VW-Farm in Brasilien: Vorwürfe wegen Sklaverei, Mord und Folter
Der deutsche Autokonzern Volkswagen betrieb zwölf Jahre lang eine Rinderfarm im brasilianischen Regenwald. Wie dort in den Siebziger- und Achtzigerjahren systematisch Arbeiter versklavt und misshandelt wurden, dringt seit Jahren scheibchenweise an die Öffentlichkeit.
Spätestens seit einer ausführlichen Recherche (Paywall) der «Washington Post» letzte Woche stehen nun aber weitere, schwere Verbrechen im Raum: Mord, Vergewaltigung, Folter. Und mittendrin ein Schweizer Rentner aus Obersaxen. Der Agronom leitete das damalige Grossprojekt.
Bereits 2017 fand die ARD ehemalige Arbeiter und berichtete über schwere Vorwürfe gegen Volkswagen Brasilien wegen möglicher Zwangsarbeit. 2022 leitete das brasilianische Arbeitsministerium eine Untersuchung ein. Im vergangenen Dezember erhob es Anklage wegen «schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen» und fordert rund 26 Millionen Euro Wiedergutmachung.
Ein Priester dokumentierte die Missbräuche
Ein ehemaliger Priester hörte erstmals 1977 von den Vorwürfen. Er dokumentierte die Vorgänge auf dem VW-Gelände jahrelang und gab seine Dokumentation 2019 an die Behörden weiter. Es handelt sich um über 1000 Seiten Dokumente und mindestens 69 angebliche Opfer. Mit dem Brasilien-Team der «Post» werteten erstmals JournalistInnen das Archiv systematisch aus.
Volkswagen kaufte 1973 140’000 Hektaren Land im brasilianischen Bundesstaat Pará, am südlichen Rand des Amazonas-Regenwalds – ein Grundstück doppelt so gross wie New York City. Darauf sollte eine Rinderfarm entstehen. «Diese Welt braucht nicht nur Autos», soll VW-Präsident Rudolf Leiding damals verkündet haben, «sondern auch Fleisch».
Dies war ganz im Sinn der damaligen brasilianischen Militärdiktatur, welche mit der Erschliessung des immensen Amazonas-Gebiets die Wirtschaft ankurbeln wollte.
War es ein Steuersparmodell?
Über die genaue Motivation des Autobauers wird bis heute spekuliert. Gemäss Investigativ-Journalistin Stefanie Dodt vom NDR, die wiederholt über den Fall berichtet hat, deutet ein Protokoll einer Aufsichtsratssitzung aus der Zeit darauf hin, dass es sich um ein Steuersparmodell gehandelt haben könnte. Ausländische Unternehmen konnten einen Teil der Steuern in Investitionen in Brasilien umwandeln.
VW Brasilien gründete für das Projekt eine Tochtergesellschaft und stellte den Schweizer Agronom Friedrich-Georg Brügger als Direktor ein. Brügger wiederum beauftragte zwei brasilianische Rekrutierer, um für die Rodung des Urwalds lokale Arbeitskräfte anzuwerben.
Die Rekrutierer sollen überwiegend junge Männer mit grossen Versprechen auf ein besseres Leben aufs abgelegene und bewachte Landstück gelockt haben. Diese sollen dort unter widrigen Bedingungen von bewaffneten Aufsehern zur Arbeit – sieben Tage die Woche, bis zu zehn Stunden täglich – gezwungen worden sein. Wer nicht gehorchte, dem drohte gar der Tod.
Die «Washington Post» sprach nach eigenen Angaben mit 16 Menschen, die auf dem Gelände arbeiteten; neun davon sagten, sie seien versklavt worden. Die ReporterInnen fanden auch ehemalige Arbeiter, die bis dato nicht mit Behörden gesprochen hatten und die bekannten Vorwürfe bestätigten.
Einer von ihnen, 74-jährig, lebt noch heute in einer heruntergekommenen Hütte auf dem Gelände. Er sagte, er sei in den Siebzigerjahren auf der Suche nach einer verlorenen Liebschaft auf dem VW-Anwesen gelandet. Sieben Jahre sei er zur Arbeit gezwungen worden und habe die Farm nie verlassen dürfen. Auch nicht, als er in Stacheldraht gefallen war, der sein Gesicht aufschnitt. Die Narben zeichnen ihn noch heute.
Wer flüchten wollte, wurde brutal bestraft
Gemäss Aussagen verschiedener Arbeiter, die flüchten konnten, wurde mindestens eine Frau vergewaltigt, weil ihr Mann bei einem Fluchtversuch erwischt wurde. Zahlreiche Arbeiter verschwanden. Und einmal, so erzählte ein ehemaliger Arbeiter den Journalisten, habe er einen Toten gesehen im Dschungel, nackt ausgezogen und aufgehängt.
Ein anderer Mann sagte: «Sie haben eine Höhle, wo sie Menschen töten und die Leichen reinwerfen.»
Der Priester dokumentierte alles, zeichnete Diagramme der über die Jahre wechselnden Verantwortlichkeiten auf dem immensen Grundstück. Er hielt fest, wie das Unternehmen organisiert war, dass die Chefs mit ihren Familien in klimatisierten Häusern wohnten, dass Angestellte wie Hausangestellte unweit von ihnen auf einem Areal lebten, wo die Kinder eine Schule besuchten.
Während die Landarbeiter dutzende Kilometer entfernt im Dschungel bewacht unter Plastikplanen hausten und unbehandeltes Wasser tranken.
Bereits 1983, als die Farm noch in Betrieb war, gelangten erste Sklaverei-Vorwürfe auch in deutsche Medien. Auch lokale Behörden besuchten die Anlage. Zwar hielten sie insgesamt viermal fest, dass auf der Anlage Menschen zur Arbeit gezwungen wurden. Doch Konsequenzen folgten nie.
Die Volkswagen-Konzernleitung wollte sich gegenüber der «Washington Post» nicht äussern. Das brasilianische Tochterunternehmen schrieb, dass es alle Missbrauchsanschuldigungen kategorisch zurückweise. Das Unternehmen sei ein Treiber der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes gewesen und habe die Prinzipien der Menschenwürde durchgehend verteidigt.
Für Schweizer Direktor war Missbrauch ein notwendiges Übel
Gemäss «Washington Post» ist einer der Anwerber mittlerweile verstorben. Der andere, heute 82-jährig, sagte: «Ich bin ein alter Mann. Ich erinnere mich an nichts.»
Friedrich-Georg Brügger, der Schweizer Leiter des VW-Projekts, wusste gemäss «Washington Post» spätestens 1983 von den Missbrauchsvorwürfen auf seiner Farm. Nach Zeugenberichten von geflüchteten Arbeitern besuchte eine Behördendelegation das Landstück. Sie soll einen Arbeiter angetroffen haben, der klagte, er habe Malaria und werde seit neun Monaten zur Arbeit gezwungen. Brügger soll gesagt haben, dies sei nicht sein Problem, sondern jenes der Aufseher.

2017 kehrte Brügger ins Bündnerland zurück und gab der ARD ein bemerkenswertes Interview. Darin legte er offen, dass er wusste, was unter seiner Leitung geschah. «Das wundert mich überhaupt nicht. Der Brasilianer ist ein böser Mensch.» Und zur Schuldknechtschaft sagte er, dieses Vorgehen sei schlicht nötig gewesen, wenn das Projekt der Rinderfarm umgesetzt werden sollte. «Wir realisieren das Projekt, oder wir realisieren es nicht. Es gibt keine andere Möglichkeit.»
Ob Brügger oder seine Rekrutierer im Rahmen des laufenden Verfahrens in Brasilien zur Verantwortung gezogen werden können, schreibt die «Washington Post» nicht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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