16TagegegenGewaltanFrauen_AmnestyInternational

«Ist sie wütend, schlägt meine Frau blindlings auf mich ein. Das kann ich doch keinem erzählen.» © Amnesty International

Männer oder Opfer, Frauen oder Täterinnen (I/II)

Jürgmeier /  «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» sind 16 Tage gegen Männergewalt. Aber auch Frauen sind Täterinnen, Männer Opfer. Ein Essay.

Vom Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen am 25. November bis zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember finden in der Schweiz – organisiert von 50 Frauen-, Männer- und Friedensorganisationen, Gewerkschaften, Beratungsstellen und Kirchgemeinden – unterschiedlichste Veranstaltungen statt. Dies im Rahmen der 1991 vom Women’s global Leadership Institute lancierten Kampagne 16 Days of Activism Against Gender Violence. Seit 2008 ist, auf Initiative der feministischen Friedensorganisation cfd, auch die Schweiz dabei. «Das Ziel der Kampagne ist, für Gewalt gegen Frauen zu sensibilisieren, auch weniger sichtbare Diskriminierungen von Frauen zu thematisieren, Beratungsstellen bekannter zu machen und gewaltfreie Wege aufzuzeigen.» Schreibt der Christliche Friedensdienst.


Im Allgemeinen wird unterschieden zwischen physischer, psychischer und struktureller Gewalt. In diesem Text geht es ausschliesslich um physische Gewalt, mehrheitlich um häusliche Gewalt in heterosexuellen Beziehungen.

Kürzlich hat eine Bachelor-Kandidatin der Kollegin einer anderen Kandidatin die Nase schlagzeilenträchtig gebrochen. Auf einem der Plakate der Opferberatung Zürich, die im Moment in Zürcher Trams hängen, wird ein Mann mit dem Satz zitiert: «Ist sie wütend, schlägt meine Frau blindlings auf mich ein. Das kann ich doch keinem erzählen.» Obwohl auch Frauen schlagen (nicht nur, aber auch Männer) und Männer geschlagen werden (von Männern und von Frauen), denken wir in Zusammenhang mit physischer Gewalt Frauen fast ausschliesslich als Opfer, Männer als Täter. Das hat mit Geschlechter-Realitäten und -Vorurteilen zu tun.

Gewaltige Fakten
Im Informationsblatt «Vorkommen und Schwere häuslicher Gewalt im Geschlechtervergleich – aktueller Forschungsstand» des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann vom Oktober 2014 wird aufgrund verschiedenster internationaler Studien u.a. folgendes Fazit gezogen: Werden sowohl häusliche als auch Gewalt im öffentlichen Bereich berücksichtigt, werden «Männer generell häufiger Opfer von Gewalt als Frauen», Männer mehr im ausserhäuslichen, Frauen mehr im häuslichen Bereich. In beiden Bereichen sind «die Gewalttäter überwiegend Männer» (Barbara Kavemann: Gewalt in Paarbeziehungen). Das heisst, auch Männer sind sehr häufig Opfer von Männern.

Je nach Untersuchungsart resultieren in Bezug auf Gewalt in heterosexuellen Paarbeziehungen unterschiedliche Ergebnisse. So genannte Hellfeldstudien – die auf institutionellen beziehungsweise Behörden-Statistiken basieren und nur angezeigte beziehungsweise sichtbar gewordene Gewalttätigkeiten erfassen – ergeben ein asymmetrisches Täter-Opfer-Bild, das heisst, die Mehrheit der Opfer ist weiblich, die Gewalt Ausübenden sind grösstenteils Männer. Anders bei so genannten Dunkelfeldstudien, bei denen Frauen und Männer anonym nach ihrem Konfliktverhalten und -erleben befragt werden. Unabhängig davon, ob erlittene oder ausgeübte Gewalt bei irgendwelchen Institutionen gemeldet, also sichtbar wird oder nicht. Dunkelfeldstudien ergeben, so das Eidgenössische Gleichstellungsbüro, deutlich kleinere Geschlechterdifferenzen: «Auch bei Dunkelfeldstudien wird eine höhere Betroffenheit von Frauen belegt. Jedoch ist der Unterschied zur Betroffenheit von Männern geringer als bei Hellfeldstudien. Insbesondere ist die Anzahl männlicher Gewaltbetroffener teilweise markant höher als bei Hellfeldstudien.»

Der Publizist und Vordenker der deutschen Männerrechtsbewegung Arne Hoffmann behauptet in seinem Buch Sind Frauen bessere Menschen? gar, «körperliche Gewalt in Partnerschaften» gehe «zum überwiegenden Teil von Frauen aus, nicht von Männern… Die Menge der Studien, die dies belegen, [ist] längst unüberschaubar geworden.» Im April 2004 weist die SonntagsZeitung darauf hin, dass die Statistiken verschiedener Schweizer Kantone «Erstaunliches» zeige: «Die Zahl der Frauen als Täterinnen ist höher als erwartet. Im Kanton St. Gallen wurden beispielsweise von 135 Straftaten 47 von Frauen verübt. Das macht einen Frauenanteil von 34 Prozent. In den Kantonen Zürich und Baselland sowie in der Stadt Bern liegt der Anteil zwischen 13 und 22 Prozent.» Maskulinistische Propaganda? Gefälschte Statistiken? Oder ernst zu nehmende Beiträge zur Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeiten, die unseren Geschlechtervorstellungen widersprechen?

Gewaltige Unterschiede
Die Wirklichkeit beziehungsweise ihre Beschreibung ist widersprüchlich. Studien zu physischer Gewalt in heterosexuellen Beziehungen kommen zu ganz unterschiedlichen Resultaten bezüglich der TäterInnenschaft: Geschlechtersymmetrie (Männer und Frauen gleichermassen gewalttätig) steht deutlicher Geschlechterasymmetrie (TäterInnen mehrheitlich männlich) gegenüber.

Für solch gegensätzliche Beschreibung der Wirklichkeit gibt es (mindestens) zwei Erklärungen:

  • Der Widerspruch (asymmetrisch versus symmetrisch) kommt dadurch zustande, dass zwei ganz unterschiedliche Realitäten beschrieben werden. Der Unterschied liegt nicht in der Sache, sondern in der Sprache.
  • Der Widerspruch (symmetrisch versus asymmetrisch) ist das Resultat selektiver Wahrnehmung, die den Mann als Opfer und die Frau als Täterin ausblendet. Der Unterschied liegt nicht in der Sache, sondern im Blick.

Die beiden Zürcher Soziologinnen Daniela Gloor und Hanna Meier gehen in ihrem Text Gewaltbetroffene Männer davon aus, der Begriff «häusliche Gewalt» werde für verschiedenste Realitäten verwendet. Spontane Gewalthandlungen, das heisst, «jede physisch aggressive Handlung im Familienalltag, auch solche Handlungen, die im Alltag als gängiges Konfliktverhalten grossteils ‹akzeptiert› sind», gingen tatsächlich gleichermassen von Frauen und Männern aus. Die bei Dunkelfeld-Studien angewandten Untersuchungsmethoden würden zwar auch «schwerere Gewalthandlungen», nicht aber «systematisches Gewalt- und Kontrollverhalten» erfassen, das mehrheitlich von Männern praktiziert werde. Wenn häusliche Gewalt auch nach ihren Folgen differenziert werde, so Maria Dackweiler/Reinhild Schäfer in ihrem Buch Geschlecht, Macht, Gewalt, zeige sich: «Wesentlich mehr Frauen als Männer sind Opfer schwerer körperlicher Gewalt.»

Gewaltige Wahrnehmungsblockaden

Eine andere (Auf-)Lösung des Widerspruchs Symmetrie/Asymmetrie: Selektive Wahrnehmung, das heisst, die Wirklichkeit wird nur partiell beziehungsweise verzerrt wahrgenommen. Eine «Wahrnehmungsblockade» gegenüber bestimmten Teilen der Wirklichkeit führt dazu, dass Männer als Opfer und Frauen als Täterinnen, weil den jeweiligen Geschlechterkonstruktionen widersprechend, «übersehen» werden. Während Gewalt (erst) Männer macht, werden Frauen durch die Anwendung von Gewalt eben gerade nicht zur Frau.

Dass Gewalt gegen Männer weniger wahrgenommen und seltener öffentlich gemacht werde als Gewalt gegen Frauen ist nach Meinung von Jürgen Gemünden (Gewalt gegen Männer in heterosexuellen Intimpartnerschaften) das Resultat von Männlichkeitskonstruktionen. Letztere verhinderten, dass sich Männer als Opfer zeigten beziehungsweise ernst genommen würden. Umgekehrt verschafften Weiblichkeitskonstruktionen der Frau als Opfer geradezu eine Identität. Deshalb verzichten Männer, die von Frauen körperlich attackiert werden, häufig auf eine Anzeige, zum Teil sogar trotz Aufforderung durch die Polizei. Einerseits weil sie das Gefühl haben, sie wüssten sich, wenn es ernst gälte, zu wehren, andrerseits aus (der nicht ganz unberechtigten) Angst, sie könnten aufgrund von Geschlechtervorurteilen plötzlich ihrerseits als Täter behandelt werden. Vor allem aber kollidiert das Sich-als-Opfer-weiblicher-Gewalt-Zeigen mit den kulturellen Anforderungen an den Mann und bedroht ihn mit dem Verlust von Männlichkeit, mit dem Absturz ins Weibliche. «Du Opfer» wird heute in gewissen (Jugend-)Szenen als Schimpfwort eingesetzt, auch von Frauen.

Die Angst von Männern, sich als Opfer von Gewalt zu erkennen zu geben, zeigte sich auch in einer von mir geleiteten Gesprächs- und Selbsterfahrungsgruppe für Männer. Ein Gespräch zum Thema «Der Mann als Opfer» verlief eigentümlich schleppend, fast wortkarg. Immer wieder fiel, wenn doch geredet wurde, das Wort «Scham». Männer, denen als Kinder oder Erwachsene Gewalt widerfahren ist oder widerfährt, schämen sich dafür, ganz besonders, wenn diese Gewalt von einer Frau ausgeht. Einer der Männer erklärte schliesslich, es würde ihm viel leichter fallen, über Situationen zu sprechen, in denen er selbst Gewalt ausgeübt habe.



Ein Teil der Überlegungen in diesem Text stammt aus dem Buch «‹Tatort›, Fussball und andere Gendereien» von Jürgmeier und Helen Hürlimann, erschienen im Interact- und Pestalozzianum-Verlag, Zürich und Luzern, 2008


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Gewalt_linksfraktion

Gewalt

«Nur wer die Gewalt bei sich versteht, kann sie bei andern bekämpfen.» Jean-Martin Büttner

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4 Meinungen

  • Portrait_Jrg_Schiffer
    am 6.12.2014 um 12:27 Uhr
    Permalink

    Ein Beispiel:
    Durch falsche Anschuldigungen versuchen ausländische Frauen, sich als Opfer häuslicher Gewalt auszugeben, um so ein Bleiberecht zu erwirken. Mein so bezichtigter unschuldiger Bruder Willy wurde in einem skandalösen Gerichtsverfahrfen verurteilt und der Antrag auf Revision des Urteils beim Regierungspräsidenten bis heute nicht beantwortet. Der Fall wird in einer umfangreichen Powerpointdarstellung detailliert beschrieben. Das Opfer starb nach schwerem Leiden am ihm angetanen Unrecht. http://www.basilisk.twoday.net/files/Justizirrtum/
    Ein Interview mit dem Opfer erschien in
    http://www.telebasel.tv/archiv.php?show=5212

  • am 6.12.2014 um 19:48 Uhr
    Permalink

    Guten Tag diskutierende Teilnehmer/innen.
    Psychische und emotionale Gewalt ist die Waffe derjenigen, welche weniger Muskeln haben. Diese Art der Gewalt hinterlässt oft die grösseren bleibenden Schäden als die Gewalt mit der Hand oder Faust. Die psychische Gewalt, ob als Notwehr, oder als Mittel um seine Bedürfnisse auf Kosten einer anderen Person zu erfüllen, ist die Gewalt unserer Zeit. Die Gesellschaft selbst ist durchzogen von dieser Gewalt. Auch wird sie von Personen gegen sich selber angewendet, da Belohnung und Bestrafung in weiten Kreisen der Erziehung das konditionierende Mittel der Wahl ist. Selig wer als Kind gefördert statt gefordert wurde. Frauen kennen oft die seelischen Wunden ihrer Männer, und in diese Kerbe können sie schlagen. Mit Verrat, Liebesentzug, u.s.w. Diese Aspekte werden von Gerichten oft übersehen. Wer hat diese Richter erzogen? Frauen, die Väter waren ja nicht oder nur selten da, sie mussten arbeiten fern vom Zuhause. Was macht die Justiz in vielen Fällen? Sie unterstützt den Mann oder die Frau beim Bestrafen der anderen Partei, indem sie den Leidensdruck auf das Opfer oder den Täter erhöht. Bis hin zum Suizid der betroffenen Person. Die ganze Problematik wird also durch Systemimmanenz noch gefördert. Belohnung und Bestrafung vertragen sich nicht mit konstruktiven Lösungen, und bieten keinen Schutz der beiden Kontrahenten vor sich selber und vor dem/der anderen. Hätten wir eine Konfliktkultur nach «Marshall Rosenberg» dann würde es anders sein.

  • am 7.12.2014 um 18:01 Uhr
    Permalink

    @Schiffer: Krasser Fall. Hut ab, dass sie das so nüchtern erzählen können. Auch die Aufarbeitung in der Powerpoint – grosses Engagement!

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