Höhlenforschung

Ein Seitengang des neu entdeckten, riesigen Höhlenschachts im Karstsystem rund um das Silberen-Massiv im schwyzerischen Muotatal © Simon Ziegler

Spektakuläre Höhlen im Muotatal entdeckt

Thomas Kesselring /  Im Karstsystem rund um den Pragelpass entdeckten Höhlenforscher eines der eindrücklichsten Schachtsysteme der Schweiz.

Eine Juniorengruppe von Höhlenforschern suchte im Oktober mehrere Tage lang im Gebiet des Pragelpasses (Muotatal, Kanton Schwyz) die Karrenfelder auf über 2000 Metern nach möglichen Öffnungen in tiefere Schächte und Höhlen ab. Sie fand mehrere kleinere «Objekte», die immerhin hundert und mehr Meter in die Tiefe führten. Unerwartet stiess sie dabei auf eine grosse Höhle. Sie trägt den Namen «Hustenschacht», weil mehrere Teilnehmer während der ersten Begehung erkältet waren und ständig husteten.

Simon Ziegler, Leiter der Forschergruppe, berichtet über die Entdeckung:

Höhlenforschung
Vorne rechts im Karrenfeld ist die unscheinbare Öffnung des «Hustenschachtes» – im Hintergrund das Nebelmeer.

«‹Wir vermessen zum Abschluss des Tages noch einen kleinen Oberflächenschacht.› Mit diesen Worten stiegen wir am Nachmittag des 7. Oktobers 2025 während unseres Herbstlagers zum ersten Mal in eine unscheinbar wirkende Höhle ein, die wir tags darauf Hustenschacht taufen würden. Nach einer Spalte von fünf Metern Tiefe und einer weiteren von drei Metern rechneten wir wie so oft in der Oberflächenforschung mit einem blockverfüllten Boden. Stattdessen gelangten wir in einen überraschend geräumigen, 26 Meter tiefen Schacht. Am Grund führt eine schmale, aber 20 Meter hohe mäandrierende Kluftspalte zu einem weiteren, 17 Meter tiefen Schacht, über welchem unser erster Vorstoss endete.

Eingangsteil AV Mäander 1
Der Schacht im Teil Mäander

Am nächsten Tag kehrten wir mit rund 130 Metern Seil zurück, richteten den 17er-Schacht ein und kartografierten den darauf folgenden, etwa 200 Meter langen Gang. Die anschliessende Kluft ist anfangs schmal und hoch, weitet sich jedoch im letzten Drittel deutlich. Ein Schmelzwasserbach begleitet den Gang und stürzt schliesslich in einen massiven Schacht. Die Aufhängung eines Seils, über das man trocken durch den Schacht abseilen und auch wieder aufsteigen kann, erwies sich als ziemlich aufwändig. Selbst nachdem wir die beiden mitgebrachten 50-Meter-Seile verbaut und uns darüber abgeseilt hatten, sahen wir anstelle eines Schachtbodens nur Schwarz ….

Höhlenforschung
Halle 1 des grossen Schachtsystems

Am dritten Tag stiegen wir erneut in die Höhle hinab, richteten den grossen Schacht vollständig ein und vermassen ihn. Zu unserer Überraschung war er stolze 170 Meter tief. Mit seinem mittleren Durchmesser von 12 Metern wirkt er gewaltig, und unten öffnet er sich noch weiter. Es ist einer der eindrücklichsten Schächte in der Schweiz. Unten angelangt, staunten wir aber noch mehr: An seinem Grund weisen mehrere geräumige Gänge in verschiedene Richtungen. Der grösste öffnet sich zu einer Halle von etwa 100 Metern Länge, 25 Metern Breite und 15 Metern Höhe. Nach der Halle wird der Gang wieder enger und führt zu einer weiteren vertikalen Stelle, über der wir den dritten Vorstoss dieses Lagers beendeten.

Zwei Wochen später unternahmen wir eine vierte und bisher letzte Erkundungstour. Nach der Abseilstelle am Ende der letzten Tour führt der «Weg» in einen angenehm grossen Gang mit einem Bach. Seine Schüttung beträgt etwa 10 Liter pro Sekunde.

Halle 3
Halle 3 des Schachtsystems

Die mäandrierende Fortsetzung mündet in eine zweite Halle von etwa 70 Metern Länge, 45 Metern Breite und 20 Metern Höhe. Der anschliessende Korridor weist auf einer Länge von 200 Metern durchschnittliche Dimensionen von 18 × 12 Metern auf und endet schliesslich in einer dritten Halle – der mit 110 × 40 × 30 Metern grössten bislang. Im hinteren Teil steigt die Halle steil an. Leider ist die Fortsetzung dort verstürzt, und der Bach verschwindet zwischen den Blöcken. In der Zone zwischen den Hallen konnten wir bereits einige Seitengänge vermessen. Über 80 offene Enden lassen hoffen, dass sich unter anderem auch eine Umgehung der Versturz-Zone in der Endhalle finden lässt. In vier Tagestouren wurden bisher 1683 Meter Ganglänge bei einer Gesamttiefe von –433 Metern vermessen.»

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Seitenriss des «Hustenschachts» von Simon Ziegler und Sebastian Pingel

Bedeutung dieser Schachthöhle

Das Kalkgebiet zwischen Pragelpass, der Silberen (2318 m) und dem Bödmerenwald gehört zu den grössten Karstgebieten der Schweiz und ist an Höhlen auch besonders reich. Der höchste Berg hat seinen Namen vom silbrigen Schimmer seiner nackten Kalkfelsen. Das Gelände ist unwegsam, denn rund um den Gipfel finden sich Tausende Karstspalten, von denen viele sich ähneln. Die Entdeckung war die Frucht einer tagelangen Oberflächen-Prospektion. In der näheren Umgebung ist vorher erst eine einzige Höhle entdeckt worden. Vermutlich bildet sie mit dem «Hustenschacht» zusammen ein grösseres Gangsystem, von dem bis jetzt erst ein kleiner Bruchteil bekannt ist.

Zur Höhlensuche gehört normalerweise – neben der minutiösen Abklärung jeder für Menschen begehbaren Karstspalte – die Bereitschaft, kleine oder verschüttete Löcher mit Luftzirkulation aufzugraben. Der Hustenschacht ist das seltene Beispiel einer Höhle, die ihren Entdeckern ohne jede Grabung und ohne jede Bearbeitung mit Hammer und Meissel Zutritt gewährte und zudem in eine Sequenz von Hohlräumen führte, deren Grössenordnung in der Schweiz einzigartig ist. In zwei anderen Höhlen desselben Karstgebietes (Hölloch und Silberen-System) gibt es zwar ebenfalls je eine sehr grosse Halle, aber nur der «Hustenschacht» bietet gleich drei Hallen hintereinander. Dieser Fund ist in der Schweiz bisher einzigartig.

Eine Besonderheit bietet auch die vertikale Schachtröhre von 170 Metern: Sie ist höher (beziehungsweise tiefer) als der höchste Kirchturm der Welt – das Ulmer Münster mit 162 Metern. Dass das Team der jungen Erforscher in vier Vorstössen gleich eine Tiefe von 433 Metern unter dem Eingangsniveau erreichte, ist ebenfalls aussergewöhnlich. Diese Gebirgshöhle setzt also in mehreren Hinsichten neue Massstäbe.

Neugier in der Höhlenforschung und Wissenschaft

Ein schwarzes Loch in einer Felswand oder im Boden zieht den Blick an und macht «gwundrig». Höhlen erregen besonders bei jungen Menschen eine gewisse Neugier. Man tritt oder kriecht in eine Höhle hinein und wirft einen Blick in alle Nischen. Jede Öffnung in der Wand und jeder Durchschlupf geben der Neugier neue Nahrung.

Der «Gwunder» gilt nicht einem geheimen Schatz, sondern dem Unbestimmten, der Überraschung. Das kann eine mit schönen Sinterbildungen verzierte Nische sein, ein Fenster zur Oberfläche, ein zweiter Ausgang. Oder ein von der Oberfläche verschwundener Wasserlauf, dem man ein Stück weit auf seinen verschlungenen Wegen folgen kann.

Die Höhlenforschung ist eher ein Sport als eine Wissenschaft. Die Befahrung von Schächten erfordert allerdings einiges an technischem, die Vermessung der Gänge an digitalem und die Herstellung von Höhlenplänen an zeichnerischem Geschick.

Natürlich ziehen Höhlen auch Vollblut-Wissenschaftler an: Geologen, Hydrologen, Mineralogen, Biologen, Archäologen, Paläontologen … Höhlen sind wahre Archive der jüngeren Erdgeschichte und Zeugen eiszeitlicher Vorgänge, was Rückschlüsse auf die Landschaftsbildung erlaubt. Schächte sind oft unfreiwillige Grabstätten von Tieren aller möglichen Gattungen: Ihre Knochen geben Auskunft über die Fauna der Vergangenheit. Tropfsteine dienen manchmal als Protokolle früherer Klimaereignisse.

Höhlenforschung
Vermessungsarbeit in einem der Seitengänge des grossen Schachtsystems

Die meisten Höhlenforscher verstehen sich nicht als Wissenschaftler. Und doch legt ihre Tätigkeit den Vergleich mit wissenschaftlicher Forschung nahe. Die Entscheidung, in eine Höhle einzusteigen, ist wie die Entscheidung, sich auf eine wissenschaftliche Frage einzulassen. Auch die Wissenschaft setzt Neugier voraus und stachelt sie günstigenfalls an. Wie die Wissenschaftler freuen sich auch die Höhlenbegeisterten über jede Entdeckung, vor allem wenn sie selbst daran beteiligt sind. Was Wissenschaftler im übertragenen Sinn anstreben – «Licht ins Dunkel zu bringen» -, tun die «Speleos» ganz im wörtlichen Sinn.

Höhlen zu erkunden, ist aber auch noch in einem weiteren Sinn ein Gleichnis oder eine Metapher für wissenschaftliches Forschen: Vollblut-Wissenschaftler wollen dem Thema, das sie interessiert, so richtig «auf den Grund gehen». Genau das wollen auch die Höhlenforscher*innen, und zwar im wörtlichen Sinn: Sie träumen nicht vom Höhenflug und Gipfelsturm. Ihre Devise lautet im Gegenteil, «je tiefer, desto besser»: Je weiter man in eine Höhle vordringt, desto prickelnder wird das Abenteuer. Das Abseilen ins Erdinnere macht Spass, das Staunen gilt der Tiefe, den Schlünden und Abgründen. Der Grund eines Schachtes ist immer eine Schlüsselstelle: Findet sich eine Fortsetzung? Kommt man noch tiefer? Ist man am Ende angelangt?

Als die Entdecker dem 170 Meter tiefen Schlund im Hustenschacht «auf den Grund gingen», war ihre Überraschung gross: Die Vielfalt und das Volumen der Hohlräume, die sie fanden, übertrafen alle Erwartungen. Dabei war die Spalte, durch die sie an der Oberfläche eingestiegen waren – eine von Tausenden – ganz unscheinbar.

Höhleneingang
Eine der vielen Tausend Karstspalten erwies sich als ein echter Treffer.

Das der Wissenschaft und der Höhlenforschung gemeinsame Motiv, die Tiefe zu suchen, ist schon dem alten Goethe aufgefallen. Er formuliert es so: Man will erkennen, «was die Welt im Innersten zusammenhält!»


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