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Aus dem Schreiben der TA-RedaktorInnen: «Eine Redaktion ist keine Kaserne» © TA

Protestschreiben der Tagi-Redaktion zur Konvergenz

Kurt Marti /  Die «Gruppe 200» fordert in einem Protestbrief von der Tagi-Chefredaktion und von VR-Präsident Pietro Supino Veränderungen.

Am 19. August titelte der Tagi: «Tages-Anzeiger: Print und Online fusionieren». Chefredaktor Res Strehle freute sich: «Der heutige Tag ist für die Redaktion des ‚Tages-Anzeigers‘ ein besonderer Tag.» Die Redaktion werde «auf allen journalistischen Strecken präsent sein: mit Schnelligkeit auf der Sprintdistanz, mit Ausdauer, Erzähllust und Recherche auf der Langstrecke» (siehe Link unten). Inzwischen ist die Euphorie verfolgen und es herrscht Feuer im Dach.

Das Protestschreiben der «Gruppe 200» mit dem Titel «Wir möchten unsere Arbeit machen» wurde von 121 Tagi-RedaktorInnen unterzeichnet, und zwar sowohl aus der Print- als auch der Online-Redaktion (siehe Link unten). Gleich zu Beginn des Protestschreibens fährt das Schreiben schweres Geschütz gegen die Konvergenz-Strategie (Online und Print) der TA-Chefredaktion und der Verlagsleitung auf: «Profilierte Kolleginnen und Kollegen kündigen oder suchen sich eine andere Stelle, die Atmosphäre auf der Redaktion ist häufig bedrückt oder gereizt, manche klagen über eine Arbeitsbelastung weit über das korrekte Mass hinaus, es gibt zu viele Sitzungen und zu wenig Diskussionen, Tempo geht vor Sorgfalt, Klicks werden wichtiger, die Blattkritik kommt zu kurz, die inhaltliche Debatte sowieso.»

«Die Marge für die Aktionäre ist viel zu hoch»

Die UnterzeichnerInnen des Protestschreibens vermissen bei der Chefredaktion «eine Strategie der klaren Entscheide, wie mit stetig sinkender Redaktorenzahl die steigenden Ansprüche erfüllt werden können». Der Verlag kaufe «immer neue Zeitungen», investiere aber «wenig in seine traditionsreichste Marke». Stattdessen werde «laufend gekürzt, werden Stellen nicht wieder besetzt». Die Marge für die Aktionäre seien «viel zu hoch für unsere Branche». Zugleich bleibe der Teuerungsausgleich für die RedaktorInnen «unkorrigiert». Laut Protestbrief hat die Konvergenz von Online und Print «kein Gefühl des Aufbruchs vermittelt», so dass es nicht gelingen werde, «gegen die erstarkende digitale Konkurrenz zu bestehen».

Die «Gruppe 200» formuliert ihre Kritik in fünf Punkten mit entsprechenden Beispielen und Verbesserungsvorschlägen:

1. Zwei Kanäle und keine Strategie

Laut Protestbrief ist es überhaupt nicht klar, «welche Ziele der Verlag und die Redaktionsleitung auf den zwei Kanälen des TA verfolgen». Die meisten Themen würden auf beiden Kanälen mit den gleichen Texten aufbereitet, «meist auch in der gleichen, vom Tempo bestimmten Hektik. Auch aufwendige Recherchen und Hintergründe werden oft online aufgeschaltet, bevor sie im Print erschienen sind». Der Redaktion sei nicht klar, «welche Inhalte den beiden Kanälen gemeinsam sein sollen und welche nicht». Die publizistische Linie sei «diffus» und schlängele sich durch den Tag.

Als Beispiel wird die Berichterstattung über die SRF-Sendung «Die Schweizer» genannt. Der Tagesanzeiger habe auf beiden Kanälen «unkoordiniert allerhand Texte und Meinungen» publiziert, bis dann der auswärtige Autor Jo Lang nach mehreren Tagen eine Einordnung geschrieben habe. Zwischen Print und Online brauche es grundsätzlich eine «Reduktion des Textaustausches, also klare, sich ergänzende Profile der beiden Kanäle» und «die aufwendigsten, exklusivsten Texte und Bilder sollen dem Bezahlkanal vorbehalten sein».

2. Instant- und Allroundjournalismus

Laut den UnterzeicherInnen führt die fehlende Strategie dazu, «dass alle Redaktoren alles machen sollen – schreiben, diensten, floaten». Dies führe immer wieder «zu mangelhaften Resultaten». Zudem werde dadurch die Dossierkompetenz geschwächt. Und gerade dies könne sich der TA nicht leisten, wolle er «als Bezahlmedium überleben». Die Dossierkompetenz sei auch durch den Stellenabbau der letzten Jahre «stark unter Druck gekommen». Die Folge sei eine «Umleitung redaktioneller Arbeitskraft weg von den Fachgebieten hin zu einem Instant- und Allroundjournalismus». Stattdessen brauche es eine «Stärkung des Dossierprinzips».

3. Viel Spektakel und wenig Konzentration

Die Redaktions- und Tagesleitung setze «im Zuge der strategischen Desorientierung und des Alle-machen-alles-Journalismus» auf Aktionismus. Die Bekenntnisse der Chefredaktion zu Einordnung, Hintergrund und Entschleunigung würden im Tagesgeschäft ignoriert. Das Tagesgeschäft sei «nervös, klickgetrieben und damit auch anfällig für nicht hinterfragtes Mitwirken in boulevardesken Übertreibungen und Kampagnen». Zum Beispiel der Text «Shaqiri muss weg bei Bayern», der im Sommer top auf der Liste der meistangeklickten Beiträge gewesen sei. Diese «sensationelle News» sei aber in Wahrheit bloss «die Meinung eines Bloggers» gewesen. Jetzt sei «mehr Konzentration und Nüchternheit auf beiden Kanälen» gefragt, aber «keine künstliche Erzeugung von Traffic» durch Texte mit «Sex», «Porno» und «Blocher».

4. Arbeitsbelastung

Auch die Belastung für die Redaktion habe «enorme Ausmasse angenommen». 12-Stunden-Tage und 60-Stunden-Wochen kämen regelmässig vor, was im «Widerspruch zum Redaktionsstatut» stehe, das die 40-Stunden-Woche vorsehe. Im Online erhöhe die Tagesleitung den Druck, indem sie im Print Webhinweise auf Texte platziere, «die nicht abgesprochen, geschweige denn schon geschrieben sind». Die Versicherung der Redaktionsleitung, das Problem sei erkannt, genüge nicht. Die Redaktion wünsche sich «klare Aussagen».

5. Befehlskultur und Arbeitsklima

Laut der «Gruppe 200» herrscht zwischen Online und Print nach wie vor «der Eindruck zweier letztlich nur schwer vereinbaren Kulturen». Während von Online-Seite der fehlende Teamspirit der Printer moniert werde, störten sich Printerinnen an «der Hierarchie und am Befehlston, die online den Umgangston bestimmen». Eine Redaktion sei aber «keine Kaserne».


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Eine Meinung zu

  • am 16.11.2013 um 15:30 Uhr
    Permalink

    Es wäre vielleicht einmal Zeit, die Struktur zu überdenken: im Zeitalter von kostenlosen Online-Infos müsste «richtiger» Journalismus einen anderen Weg als die herkömmliche Zeitung finden – deren Inhalte ja oft auch kostenlos online verbreitet werden. Ich würde mir eine Art «iTunes-Store» für wirklich gute, fundierte Artikel vorstellen, die man online lesen, abonnieren (nach Thema, Autor…) – auch als Print – und natürlich bezahlen würde. Für reine Infos bin ich jedenfalls nicht bereit zu bezahlen, die bekomme ich kostenlos online und in den Gratisblättern… Umso enttäuschender ist es dann, wenn ich eine der grossen Zeitungen lese, und darin nebst Infos und Werbung nur «heisse Luft» finde, aber keine fundierten Analysen, gescheiten Meinungen und Hintergründe!

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