Kommentar

Verantwortungs-Los

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsKeine ©

Jürgmeier /  Geschichte von einem, der immer pünktlich zur Arbeit erschienen ist.

Ich stelle ihn mir als einen vor, der während vieler Jahre nie die Tupperware-Schüssel mit dem Vorgekochten vergessen hat, immer pünktlich zur Arbeit erschienen ist und sich, zum Beispiel, bei jedem Wetter um seinen Pflanzblätz kümmert. Nur zwei Mal ist er eine halbe Stunde zu spät zum Dienst gekommen. Was er jeweils telefonisch ankündigte. Einmal bat ihn sein Vater – «Ich selbst bin viel zu aufgeregt» – vor dem Frühdienst, die Mutter wegen akuter Bauchschmerzen ins Spital zu fahren. Das zweite Mal hatte er – aus Angst, seine Frau habe sich in eine andere verliebt – die ganze Nacht wach gelegen, war mehrmals aufgestanden, in der Viereinhalbzimmerwohnung herumgetigert und erst kurz vor dem Klingeln des Weckers eingenickt, stellte diesen im Schlaf ab, um eine halbe Stunde später aufzuschrecken, weil ihn das Pflichtgefühl aus seinem Alptraum riss. An allen anderen 6‘900 Tagen erledigte er seine Arbeit rechtzeitig und ohne registrierte Fehler. Unabhängig davon, ob er am Abend zuvor eine Liebeserklärung oder die Kündigung der Wohnung erhalten hatte, eines seiner Kinder die Aufnahmeprüfung für die Hochschule der Künste bestanden hatte oder von der Polizei nach Hause gebracht worden war, sein bester Freund die Diagnose «Amyotrophe Lateralsklerose» oder die Lieblingstante einen Lottogewinn ausbezahlt bekommen hatte.
Ich denke ihn mir als einen von denen, die höchstens einmal im Leben, zum Beispiel als Gewinner des Hauptpreises einer Turnfesttombola, als Teilnehmer an einer dieser unzähligen Quizsendungen oder als Eigentorschütze in einem Viertligaspiel, für Minuten ins Scheinwerferlichtchen geraten, um – nachdem sie von einem Lokalblatt gefragt worden sind, wie sie sich dabei gefühlt hätten – wieder in der gemeinen Anonymität derer zu verschwinden, die unbeachtet sowie gegen gewöhnliches Gehalt das Selbstverständliche tun und deshalb, nach eigener Einschätzung, nichts zu erzählen haben.
Jetzt haben die Medienredaktionen das Bild des grauhaarigen Mannes mit Blut und Handy am Kopf in die mondialen Schlagzeilen gerückt und den unbekannten Angestellten, wenigstens für Tage, zum berühmtesten Lokomotivführer der Gegenwart gemacht. Der, zum Beispiel, bei Santiago de Compostela einen Zug mit 190 statt 80 Stundenkilometern in die Kurve und 79 Menschen in den Tod fuhr. «Wir sind nur Menschen, wir sind nur Menschen!» Soll der Ahnungslose der Kontrollstelle unmittelbar nach dem Unfall gefunkt haben. «Ich hoffe, es gab keine Toten, sonst hätte ich sie auf dem Gewissen» (Tages-Anzeiger, 26. Juli 2013). Das ist der Moment, in dem wir uns an die Männer und Frauen im Führerstand erinnern. Oder wann haben Sie zum letzten Mal einem Lokführer, einer Pilotin oder einem Buschauffeur persönlich dafür gedankt, dass ersie Sie sicher an den Ort Ihrer Träume beziehungsweise Notwendigkeiten gebracht hat? Aber wenn wir ein Date verpassen, zu spät zu einer Präsentation oder unsere FreundInnen gar nicht, nie mehr kommen, rufen wir nach den Schuldigen, zeigen mit dem Finger auf die Menschen, die versagt haben, und fordern, als Wiedergutmachung, ihren Kopf.
Diejenigen aber – die für ihre besondere Verantwortung, für ihr schweres Los mit marktigsten Löhnen entschädigt werden –, lassen wir ziehen. Nachdem sie, mit tief gefurchter Stirn, andere die Konsequenzen ihres Handelns haben tragen lassen, sie, die Arbeitsplätze von Zehntausenden, Renten&Brot von Hunderttausenden verspielt haben. Lassen sie gehen, mit gut gefüllter Pensionskasse, einer Abfindung – die es ihnen ermöglicht, Teint&Golf-Handicap während der nächsten ruhigeren Jahre zu pflegen – und manchmal etwas Geschrei. Immer mal wieder wird bei solcher Gelegenheit an die Eigenverantwortung aller erinnert.
Das menschliche Versagen des Lokomotivführers und der Pilotin aber klagen wir als fahrlässige Tötung ein, machen ihn/sie allein verantwortlich für die Folgen einer Technologie, die das Menschenmögliche überschreitet, weil sie nicht mit schwerstnormalen Unzulänglichkeiten rechnet. Das wissen wir, und trotzdem steigen wir vertrauensvoll&gedankenlos in ZügeFliegerBusse. Überlassen uns fremden Menschen, mit denen wir, zum Beispiel, nicht in der Sauna schwitzen möchten. Schauen, jede Verantwortung los, fasziniert&ausgeliefert auf das Tempodigital in Hochgeschwindigkeitszügen; staunen&gruseln uns eins ums andere Mal, dass die Zaubermaschine abhebt und, später, wieder herunterkommt. Wir essen, arbeiten, parlieren, lesen und liebeln, während irgendwo ein einsamer Mensch mit unseren Ansprüchen – schnell, pünktlich, sicher ans Ziel – und dem Restrisiko des von uns gewählten Transportmittels zurechtzukommen sucht. Und das sowohl für Reisende als auch für SteuerzahlerInnen zum günstigsten Tarif.
Was soll er – wenn er sich, mit grosser Verspätung allerdings, nach diesem einen, diesem besonderen Arbeitstag, an dem er das Verantwortungs-Los gezogen hat, an den eigenen Tisch sinken lässt – seiner Frau und seinen Kindern sagen? «Wie wollen Sie, dass ich mich beruhige? Nach dem, was ich hier verursacht habe, würde ich lieber sterben» (Tages-Anzeiger, 31 Juli 2013). Zum Beispiel?


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4 Meinungen

  • am 21.08.2013 um 13:44 Uhr
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    Die zunehmende Ungerechtigkeit, der Welt Krankheit, erzeugt überfordernden Druck auf alle. Die führt vermehrt zu Fehlern, welche gravierende Konsequenzen haben. Rassismus und Vorurteile nehmen zu. Gehen wir die Ursache an, werden wir am meisten Erfolg haben. Dann wird man mir im Spital in Basel auch nicht mehr ausversehen eine tödliche Dosis Schmerzmittel auf das Nachttischlein stellen, was ich dank meiner medizinischen Kenntnisse bemerken konnte. Die verantwortliche Person, die überschminkte schwarzhaarige Dame mit den hohen Schuhen, hatte nie die Courage sich dafür zu entschuldigen. Warum auch? Sie ist ja genauso Opfer wie ich es fast geworden wäre. Die Elite der Milliardäre, die Regenten unserer Gesellschaft, welche nur die unwichtigen Dinge der Demokratie überlassen, von dort kommt der Druck. Enteignet sie, holen wir demokratisch zurück, was sie uns gestohlen haben, nicht nur das Kapital, sondern auch unsere Zeit, damit der Druck wieder schwindet, die Fehler und die Toten abnehmen. Bald ist in diese Richtung die erste Abstimmung 1:12, ich denke, wir wissen was wir zu tun haben. Was würde geschehen wenn wir mehr EU in unserem Lande hätten? Und deren Richter? Es würde wohl mit einigen Politikern in der Schweiz das geschehen was mit Herrn Berlusconi geschehen ist, rückwirkend. Wäre dies nicht ein gutes Zeichen, weg von der Vettern und Vereinswirtschaft? Gruss Beatus Gubler

  • am 21.08.2013 um 15:30 Uhr
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    Die vielen Menschen, die sich täglich ohne mediale Aufmerksamkeit und mit grösstem Pflichtbewusstsein für andere einsetzen sind die grosse Mehrheit. Erstaunlich sind entsprechend Volksentscheide zu Gunsten der verantwortungslosen Abzocker. Warum stimmt eine Mehrheit für den eigenen Metzger? Ich bin gespannt auf das Ergebnis der 1:12-Initiative.

  • am 21.08.2013 um 19:48 Uhr
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    Weil beim auszählen der Stimmen beschissen wird, wie vermutlich damals bei der Gsoa. Darum immer wieder die grossen Differenzen bei neutralen Umfragen und dann bei den Abstimmungsresultaten. Wir werden gezielt desinformiert, im Schweizer Fernsehen zeigen sie die Umfragen von einem eventuell manipulierten Meinungsumfrageinstitut, und diese Umfragen stimmen dann meist überein mit den Abstimmungsresultaten. Wenn ich aber 100 Personen danach frage, was sie abgestimmt haben, kommt was ganz anderes dabei raus. Ebenfalls wenn ein deutsches Institut vor einer Abstimmung eine Meinungsumfrage macht. Mein verstorbener Vater war Gewerkschafter, (Damals CMV, wie ich später auch) er setzte sich ein für mehr soziale Gerechtigkeit für die Arbeiter. Er sah oft hinter die Kulissen, da er oft vom Vater Staat engagiert wurde wegen seiner Kompetenz als Brandschutzexperte für das Reduit. Obwohl ich mir in erzieherischem Sinne einen anderen Vater gewünscht hätte, so muss ich doch sagen dass er seines Glaubens wegen absolut ehrlich war, genauso wie sein verstorbener Bruder Peter Gubler, welcher militärische (Er war im Offizierskader) und politische Karriere machte. Beide haben mir Dinge erzählt, welche mir sehr fragwürdig erschienen. Sie erzählten von Technologien welche revolutionär wären, entwickelt zusammen mit Technikern der USA, dass bei Abstimmungen zum Wohle des Volkes manchmal etwas korrigiert werde, zu unserem Schutze. Mein Vater wurde manchmal für Wochen ins Reduit geholt, für Planungen von Brandschutzvorrichtungen, auch die Nasa profitierte von seinem Wissen, wenn es um die Kühlung der Raketenabschusstürme ging. Die von ihnen zum Wohle des Volkes gepriesene Geheimhaltung, das Gerede von einer Armee in der Armee, das vorenthalten von hochentwickelten Technologien gegenüber der Öffentlichkeit, und die gezielte Desinformation mit Debatten über eigentlich überflüssige Flieger, diese ganze Geheimhaltung kann aber auch missbraucht werden um die Demokratie zu demontieren um eine Eliteherrschaft aufzubauen. Vielleicht sollte eine neutrale Abstimmungsgesellschaft gegründet werden, mit juristischem Background, abgesichert durch die Menschenrechtskonvention und deren Abstimmungsüberwacher. Wir sollten das auszählen der Stimmen, sowie die Information des Volkes über die Konsequenzen einer Abstimmung nicht mehr dem Staatsapparat überlassen, da er mir dafür nicht mehr kompetent und vertrauenswürdig genug erscheint. Er ist korrumpiert von der Wirtschaft und dem elitären Handeln der Multimilliardäre. Das Volk sollte dies selber in die Hand nehmen, und dann schauen wir mal, wie dann die Abstimmungsresultate aussehen. Gruss Beatus Gubler

  • am 22.08.2013 um 08:37 Uhr
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    Wie wäre es, wenn wir uns alle freundlich beim Buschauffeur oder Tramführer beim Aussteigen freundlich bedanken würden. Ich mache das schon lange so und sie freuen sich meistens darüber.
    Hans Arnold

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