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Die Zukunft des Iraks ist ungewiss. © fedevphoto/Depositenphotos

Irak und Algerien: Zwei Jahrzehnte nach Krieg und Gewalt

Tim Guldimann /  Beide Länder verfügen über Öl und Gas und sind autoritär regiert und suchen Stabilität. Eine Zwischenbilanz mit Spezialisten.

Tim Guldimann quadrat
Tim Guldimann


upg. Der frühere Schweizer Botschafter in Berlin, Tim Guldimann, fasst seine letzte Podcast-Debatte mit der Nordafrika-Spezialistin Isabelle Werenfels und dem Orientalisten Daniel Gerlach zusammen.


Der Vergleich zwischen Algerien und Irak zeigt eine Reihe von Parallelen: 

  • Beide Länder sind mit einer Bevölkerung von je 43 Millionen gleich gross.
  • Beide waren in den letzten Jahrzehnten Opfer von politischer Gewalt. 
  • Kriege, Bürgerkriege, Repression und Terrorismus haben in beiden Ländern je über eine Million Todesopfer gefordert und die Gesellschaft zerrüttet: In Algerien durch den Unabhängigkeitskrieg 1954–62 und den Bürgerkrieg 1992–2002; im Irak durch Saddams Angriffskrieg gegen den Iran, seine Repression gegen die Kurden und Schiiten, die verheerenden Folgen des Uno-Programms Oil for Food, durch den US-Angriffskrieg 2003 und den Terrorismus des IS-Staates 2014–2017. 
  • Beide Staaten wurden durch den islamistischen Terror existentiell gefährdet: Algerien im Bürgerkrieg durch die islamistische Front islamique du salut (FIS), der Irak durch den Islamischen Staat (IS), der erst 2017 von einer breiten nationalen Allianz mit amerikanischer und iranischer Unterstützung besiegt werden konnte.
  • In beiden Ländern stützt sich die staatliche Macht auf Streitkräfte, auf die Armee in Algerien, auf Milizen im Irak. Entscheidend sind aber die grossen Öl- und Gaseinnahmen, die es den Regierungen erlauben, sich Legitimation zu kaufen und die Bevölkerung in direkter Abhängigkeit vom Staat zu halten. 
  • Gegen diese Machtausübung mobilisierte sich 2019 in beiden Staaten eine breite zivilgesellschaftliche Protestbewegung: In Algerien stoppte die Hirak-Bewegung die fünfte Präsidentschaft des greisen Bouteflika. Im Irak richtete sich die breite Tishreen-Mobilisierung gegen die ganze politische Klasse und ihre Korruption und überschritt damit die religiös und ethnisch bestimmten Grenzlinien der irakischen Politik. 

Trotzdem erreichte die Macht der Strasse dadurch keine grundlegenden Reformen. In Algerien behaupten sich die Machtstrukturen von Armee und Bürokratie. Sie kooptierten die Opponenten ins System und schwächten die zivilgesellschaftlichen Kräfte. Im Irak setzt sich die Auseinandersetzung zumindest in einem einigermassen demokratischen, aber nach wie vor fragilen System fort.

Die Iraker sind heute, auch in der Folge des russischen Angriffskriegs, darum bemüht, ausländische Einmischung abzuwehren. Das sei aber nur möglich, so Daniel Gerlach, wenn sie ihre gesellschaftlichen Konflikte überwinden könnten. Dann seien sie auch wieder in der Lage, Souveränität zu erlangen. Viele Iraker fühlten sich, als wären sie eigentlich noch ein besetztes Land, so Gerlach. 

Algerien hingegen, so Isabelle Werenfels, knüpfe nach der internationalen Isolation der letzten Jahre an seine Tradition der blockfreien Nähe zur Sowjetunion an und versuche heute, international wieder ein Player zu sein, namentlich durch den Antrag, den BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) beizutreten. Gleichzeitig sei der Ukrainekrieg für die Algerier auch ein Erwachen bezüglich der Qualität russischer Waffen, die den Hauptteil der algerischen Rüstung ausmachen. Algerien wolle seine Unabhängigkeit stärken, indem es in alle Richtungen spiele – aber immer mit der Ansage: «Wir schwimmen gegen den westlichen Strom.» Isabelle Werenfels habe in keinem Land so viele Sympathien für Russland erlebt wie in Algerien. Doch gleichzeitig wollten alle nach Frankreich.

Debatte zu dritt

Mit Isabelle Werenfels, der Nordafrikaspezialistin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, und Daniel Gerlach, dem Buchautor, Orientalisten und Filmproduzenten, diskutiere ich über beide Staaten in ihrer heutigen politischen Lage. 
Hier zum Podcast und zu früheren Gesprächen: Spotify oder Apple Podcast.


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2 Meinungen

  • am 5.04.2023 um 11:55 Uhr
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    Algerien hat nach der Unabhängigkeit von Frankreich 1992 versucht eine Demokratie zu etablieren. Die Franzosen als Kolonialmacht seit 1830, haben den Algerien (angeblich Französische Staatsbürger seit 1936/45) demonstriert, wie man eine Demokratie sabotiert…
    Nachdem alle Kinder mindestens eine Generation zur Schule gehen konnten (nach 1962) mussten die aus der FLN stammenden Machthaber eine Art Demokratie einführen. Kaum waren die ersten freien Wahlen etabliert, bekamen die von Saudi-Arabien geschmierten Extremisten der FIS, die Mehrheit in den Gemeinde- und Nationalwahlen. An den Wahlveranstaltungen der FIS konnte man gratis 30 kg Mehl und 10 kg Zucker nach Hause tragen.
    Nachdem die Islamisten die Infrastruktur zusammenschlugen «Prophet Mohammed hatte auch keine Elektrisches Licht» hat die Befreiungsarmee (ALN), dem Einfluss der Amerikanischen Saudi-Freunde ein Ende gesetzt, mit einer Art Bürgerkrieg gegen die Islamischen Extremisten. Seit Ende der 90er Jahre herrscht das Militär.

  • am 5.04.2023 um 13:09 Uhr
    Permalink

    Ein «Erwachen bzgl. der Qualität russ. bzw. sowjetischer Waffen» ist so eine leere Mainstream-Schlagzeile, die sich leider immer wieder findet. Die meisten Waffensysteme, die Russland derzeit in der Ukraine benutzt, sind auch anderswo auf der Welt in gleicher oder in einer «M»-Variante (M ist das Kürzel für leicht kampfwertverminderte Exportmodelle – auch «Monkey»-Variante genannt) seit vielen Jahren je nach Einsatzzweck, -ort, -doktrin, Ausbildung, taktischen Grundlagen, Wartungszustand, Munitionsausstattung, Kampfwertsteigerung mehr oder minder erfolgreich im Einsatz. Etwas generalisierend kann man sagen, dass sie preiswerter und mehr auf Massenproduktion zugeschnitten sind, dafür aber teils grobe Mängel in Elektronik, Automatisierung, Komfort, Sparsamkeit, Wartungsintervallen haben. Die eierlegende Wollmilchsau gibt es in der Militärtechnik nicht: man muss Detailberichte, auch aus erster Hand von Piloten, Tankisten und Soldaten studieren, um sich ein Bild zu machen.

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