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Durchaus denkbar: In den USA wird gewählt, aber niemand hat danach gewonnen. © Vox EfX/flickr/cc

Neuer Alptraum: Weder Obama noch Romney gewählt

Jürg Lehmann /  Am 7. November erwacht die Nation und sieht, dass beide Kandidaten je 269 Elektorenstimmen haben. Keiner ist Präsident. Was nun?

Nach den Verheerungen durch den Riesenstrum «Sandy» steuern die USA möglicherweise auch noch auf eine politische Katastrophe zu: Ein Patt bei den Präsidentschaftswahlen vom 6. November. Die Sturmfolgen und die Reaktionen der Kandidaten darauf können die Wahlen ebenfalls noch beeinflussen. Eine knappe Entscheidung wird es so oder so, wie Prognosen hartnäckig verdeutlichen.

Das Szenario gründet auf einer Besonderheit des US-Systems: Die Wahlberechtigten geben ihre Stimme nicht direkt für die Kandidaten ab, sondern für die Mitglieder des «Electoral College», das seinerseits den Präsidenten wählt. Zur Zeit besteht das Gremium aus 538 auf die 50 Bundesstaaten proporzmässig verteilten Mitgliedern.

Im laufenden Kopf-an-Kopf-Rennen bis zum Wahltag am 6. November ist es nicht ausgeschlossen, dass Barack Obama und Mitt Romney am Ende je genau 269 Elektorenstimmen erhalten. Massimo Calabresi, Journalist beim «Time-Magazine», hat nachgerechnet, wie es zum Patt 269:269 kommen könnte:

• Romney gewinnt neben den sicheren republikanischen Festungen die sogenannten «Swing States» Florida, Virginia, Iowa, Nevada und Colorado.

• Obama holt neben den traditionellen demokratischen Hochburgen die vier «Swing States» Ohio, Wisconsin, New Hampshire und New Mexiko.

Eine gute und eine schlechte Nachricht

Um Präsident zu werden, braucht einer der beiden Bewerber 270 Elektorenstimmen. Dabei spielt es keine Rolle, ob er übers das ganze Land gesehen mehr Wählerstimmen hat als sein Konkurrent. In den allermeisten Bundesstaaten gilt das Mehrheitswahlrecht, das heisst, wer dort die meisten Stimmen hat, erhält sämtliche Elektorenstimmen.

Was geschieht aber bei einem Patt? Calabresi schreibt: «Die gute Nachricht ist, dass die Verfassung einen detaillierten Plan liefert, was zu tun ist, wenn keiner auf 270 kommt; die schlechte Nachricht ist, dass dieser Plan ein Rezept für das Chaos ist.»

256 Elektoren sind ungebunden

Nur 26 Staaten verpflichten ihre Elektoren darauf, jenen Kandidaten zu wählen, auf den er oder sie verpflichtet wurden. 256 Elektoren dagegen sind ungebunden, sie können also ihre Präferenz ändern. Man kann sich leicht vorstellen, was in den USA los wäre, wenn es darum ginge, dass eine einzige Elektorenstimme die Wahl entscheiden könnte. Die Deadline für Elektoren-Hüpfer vom einem zum anderen Kandidaten ist der 11. Dezember, bevor das College am 17. Dezember zur Bestätigungswahl zusammentritt.

Haben zu diesem Zeitpunkt weder Obama noch Romney 270 Elektoren auf ihrer Seite, muss laut Verfassung das Repräsentantenhaus am 6. Januar 2013 den nächsten US-Präsidenten wählen. Dabei hat jeder Bundesstaat eine Stimme. Gewählt ist, wer mindestens 26 Stimmen erreicht. Romney hätte hier leichte Vorteile, weil man davon ausgeht, dass nach den Wahlen – bei denen auch die Abgeordneten gewählt werden – das Repräsentantenhaus weiterhin mehrheitlich republikanisch sein wird.

Präsident Romney mit einem Vize Biden?

Die Wahl des Vizepräsidenten aber fiele in die Zuständigkeit des Senats, der wohl auch nach dem 6. November auf eine knappe demokratische Mehrheit zählen kann. Das würde wiederum Obamas Viez Joe Biden bevorteilen. Am Ende könnte dies zu einem republikanischen Präsidenten Mitt Romney und einem demokratischen Vizepräsidenten Joe Biden führen – eine absurde Konstellation nach Art der Vereinigten Staaten.

Das Chaos kann angesichts des knappen Rennens allerdings schon viel früher einsetzen – nach der Auszählung der Stimmen in den neun «Swing States» nämlich. In den meisten dieser Staaten ist eine Nachzählung vorgesehen, falls die Kandidaten-Stimmenzahlen eng beieinander liegen. Der US-Statistiker Nate Silver erklärt, es könne vor allem im Bundesstaat Ohio dazu kommen. Er schätzt die Wahrscheinlichkeit hier auf 50 Prozent.

Ungute Erinnerungen ans Jahr 2000

Da werden sofort ungute Erinnerungen an die Präsidentschaftswahlen aus den Jahr 2000 wach, als es zu einem juristischen Hickhack in Florida kam. Es dauerte nach der Wahl mehr als einen Monat, bis im Sonnenstaat ein Ergebnis feststand. Der Oberste Gerichtshof der USA verbot schliesslich letztinstanzlich eine erneute Nachzählung in bestimmten Wahlkreisen Floridas und machte damit indirekt George W. Bush zum Präsidenten. Er gewann den Bundesstaat umstritten mit 537 Stimmen Differenz.

Bush konnte 271 Elektoren hinter sich bringen und wurde Präsident, obschon der Demokrat Al Gore über die gesamten USA hinweg eine halbe Million Stimmen mehr erhalten hatte. Gore kritisierte am 13. Dezember 2000 in einer TV-Ansprache das Oberste Gericht, verzichtete dann aber doch «im Interesse unserer Einheit als Volk und der Stärke unserer Demokratie» auf die Präsidentschaft. Das fiel ihm sichtlich schwer.

Das Image des Obersten Gerichts und die demokratische Kultur wurden angesichts der Vorgänge in Florida beschädigt. Es wäre ein politischer Alptraum, würde sich dieses oder ein ähnliches Schreckens-Szenario zwölf Jahre später wiederholen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

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US-Wahlen 2012

Am 6. November wird nicht nur der Präsident, sondern auch der Kongress gewählt. Mit Folgen für die Welt.

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