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Stefano Soldati beim Bau eines Strohballenhauses in der Nähe von Mar de Plata (Argentinien). © Natalia Celina Perez

«Jeder hat ein Gen, um zu konstruieren»

Romano Paganini /  Die Bio-Konstruktion ist in Argentinien Mode. Sie stehe oft für die Suche nach einem andern Leben, so Konstrukteur Stefano Soldati.

»Ein Strohhalm scheint etwas kleines, nichtiges und die meisten Menschen wissen nicht, welchen Wert so ein Halm hat. Wüssten sie den wahren Wert von Stroh, könnte dies eine Revolution auslösen, die genügend stark wäre, um ein Land und sogar die ganze Welt in Bewegung zu setzen.» Masanobu Fukuoka (1913-2008), Mikrobiologe und Bauer

Für Stefano Soldati (52) gibt es ein prägendes Wort, wenn es um Häuserbau geht, ein Wort, das der Italiener gerne in seiner Muttersprache wiederholt: provare – probieren. Man müsse nicht Architekt oder Maurer sein, um ein Haus zu bauen. Schliesslich habe der Mensch über Generationen hinweg Häuser ohne professionelle Hilfe gebaut. Man hat von seinem Vater oder Grossvater gelernt und dann das getan, was auch Stefano Soldati tat: probiert. Soldati ist ursprünglich Agronom und Berater für Bio-Landwirtschaft und hat nach der Probierphase sein eigenes Haus gebaut; ein Haus mit Holzstruktur, Stroh-Isolation und einem Lehm- und Kalkverputz.

Flucht aus den Grossstädten aufs Land

Was vor ein paar Generationen noch als traditioneller Hausbau galt, wird heute unter dem Begriff Bio-Konstruktion zusammengefasst. Sie ist in Argentinien wieder in Mode. Dutzende Familien vorwiegend aus der Mittelschicht verlassen die Grossstädte Buenos Aires oder Cordoba und ziehen aufs Land. Dort suchen viele nach einem radikalen Wechsel: gesunde Ernährung, weniger Alltagsstress und keine Industrie-Ware. Die Bio-Konstruktion wirkt dabei als Ventil für angestaute Bedürfnisse.
Während die Menschen im Norden des Landes – genauso wie in anderen Teilen Lateinamerikas – seit jeher mit natürlichen Materialien bauen, sind die Stadtflüchtlinge daran, den Bau mit Holz, Lehm und Stroh zu entdecken. In Dutzenden Gemeinden wird eine gesetzliche Verankerung für Bio-Konstruktion diskutiert. Gleichzeitig finden landesweit Vorträge und Workshops zum Thema statt, zu denen auch Architekten aus Deutschland oder Italien eingeladen werden – wie Stefano Soldati. Kürzlich war er wieder für zwei Wochen in Argentinien. An der Universität Mar de Plata erklärte er vor Konstrukteuren und solchen die es werden wollen die Vorteile der Bio-Konstruktion.

Im Anschluss leitete er einen dreitägigen praktischen Kurs zum Bau eines Strohhauses. Am letzten Tag seines Aufenthalts sprach er über Gruppenarbeit, innere Grenzen und was die Menschen in Europa mit jenen in Südamerika verbindet.
Stefano Soldati, Bio-Konstruktion benötigt oft mehr Arbeitskräfte als der Häuserbau mit Ziegeln und Zement. Meist wird deshalb in grösseren Gruppen gearbeitet. Welches sind die Herausforderungen für diese Gruppen?
Stefano Soldati: Wenn sich Unbekannte in einer Gruppe treffen, multiplizieren sich die Eigenschaften jedes einzelnen, sowohl die positiven als auch die negativen. Man kann das mit dem Zusammenleben in der Gesellschaft vergleichen. Was die Technik betrifft, hat der Mensch praktisch alles gelöst. Heute sind die Schwierigkeiten eher zwischenmenschlicher Natur – etwas, das wir auch hier im Kurs gesehen haben. Jeder hat seine eigene Form zu arbeiten, seine eigene Denkweise und weil es keinen klaren Chef gibt, entsteht eine ganz eigene Gruppendynamik; der Fokus muss innerhalb dieser Dynamik gefunden werden. Die Materialien helfen, mit dem Anderen in Beziehung zu treten.
Inwiefern?
Wir berühren das Stroh und den Lehm mit unseren Händen, kommen also in direkten Körperkontakt. Das wirkt verbindend.
Sie arbeiten vorwiegend mit Gruppen in England und Italien. Was sind die Unterschiede zwischen Gruppenarbeit in Europa und solchen in Argentinien?
Die Argentinierinnen und Argentinier sind Latinos und in Bezug auf ihre Arbeitshaltung den Italienern sehr ähnlich. Wir verstehen uns also ziemlich schnell. Das Gegenteil bei den Engländer: Sie sind ins Detail vernarrt und arbeiten millimetergenau.
Wie verbinden Sie diese beiden Extreme?
Gar nicht. Es ist gut, wie es hier ist, genauso wie es gut ist, wie es die Engländerinnen und Engländer machen. Ich arbeite mit der Dynamik, die die Gruppe selbst entwickelt. In England sind die Menschen sehr trocken und streng. Witze und Spiele innerhalb der Kurse lassen sich viel weniger machen als hier oder in Italien. Dennoch würde ich persönlich mit den Gruppen in Argentinien strenger umgehen.
Und was verbindet die Engländer mit den Argentiniern?
Wir alle suchen nach etwas, egal wo auf dem Planeten wir leben. Vielleicht wissen wir nicht wonach, vielleicht haben wir eine klare Vorstellungen. Es ist die Suche, etwas zu ändern, denn so wie wir heute leben, kann es nicht weitergehen. Diese Suche vereint uns. Die einen beginnen mit ihrem Heim, andere suchen einen Weg über die Meditation, dritte über gesunde Ernährung und nochmals andere wechseln die Arbeit. Doch jeder einzelne befindet sich auf dem Weg, um anders zu leben.
Naturverbundener?
Einerseits das, andererseits geht es darum, einfacher und freier zu leben und mit dem Leben an sich zufrieden zu sein und nicht immer noch mehr zu wollen. Wir leben in einer Konsumgesellschaft, die nur ein Ziel hat: Unzufriedenheit generieren. Jeder soll sich etwas Neues kaufen, ein Auto, ein Handy, einen Computer. Langfristig kann man damit nur unzufrieden werden. Dennoch hängen noch viele Menschen dem Traum nach, viel Geld zu verdienen, um sich dies und das leisten zu können. Erst wenn du aufwachst, merkst du, dass du mit dieser Lebensform nie Zufriedenheit erlangen wirst. Also beginnst du nach etwas anderem zu suchen.
Sie begleiten den Prozess der Transition seit rund dreissig Jahren. Welche Wechsel haben Sie in dieser Zeit festgestellt?
Dass es immer mehr Menschen gibt, die sich öffnen und für das Thema interessieren. Das Internet übernimmt dabei eine entscheidende Rolle, denn die Informationen gelangen viel schneller von A nach B und über das Netz entstehen Gruppen. Es treffen sich Freunde um gemeinsam Gemüsegärten zu bewirtschaften oder zusammen zu bauen.
Auch in Italien?
Auch in Italien. Nur haben wir dort einen Haufen Baugesetze, mehr als in jedem anderen Land auf der Welt. Ich weiss nicht, wie viel tausende Vorschriften wir erfüllen müssen, um mit einem Bau beginnen zu können. Und im Laufe der Jahre werden die bestehende Gesetze dann durch neue ersetzt. Leider steckt oft die Baulobby hinter diesen Prozessen.
Haben die ArchitektInnen in Italien Verständnis für Bio-Konstruktion oder stösst sie auf Ablehnung?
Ich glaube, in Italien geschieht dasselbe wie in anderen Ländern: Viele Architekten und Architektinnen wollen sich gegenüber der Bio-Konstruktion nicht öffnen. Für Menschen mit festgefahrenen Strukturen ist es schwierig, sich für neue Ideen zu öffnen. Im Moment gibt es nur ein paar wenige, die Bio-Konstruktion unterstützen.
Bio-Konstruktion ist also einfacher in Lateinamerika zu realisieren als in Europa?
Absolut. Zudem sind sich die Menschen hier daran gewöhnt, irgendwie über die Runden zu kommen, auch ohne Profis an der Seite, in diesem Falle: ohne Architekten. Drum ist es einfacher in Südamerika ein Bio-Haus zu bauen als in Europa. Ich bin lediglich hier, um dem Karren anzustossen. Denn schliesslich hat jeder ein Gen, um zu konstruieren.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Romano Paganini lebt in Argentinien und ist seit kurzem selber in der Bio-Konstruktion tätig

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