Armut Argentinien

Elendsviertel am Rand von Buenos Aires: Mehr als die Hälfte der Ar­gen­ti­nie­r leben laut einer neuen Studie in Armut. © Wikimedia/Aleposta/cc

Lateinamerika zwischen Tragödie und Euphorie

Romeo Rey /  Die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung läuft in den Ländern des Subkontinents weit auseinander.

Romeo Rey
Romeo Rey, früher Lateinamerika-Korrespondent von «Tages-Anzeiger» und «Frankfurter Rundschau», fasst die jüngste Entwicklung zusammen.

Seit Dezember des vergangenen Jahres ist Präsident Javier Milei in Argentinien am Ruder. Aus dem Füllhorn von Kommentaren über seine ersten Massnahmen greifen wir einen Beitrag heraus, der in der österreichischen Tageszeitung Der Standard erschienen ist. Er enthält Daten, die manche Argentinien-Reisende bestätigen können. Dabei wird – bei nunmehr rund 270-prozentiger Teuerung und gleichzeitig radikalen Sparversuchen der Regierung – die dramatische Verschlechterung der Lebensqualität in den Fokus gerückt. Davon sind mindestens zwei Drittel der Bevölkerung massiv betroffen, während eine Minderheit, die rechtzeitig in harte Devisen flüchten konnte, trotz der schweren Krise im Überfluss schwelgt.

Eine erste wirtschafts- und finanzpolitische Zwischenbilanz ist auf der Börsenplattform Cashkurs zu lesen. Hier wird auf nicht zu unterschätzende Machtfaktoren im «Land der Gauchos» hingewiesen: Das sind zum einen die mehrheitlich oppositionell gesinnten Gouverneure in 22 von 24 Provinzen, zum andern die nach wie vor einflussreichen Gewerkschaften, deren Wirken auch die verschiedenen Militärregime der jüngeren Geschichte nicht entscheidend eindämmen konnten.

Das Nachrichten-Portal amerika21 veröffentlicht den Unicef-Bericht zu Armut in Argentinien und die Auswirkungen für Kinder. Die Ergebnisse von Untersuchungen der Katholischen Universität des Landes (UCA) zeichnen ein erschreckendes Bild. Klar ist jedoch, dass diese Zustände nicht allein Milei verantwortet. Vielmehr sind sie das Ergebnis von politischer Instabilität, dem jahrzehntelangen Schwanken zwischen Populismus und liberal, vor allem von neoliberal orientierten Regierungen, die ebenso viel Unheil angerichtet haben wie die Versuche der Peronisten, das Schicksal der Massen mit dirigistischen Massnahmen zu lindern.

Als zuverlässigste Stütze des neuen Staatspräsidenten erweist sich bislang der Internationale Währungsfonds IWF. Allerdings sind dessen Hilfsangebote – wie meistens in solchen Notlagen – mit vielen Auflagen verkettet. So hat der IWF mit Buenos Aires einen Milliardenkredit vereinbart, doch ein beträchtlicher Teil davon soll für die Übernahme von zwei Dutzend weitgehend obsoleten F-16 Kampfflugzeugen aus Beständen der dänischen Luftwaffe verwendet werden, berichtet die russische Presseagentur RT. Wer die Dynamik solcher «Geschäfte» gerade im chronisch überschuldeten Argentinien kennt, das zudem mitten in einer schweren sozialen Krise steckt, kann ob solcher Finanzhilfe nur den Kopf schütteln.

Wahlen in Mexiko: Zwei Frauen wollen an die Macht

Vergleichsweise rosig präsentiert sich vor dem nächsten Regierungswechsel die Lage in Mexiko. Die Deutsche Welle präsentiert eine kurze und kompakte Vorschau auf die allgemeinen Wahlen vom 2. Juni. Der Kampf um die Präsidentschaft und damit um die Nachfolge des gemässigt linksgerichteten Andrés Manuel López Obrador wird zwischen zwei Frauen mit ähnlichem Programm ausgetragen. Das gilt bis auf Weiteres als einzigartig in der Geschichte Lateinamerikas, ganz besonders im einstigen Aztekenstaat, einer Hochburg des Machismo. Wirtschaftlich sieht es in Mexiko nach fast sechs Jahren López Obrador bemerkenswert gut aus – zumindest hinsichtlich einiger ökonomischer Eckdaten, stellt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD fest.

Favoritin im Rennen um die Präsidentschaft in Mexiko ist die ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum. Wer mehr über sie erfahren will und Spanisch versteht, sollte sich mit der ausführlichen Analyse in Nueva Sociedad befassen, wo zahlreiche Fakten, Hintergründe und Zusammenhänge beleuchtet werden.

Honduras: Reformen kommen nur schleppend voran

Im Infosperber-Dossier «Politik in Süd- und Mittelamerika» versuchen wir, auch Entwicklungen in kleineren, von den grossen Medien nur selten beachteten Ländern nicht ganz aussen vor zu lassen. Honduras ist eines jener Beispiele abseits der internationalen Informationskanäle. Umso wertvoller sind uns die Erfahrungen des Korrespondenten der genossenschaftlich organisierten Tageszeitung taz in Zentralamerika. Seine Beobachtungen bestätigen den Eindruck, dass auch in diesem Fall die Konflikte zwischen Reformpolitik und konservativer Opposition zu einer Verschleppung der Reformen führen. Gleichzeitig bremst die Schwerfälligkeit der Bürokratie, in der sich meistens noch zahlreiche Anhänger früherer Herrschaften an gewisse Privilegien krallen, die Verwirklichung von neuen Projekten und Prioritäten. Andererseits hat der Korrespondent auch ein Auge auf Verbesserungen, zum Beispiel im öffentlichen Gesundheitswesen.

Ölrausch in Guyana

Euphorische Nachrichten kommen aus einem der kleinsten und wirtschaftlich bisher schwächsten Staaten Lateinamerikas: Guyana. In absoluten Zahlen exportiert die frühere britische Kolonie wenige Jahre nach Ausbruch des Booms mehr Erdöl als das benachbarte Venezuela, kaum sind erste Förderanlagen aus dem Boden gestampft worden. Was das Bild auf den ersten Blick trübt: Caracas erhebt Anspruch auf mehr als die Hälfte des guyanischen Territoriums, und just auf das Gebiet, wo ExxonMobil in der Mündung des Esequibo River fündig geworden ist. Venezuela wird kaum jemals Hand darauf legen können, denn Washington hat der Regierung in Georgetown rasch alle nötige Protektion versprochen.

Karibikstaaten: Niedergang und Aufschwung

Trostlos und explosiv hingegen ist die allgemeine Lage in Haiti. Berichte über ein tollwütiges Bandenwesen, Inbegriff des Zerfalls der staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen, jagen sich förmlich durch die Weltpresse. Darüber berichtet zum Beispiel die NZZ. Immerhin, das Bewusstsein der Verantwortung Frankreichs in dieser tragischen Dekadenz, als Paris während anderthalb Jahrhunderten riesige Beträge als «Entschädigung» für die damalige Befreiung aus der Kolonialherrschaft presste, scheint allmählich ins historische Bewusstsein der Chronisten einzudringen. Wiederum völlig konträr sind die Verhältnisse auf dem östlichen Teil der Insel Hispaniola beim Nachbarstaat, der Dominikanischen Republik. Während Haiti in Chaos und Anarchie versinkt, wächst diese karibische Nation seit dem Sturz von Diktator Rafael Trujillo (1961) in beachtlich stabiler Ordnung und mehrheitlich sozialdemokratisch regiert zu einem der beliebtesten touristischen Ziele heran.

Kolumbien: Die Landverteilung als Kernproblem

Scharfe Kontraste entdeckt man auch im südlichen Amerika. Kolumbiens gemässigt linke Regierung des früheren Guerillakommandanten Gustavo Petro schlägt sich seit bald zwei Jahren mit bisher geringem Erfolg mit dem Kernproblem dieses Landes herum: der extrem einseitigen Verteilung von Grund und Boden. Die Landfrage beschäftigt vor allem alternative Medien, in diesem Fall die linksgerichtete deutsche junge Welt. Millionen Campesinos sind in vergangenen Jahrzehnten enteignet und vertrieben worden. Das ist die tiefere Ursache der endemischen Gewalttätigkeit in diesem Land, die sowohl von rechts wie auch von links immer wieder provoziert wird. Petros zentrales Anliegen ist eine umfassende Rückverteilung des Bodens, die jedoch nur mittels finanzieller Entschädigung durchführbar sei.

Ecuador: Sturm auf mexikanische Botschaft hat Folgen

Im Auftrag der Regierung des jungen, konservativen Präsidenten von Ecuador, Daniel Noboa, ist ein schwer bewaffnetes Sonderkommando der Polizei gewaltsam in die mexikanische Botschaft eingedrungen, um den früheren Vizepräsidenten der Republik, Jorge Glas, festzunehmen. Dieser ist wegen diverser Korruptionsfälle angeklagt und hatte in der mexikanischen Botschaft in Quito Schutz gesucht. Die Polizeiaktion verstösst gegen anerkannte Regeln des internationalen Rechts, das Asylsuchende vor gewaltsamen Übergriffen schützt und den Asyl gewährenden Nationen – in diesem Fall Mexiko – das Recht auf Unantastbarkeit ihrer diplomatischen Vertretung gewährleistet. Eine gründliche journalistische Aufarbeitung dieser heiklen Affäre ist in der NZZ zu lesen.

Zum Schluss drei kürzere Artikel, die Beachtung verdienen. Laut Meldungen diverser Agenturen aus Brasilien leiden die Yanomami, eines der vom Aussterben bedrohten Urvölker des Amazonasgebiets, unter Vergiftungserscheinungen, die auf die illegale Tätigkeit von Goldsuchern (Garimpeiros) zurückzuführen sind. Das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt, aber bisher konnte keine Regierung die Goldgräber aus den Schutzgebieten vertreiben.

Zum Hinschied von Martín Almada, einem unermüdlichen Kämpfer für Gerechtigkeit in Paraguay, hat die taz einen Nachruf publiziert, eine posthume Ehrung, die in hohem Masse gerechtfertigt ist. Selber Opfer eines der übelsten Regime in der Geschichte Lateinamerikas, der Stroessner-Diktatur, wurde Almada 2002 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Uruguay kann als einer der wenigen Staaten des Subkontinents gelten, die demokratisch glaubwürdig, politisch über Jahrzehnte stabil und gleichzeitig wirtschaftlich relativ erfolgreich sind. Ein Beitrag in BBC Mundo erklärt, welches die historischen Wurzeln solcher Errungenschaften sind.

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Cover_Rey_Lateinamerika
Romeo Rey, Die Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 284 Seiten, 3. Auflage, C.H.Beck 2015, CHF 22.30

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den «Tages-Anzeiger».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Lateinamerika Karte

Politik in Süd- und Mittelamerika: Was in vielen Medien untergeht

Der frühere Lateinamerika-Korrespondent Romeo Rey fasst die Entwicklung regelmässig zusammen und verlinkt zu Quellen. Zudem Beiträge von anderen Autorinnen und Autoren.

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Eine Meinung zu

  • am 28.04.2024 um 20:31 Uhr
    Permalink

    Man kann RT natürlich als „Russische Presseagentur“ bezeichnen, wenn man will.

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