründen für den wachsenden Terror zu suchen. Es gibt auch hier Gründe, die die Radikalisierung von Menschen fördern.
    Wie die leeren Floskeln vom Zusammenstehen der Politik tönt es jeweils von unserem Parlament wenn es um Waffenexporte geht. Da werden als Argument zur Aufweichung der Exportbestimmungen die Arbeitsplätze, die bei einem Beibehalten verloren gehen, angeführt. Und man kann ja nichts dafür, wenn die exportierten Waffen und Munition zur Unterdrückung von Menschen verwendet werden.
    Dafür wird dann das BÜPF massiv verschärft – unter dem Vorwand, man müsse die Bevölkerung schützen.
    Es braucht kein BÜPF.
    Es braucht ein Waffenexportverbot. Das Argument, dass wenn wir nicht liefern andere es tun, lasse ich nicht gelten. Die Exportbefürwortenden sind jeweils auch jene, die sich weigern Flüchtlinge aufzunehmen.
    Es braucht ein Umdenken bezüglich der Politik gegenüber Staaten und Regierungen die ihre Bevölkerung drangsalieren.

  • am 25.03.2016 um 21:00 Uhr
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    Sie sind bereits überall, diese islamistischen Terroristen, in fast jedem europäischen Land, zumeist ausgestattet mit einem europäischen Pass und Sozialhilfe. Falls der Daesh (IS) in Syrien/Irak besiegt werden sollte, wird der Kampf gegen die Ungläubigen in Europa mit ganzer Härte weitergehen. Wer die Tür einfach sperrangelweit offen lässt, muss damit rechnen, dass finstere Gestalten in sein Haus kommen und sich entsprechend aufführen, nach wie vor.
    Und sämtliche Terrormeldungen aus Westeuropa kommen auch in den osteuropäischen Ländern an. Somit ist auch zu verstehen, warum dort weiterhin als Obergrenze «Null» genannt wird und man nichts von einer Willkommenskultur wissen will.

  • am 26.03.2016 um 20:15 Uhr
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    No Easter this year in Europe

    This year might become the first year without Easter as the Easter rabbits are stuck in Turkey and can’t enter to Europe any more. “I tried everything but they don’t let me in” said one Easter rabbit waiting at the Turkish-Greek border. And he is not alone. According to the department of the Easter Rabbits thousand of rabbits could not get permit to travel to Europe in time to hide the eggs for Easter. “We are sorry for the children who will not find any eggs in their garden but we are entirely powerless. With the new regulation we have no chance to enter.”
    “Even if we do not belong the core of European Christian tradition, we Easter rabbits are part of European culture that goes back hundreds of years,” said the spokesrabbit of the Easter rabbit association. “We come from the East and have always be welcomed. We love the values of Europe especially that one that emphasizes the right of Asylum for everyone that is in danger. But with the current development we have to rethink our commitment to come every year. Europe is in a dangerous process. First it is the just the rabbits, but then other members of society are targeted, too. In the end just the pigs survive.”

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