100_Prozent_erneuerbar-1

Buch-Cover © Orell Füssli Verlag

Die Stromsicht des Ruedi Rechsteiner

Hanspeter Guggenbühl /  Buchautor Rechsteiner zeigt den Weg zur erneuerbaren Stromversorgung. Besser wäre eine optimale Energieversorgung.

»100 Prozent erneuerbar – so gelingt der Umstieg auf saubere erschwingliche Energien.» Dieser Titel von Ruedi Rechsteiners neuem Buch verspricht mehr, als der Inhalt hält. Denn die «100 Prozent erneuerbar» beschränken sich auf die Elektrizität. Diese deckt aber nur einen Viertel des Schweizer Energieverbrauchs. Die übrigen drei Viertel der Energie bezieht die Schweiz zu 90 Prozent aus nicht erneuerbaren Quellen, vorab aus importiertem Erdöl und Erdgas. Die Elektrizität hingegen stammt schon heute zu 55 Prozent aus erneuerbarer Wasserkraft.

Drei mögliche Szenarien bis 2030

Dem Buchautor geht es also um die 45 Prozent des Schweizer Stroms, die bislang hauptsächlich mit Atomkraft produziert werden, sowie dem Verbrauchszuwachs bis 2030. Diese Elektrizität soll mit erneuerbarer Energie produziert und mit Effizienzsteigerung teilweise eingespart werden. Die Lösung präsentiert Rechsteiner, der sich als scharfzüngiger SP-Politiker, Energieexperte und AKW-Gegner einen Namen machte, mit drei Szenarien:

– Das Szenario «solar & effizient» setzt primär auf eine dezentrale Stromproduktion im Inland mit hohem Anteil an Photovoltaik sowie auf strenge Vorschriften zur Reduktion des spezifischen Stromverbrauchs.

– «Europäisch vernetzt» baut stärker auf Importe von Windstrom; der Anteil von Photovoltaik und die Wirkung von Effizienzsteigerungen sind hier kleiner.

– «Binnenorientiert mit Gas» ist kein «100 Prozent erneuerbar»-Szenario, denn es rechnet mit einem namhaften Anteil an fossiler Stromproduktion in inländischen WKK-Anlagen; entsprechend geringer ist der Anteil an Photovoltaik und importiertem Windstrom.

Bekannte Fakten, neue Einsichten

Der Autor stützt seine Sicht mit einer Fülle von Informationen über Entwicklungen, Potenziale und Möglichkeiten der erneuerbaren Stromproduktion. Interessierte Laien erhalten damit einen leicht verständlichen Einblick ins Thema. Fachleuten bietet das Buch mit seinen vielen Grafiken eine handliche Zusammenfassung von bekannten Fakten, zusammen getragen aus Statistiken und Studien.

Selbst Fachkundige entdecken dabei neue Zusammenhänge. So zeigt zum Beispiel der grafische Vergleich auf Seite 54, dass alpine Solaranlagen in den Wintermonaten einen höheren Anteil Strom produzieren als Laufwasserkraftwerke; eine Information, die gegen die Förderung von Wasserkraftwerken spricht. Und der Flächenvergleich auf Seite 106 lehrt, dass der Energieertrag aus Biomasse pro Quadratmeter Fläche um einen Faktor 50 geringer ist als jener aus Photovoltaik. Das illustriert, wie unsinnig die Produktion von Agrartreibstoff ist.

Parteigutachten für erneuerbare Stromversorgung

Informationen sind nie wertfrei, sonst wären sie wertlos: Die Wahl der Informationen beeinflusst die Aussage. Und die Aussage – in diesem Fall «100 Prozent erneuerbar ist möglich» – bestimmt die Wahl der Fakten. Ruedi Rechsteiner Buch ist ein Parteigutachten wie die meisten Studien. Das Gute daran: Es liefert jenen Leuten und Parteien wichtige Daten und Argumente, die erkennen, dass eine Stromversorgung, die auf grenzenlosen Risiken (Atomkraft) oder begrenzten Ressourcen (fossile Energie) basiert, langfristig keine Zukunft hat.

Verdienstvoll ist, dass der Autor trotz seines Engagements für erneuerbare Energie auch auf einge Probleme hinweist, welche die Verstromung der Wind- und Solarkraft mit sich bringt. Dazu gehört der weiträumige Transport von Windstrom oder der Speicherbedarf für die unregelmässige Ernte von Solarstrom. Unerwähnt bleibt leider das Überschuss-Problem, das entsteht, wenn bei einem massiven Ausbau der Photovoltaik (Szenario 1) an einem schönen Juli-Tag alle Photovoltaik-Anlagen auf Hochtouren produzieren und damit eine Mittagsspitze erzeugen, die den temporären Verbrauch im Inland massiv übersteigt (siehe Infosperber vom 2. März 2012: «Wie sich das solare Matterhorn einebnen lässt»).

Der Stromblick verstellt die Energiesicht

Das Gutachten enthält allerdings zwei Schwächen: Rechsteiner verlängert die stolzen Wachstumsraten, welche die Quersubventionierung (Einspeisevergütung) von Wind- und Solarstrom in den letzten Jahren vor allem in Deutschland bewirkte, unbesehen in die Zukunft. Solche Fortschreibungen sind fragwürdig. Denn sie lassen Rückschläge und Brüche ausser Acht, welche die stark schwankenden Marktpreise im Energiesektor nach sich ziehen. Beispiele: Die Wirtschaftskrise führte zum Einbruch der Solarstrom-Förderung in Spanien. Oder der Abbau von Schiefergas lässt die Gaspreise einbrechen und vermindert damit die Konkurrenzfähigkeit von und die Investitionsbereitschaft in Windkraftwerke.

(Wohin blinde Extrapolation führen kann, lehrte uns zum Beispiel der Ökonom Sivio Borner. Er extrapolierte im Jahr 2004 die Wachstumsraten von Staaten aus den letzten 30 Jahren auf die nächsten 30 Jahre. Ein Resultat dieser Extrapolation griff damals die Wirtschaftsredaktion des «Tages-Anzeiger» heraus. Demnach wäre der Wohlstand im «wachstumsstarken» Irland in den nächsten 30 Jahren auf ein Vielfaches des Wohlstandes der «wachstumsschwachen» Schweiz gestiegen. Die Finanzkrise machte vier Jahre später diese Extrapolation zur Lachnummer.).

Die zweite Schwäche: Mit der eingangs erwähnten Fokussierung auf die Stromproduktion verstellt Rechsteiners Buch die Sicht auf die nicht erneuerbare Energie, welche die Bevölkerung und die Wirtschaft ausserhalb des Elektrizitätsbereichs ver(sch)wenden. In den Bereichen Verkehr und Raumwärme etwa lässt sich weit mehr nicht erneuerbare Energie sparen oder mit Solarwärme effizienter ersetzen (Warmwasser-Vorwärmung) als beim Strom allein. Selbst wenn ein kleiner Teil dieser eingesparten fossilen Energie eingesetzt wird, um den Umstieg auf eine erneuerbare Stromversorgung mit einigen Gaskraftwerken zu flankieren, bliebe die Bilanz unter dem Strich positiv. Denn optimaler, naturgerechter und wohl auch billiger als die 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung, die Rechsteiner anstrebt, wäre es, den gesamten Energieverbrauch zu halbieren und den Restbedarf – zum Beispiel – zu 80 Prozent mit erneuerbarer Energie zu decken.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Rezensent schreibt als Journalist selber über Energie und vertritt teileweise eine ander Sicht als Ruedi Rechsteiner.

Zum Infosperber-Dossier:

SolaranlageBauernhof-1

Energiepolitik ohne neue Atomkraftwerke

Erstes, zweites und drittes Gebot: Der Stromverbrauch darf nicht weiter zunehmen.

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