Imhasly_Buchcover

Buch-Cover © Ch.Links Verlag

Irritierend, faszinierend, verwirrend, verzaubernd

Urs P. Gasche /  Seit dreissig Jahren lebt der frühere NZZ-Korrespondent in Indien. In seinem neuen Buch kann man sich in den Kontinent einfühlen.

Der Walliser Bernard Imhasly war 25 Jahre alt, als er vor 45 Jahren Indien zum ersten Mal bereiste. Später arbeitete er als Diplomat in Delhi, bevor er von der indischen Hauptstadt aus viele Jahre lang

für die NZZ über Indien und ganz Südasien berichtete. Imhasly heiratete eine Inderin und lebt heute in der Nähe von Mumbai.
Kaum ein anderer Schweizer kennt Indien so gut wie Imhasly. Das ist wohl der Grund, weshalb der Autor eines soeben erschienen Länderportraits die Leserschaft im Vorwort davor warnt, «die Wahrheit» über Indien zu erfahren. Indien bestehe aus «vielen Wahrheiten».
Eine Mischung aus persönlichen Erfahrungen und harten Fakten ermöglicht es, sich in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Religion, Kasten, Minderheiten, Familienstrukturen, Umwelt oder Kultur kapitelweise einzufühlen.
Mit «Wahrheiten» vorsichtig sein
«Wenn ich während meiner dreissig Jahre in Indien etwas gelernt habe, dann die Einsicht, mit Wahrheiten über das Land vorsichtig aufzutreten», schreibt Imhasly. Als ein Beispiel nennt er die grossen Slums in der Anflugschneise des Flughafens von Mumbai, die fast keinem Ankommenden entgehen. Das seien tatsächlich «Elendssiedlungen, die sich in die Poren der Stadt bohren». Doch jetzt kommt das Unerwartete: Nur die wenigsten würden die riesige, unberührte Waldfläche hinter den Slums wahrnehmen, den «Sanjay Gandhi National Park». Wo auf der Welt gäbe es schon einen Wildpark im Ausmass von 100 Quadratkilometern im Wohngebiet einer der am dichtesten besiedelten Megastädte?
Der Park sei nicht umzäumt, so dass es fast jede Woche an den Nahtstellen zu den Wohngebieten zu fatalen Zwischenfällen komme: «Ein Leopard fällt einen Menschen an, der am Waldrand seine Notdurft verrichtet. Oder ein Leopard verirrt sich in eine unterirdische Parkgarage oder wird angezogen von einem stinkenden Abfallhaufen und schlägt zu, wenn Menschen auftauchen.»
Niemandem käme es in den Sinn, deswegen von den Behörden eine Umsiedlung der Leoparden zu verlangen. Und noch überraschender: «Wie kommt es, dass eine Stadt, die nicht mehr ein und aus weiss mit ihren Migranten, ihrem Abfall und dem Verkehr, die Existenz eines riesigen Wildparks nie in Frage stellt?»
Im ganzen Buch berichtet Imhasly von einem irritierenden, faszinierenden, verwirrenden und verzaubernden Indien. Wer sich mit seinen Sinnen in diesen Kontinent einfühlen möchte, kommt bei der Lektüre des «Länderportraits» von Bernard Imhasly voll auf die Rechnung. Der Autor ist ein Beobachter ohne Scheuklappen und Vorurteile, der sich selbst überraschen, enttäuschen und faszinieren lässt – und dies alles noch präzis und spannend zu Papier bringen kann.


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Keine

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3 Meinungen

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 8.09.2015 um 14:16 Uhr
    Permalink

    Sehr schöner Artikel. In den 70er jahren habe ich auch diese Anflugschneise überflogen, mir aber keine Gedanken über Leoparden gemacht.

    Wir waren dann in Puna, u.a. auf dem Militärflugplatz, haben aber auch da keine Leoparden gesehen.

    Hingegen war ich beeindruckt von den Frauen, welche am Fluss ihre Wäsche machten, und beeindruckt von den Lokalleuten, wie sie die westlichen Ashram-Pilger akzeptierten.

    Die Kühe auf den Strassen von Delhi waren für uns westerners zweifellos eine exotische Überraschung. Nach einigen Jahren in Ostafrika weiss ich aber, dass Elephanten auch auf den Landstrassen Vortittrechte haben.

    Die Projektion unserer kulturellen Werte auf andere Länder und deren Bevölkerung ist eines der grössten Probleme «okzidentaler» Gesellschaften.

    Umso erfrischender ist es zu erfahren, dass es immer noch Leute gibt, welche andersorientierte Verhaltensmuster zu schätzen verstehen.

    Besten Dank für den schönen Artikel.

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 8.09.2015 um 14:28 Uhr
    Permalink

    Parvati auf meinem Schreibtisch, aber auch die Erinnerung an das «so sein» der grauen Kühe meines geschätzten Philosophieprofessors an der Kanti Luzern haben mir geholfen, meine zivilisatorischen Perspektiven auf dem Boden der Realität zu verankern.

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 8.09.2015 um 14:28 Uhr
    Permalink

    Parvati auf meinem Schreibtisch, aber auch die Erinnerung an das «so sein» der grauen Kühe meines geschätzten Philosophieprofessors an der Kanti Luzern haben mir geholfen, meine zivilisatorischen Perspektiven auf dem Boden der Realität zu verankern.

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