Kurioser Streit um ein paar Sekunden
mdb. Der Bundesrat will die Einführung von Tempo 30 auf Hauptstrassen erschweren. Auf stark befahrenen Strassen innerorts sollen Flüsterbeläge eingebaut werden. Die Probleme: Flüsterbeläge sind teuer, und sie verlieren ihre Wirkung, wenn Schmutz die Poren verstopft. Tempo 30 hingegen hat – nüchtern betrachtet – keine Nachteile. Das zeigt der nachfolgende Artikel, der im Mai 2023 erstmals erschienen ist. Infosperber bringt ihn aus aktuellem Anlass nochmals.
Der Städteverband will Tempo 30 auf allen Strassen im Siedlungsgebiet – auch auf Hauptstrassen. Kaum war das Ende letzten Jahres bekannt geworden, opponierten in der NZZ am Sonntag der Gewerbeverband, der Touring-Club der Schweiz (TCS) und SVP-Nationalrat Gregor Rutz. Und in den Tamedia-Zeitungen doppelte der Verband Öffentlicher Verkehr (VÖV) nach.
Doch stimmt das überhaupt, was die Gegner ins Feld führen? Dass nämlich Tempo 30 zu wesentlich längeren Fahrzeiten führt? Infosperber wollte es wissen und hat werktags zur gleichen Zeit zehn Teststrecken in der Stadt Bern befahren – einmal mit maximal Tempo 30 und einmal mit maximal Tempo 50. Die Ergebnisse:
- Auf sechs Strecken unterschieden sich die Fahrzeiten kaum. Der Unterschied betrug höchstens drei Sekunden. Mit Tempo 50 war zwar die Fahrt schneller, dafür die Wartezeit an den Lichtsignalanlagen länger.
- Auf vier Strecken war Tempo 50 tatsächlich schneller. Und zwar um 3 bis 18 Prozent.
- Die Fahrzeit für alle zehn Strecken betrug eine gute Stunde. Genauer: 1:05:36 mit Tempo 50, 1:07:32 mit Tempo 30. Mit Tempo 30 war die gesamte Fahrzeit als nur um zwei Minuten oder drei Prozent länger.
- Der Benzin-Verbrauch betrug 7,4 l/100 km bei maximal Tempo 50, lediglich 6,9 l/100 km bei maximal Tempo 30.
- Die Durchschnittsgeschwindigkeiten inklusive Wartezeiten bei Lichtsignalen, an Kreuzungen und im Stau unterschieden sich kaum: 18,9 km/h bei Tempo 50, 18,4 km/h bei Tempo 30.
Tempo 50 vielerorts gar nicht möglich
Fazit: Die Zeitverluste sind minimal. Denn auf vielen Innerorts-Strecken gilt schon heute Tempo 30 oder sogar Tempo 20. Und selbst dort, wo Tempo 50 eigentlich erlaubt wäre, können Autofahrer häufig nicht so schnell fahren, weil der Verkehr stockt, weil es Rotlichter hat oder weil Fussgänger die Strasse überqueren. So schreibt die Schweizerische Vereinigung der Verkehrsingenieure und Verkehrsexperten (SVI) denn auch: «Reisezeitschwankungen durch die Interaktion der Verkehrsteilnehmenden sind meist grösser als die Verluste durch eine Änderung der signalisierten Geschwindigkeit.»
«Lärm macht krank»
Für den Städteverband ist die Gesundheit der Menschen ohnehin bedeutender als ein allfälliger Zeitverlust. «Lärm ist nicht nur lästig», schreibt er in einem Positionspapier, «sondern macht auch krank.» Er erhöhe Blutdruckwerte und Herzfrequenz, beeinträchtige den Schlaf, führe zu Nervosität und Reizbarkeit und reduzierte die Leistungsfähigkeit. Das müsste auch Bürgerlichen zu denken geben. Ebenso wie der Wertverlust von Immobilien, die starkem Lärm ausgesetzt sind.
«Kostengünstige Massnahme»
Der Lärm erschwert auch das Planen und Bauen, wie der Städteverband festhält: «Viele Projekte werden wegen Lärmeinsprachen blockiert.» Das gefährde die Stadtentwicklung. Demgegenüber sei Tempo 30 «eine wirkungsvolle, kostengünstige und einfach umsetzbare Massnahme – namentlich im Vergleich zu baulichen Massnahmen».
«Der Mensch steht über dem Auto»
FDP-Mitglied Anders Stokholm, Präsident des Städteverbandes und der Stadt Frauenfeld, bringt es auf den Punkt: «Niemand bestreitet, dass das Auto einen wichtigen Zweck erfüllt. Aber der Mensch und die Umwelt stehen über dem Auto. Das kann ich auch als Bürgerlicher sagen.» Der Städteverband fordert deshalb, dass «Tempo 30 in den Städten zur Norm wird». Dazu braucht es eine Änderung der Verkehrsregeln-Verordnung.
«Gegen das Gewerbe»
Angesichts des geringen Zeitverlusts, den Tempo 30 für Autofahrer mit sich bringt, überraschen die Aussagen von Hans-Ulrich Bigler, dem Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands. Er behauptet: «Das ist ein KMU-feindlicher Vorschlag. Besonders das produzierende Gewerbe kann sich die Zeitverluste nicht leisten, die mit flächendeckendem Tempo 30 verbunden wären. Damit würde das Gewerbe aus den Städten verdrängt.»
«Auf die Quartierstrassen»
Der TCS seinerseits sagt voraus, dass Tempo 30 den Verkehr in die Quartiere verlagere, «mit allen Nachteilen bezüglich Lärm und Sicherheit für die Bewohner». Doch dass der Verkehr in die Quartiere ausweicht, ist unwahrscheinlich. Denn auf Hauptstrassen kommen Autofahrer auch mit Tempo 30 wesentlich schneller voran als auf Quartierstrassen. Denn Quartierstrassen sind meist so schmal und unübersichtlich, dass verantwortungsbewusste Autofahrer ohnehin nicht mit 30 Kilometern pro Stunde fahren. Zudem können Autos auf vielen Quartierstrassen nicht kreuzen. Auch das würde zu Zeitverlusten führen.
«Aufs Land»
Und wenn SVP-Nationalrat Gregor Rutz sagt: «Hinter dieser Politik verbirgt sich der krankhafte Versuch, jede Art von Lärm in der Stadt zu beseitigen. Aber wer komplette Ruhe haben will, soll aufs Land ziehen.» Ja, dann erübrigt sich jeglicher Kommentar.
«Nicht gegen Tempo 30, aber…»
Erstaunlich ist, das sich sogar der VÖV-Direktor Ueli Stückelberger negativ zu Tempo 30 äussert. Er sagt: «Wenn der ÖV im Stau steht, gibt es keine smarte Stadt. Wir sind nicht gegen Tempo 30 an sich. Aber wir sind dagegen, wenn man es überall und ausnahmslos einführt.» Warum es mit Tempo 30 mehr Stau geben sollte, erklärt er allerdings nicht.
«Der Briefträger»
Auch aus der FDP, Anders Stokholms Partei, kommen keine überzeugenden Argumente. Nationalrat Christian Wasserfallen schimpft in den Tamedia-Zeitungen: Die Forderung des Städteverbands sei «vollkommen ideologisch». Sie stamme aus dem linken städtischen Milieu. «Schade, dass ein Freisinniger den Kopf hinhalten muss, um als Briefträger zu fungieren.»
Johannes Barth, Präsident der FDP Basel-Stadt, schilt: «Es ist ärgerlich, wenn ein prominenter FDP-Exponent solche Positionen einnimmt.» Und er kanzelt seinen Parteikollegen schliesslich ab: «Leider machen immer mal wieder ein paar Freisinnige einen Sololauf, der ganz und gar nicht ins Parteiprogramm passt.»
«Der Bevölkerung verpflichtet»
Anders Stokholm nimmt’s gelassen: «Als Exekutivpolitiker bin ich in erster Linie der Bevölkerung und der Sachpolitik verpflichtet.» Leider habe er von der Gegenseite noch nicht gehört, wie der vom Verkehr ausgehende Lärm ohne Tempo 30 effizient und effektiv bekämpft werden könne.
Fachleute sehen Vorteile
Gegen Tempo 30 auf Hauptstrassen spricht eigentlich nichts. So deutlich schreibt es die Schweizerische Vereinigung der Verkehrsingenieure und Verkehrsexperten (SVI) in ihrem Merkblatt «Tempo 30 auf Hauptverkehrsstrassen» zwar nicht. Aber wer das Dokument aufmerksam liest, kann zu keinem anderen Schluss kommen. Die SVI schreibt nämlich:
– Zum Ausweichverkehr: «Es ist kein dokumentierter Fall bekannt, bei dem aufgrund einer Reduktion von Tempo 50 auf Tempo 30 auf einer Hauptverkehrsstrasse unerwünschter Ausweichverkehr in die Quartiere aufgetreten ist.»
– Zur Strassenkapazität: «Auf die Leistungsfähigkeit hat eine Reduktion der Höchstgeschwindigkeit von 50 auf 30 Kilometer pro Stunde in der Regel keinen Einfluss. Innerorts liegt die maximale Leistungsfähigkeit üblicherweise bei einer Geschwindigkeit von 30 bis 35 Kilometern pro Stunde.»
– Zum Zeitverlust: «Häufig liegt die tatsächliche mittlere Geschwindigkeit innerorts und verstärkt zu den Hauptverkehrszeiten zum Teil deutlich unterhalb der Höchstgeschwindigkeit von 50 Kilometern pro Stunde. Als Faustregel kann in Folge der reduzierten Höchstgeschwindigkeit von 50 auf 30 Stundenkilometer mit einer realen Fahrzeitverlängerung von zwei Sekunden pro 100 Meter gerechnet werden. Wird mittels Tempo 30 eine Verstetigung des Verkehrsflusses erreicht, kann dies sogar eine positive Wirkung auf die Reisezeit haben.»
– Zur Lärmreduktion: «Tempo 30 bildet eine wirkungsvolle Massnahme zur Lärmreduktion an der Quelle. Die Untersuchungen zeigen, dass eine Herabsetzung der Geschwindigkeit von 50 auf 30 Kilometer pro Stunde eine Pegelreduktion von zirka drei Dezibel zur Folge hat. Dies entspricht in der Wirkung in etwa einer Halbierung der Verkehrsmenge. Die Störungen durch Pegelspitzen und rasche Pegelanstiege, vor allem auch in der Nacht, nehmen zudem merklich ab.»
Ähnlich tönt es in der Zeitschrift «Strasse und Verkehr» des Schweizerischen Verbandes der Strassen- und Verkehrsfachleute (VSS). Dort steht, «dass Tempo 30 auf verkehrsorientierten Strassen funktioniert und besonders in Städten und Dorfkernen das Potenzial als einfache und rasch umsetzbare Massnahme zur Verbesserung der Verkehrssicherheit und der Lärmsituation hat.»
Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) ihrerseits stellt fest: «Untersuchungen haben gezeigt, dass der Verkehr bei Tempo 30 besser fliesst, da Brems- und Beschleunigungsvorgänge abnehmen.»
Zum gleichen Schluss kommt der Schweizerische Städteverband in seiner Studie: «Mit einem stetigen Verkehrsfluss auf relativ tiefem Geschwindigkeitsniveau können Leistungsfähigkeit und Reisezeit auf einem Strassenabschnitt erhalten oder sogar verbessert werden.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Die Gegner von Tempo 30 in den Städten werfen den Befürwortern eine ideologische Haltung vor. Das Gegenteil ist wahr, denn ihre Haltung erfüllt alle Kriterien einer Ideologie gemäss Karl Popper (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde):
– faktenwidriges Behaupten sogenannter Wahrheiten («man bleibt im Stau stecken»)
– das Behaupten von Werturteilen als Tatsachen («gewerbefeindlich»)
– Vorhhandesein von Verschwörungsnarrativen (verantwortlich «das linke städtische Milieu», Anders Stokholm ist lediglich Briefträger etc.)
Fazit: Intellektuell erbärmlich, argumentativ dürftig und ich stelle mir die Frage: Ist das noch die Beta-Version von Politik oder möglicherweise schon Autoerotik?
Wirklich? Wollt ihr nicht eher gentrifizieren? Den Leuten ans Geld? Oder zahlt ihr schon so viel Miete, dass es für eine Auto nicht mehr reicht und neidet es eurem Nachbarn der das noch kann? Überall wo Tempo 30 kommt, steigen nachher die Mieten. Die Leute die das unterstützen, schaden sich alle selber und die die dort Wohnen können sich gleich eine andere Unterkunft suchen.
Studien bräuchte es eigentlich nicht, wenn Autofahrer ihre Fahrzeiten objektiv wahrnehmen würden. Sie meinen Zeit nur beim behördlich verordneten Langsamfahren zu verlieren und «vergessen» die Zeit, die sie warten müssen vor Ampeln, Kreisverkehr, Fussgängerstreifen, nicht überholbaren Velofahrern auf schmalen Strassen, hinter Bus an Haltestellen usw. Die «Verlangsamung» durch Tempo 30 ist innerstädtisch, innerhalb von Siedlungen – und nur darum geht es – meist kaum eine Verlangsamung.