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Kolonisierung Chinas: Der Opiumkrieg © NN

Die Gegenwart der Geschichte

Robert Ruoff /  Vier Historiker zeichnen den Weg von der Industrialisierung zur Globalisierung.

China war vor etwa 300 Jahren «vermutlich die grösste Wirtschaftsmacht der Welt.» Das kann man lesen im Band 4 der «Geschichte der Welt», der dieses Jahr erschienen ist, und der sich beschäftigt mit der Zeit von «1750 – 1870. Wege zur modernen Welt». Es ist ein Ausblick auf die Gegenwart.

Das chinesische Territorium war damals grösser als heute, die Bevölkerung verdoppelte sich innert kurzer Zeit auf 300 Millionen Menschen, und das Reich genügte sich selbst. Die Geschenke des britischen Gesandten galten dem Kaiser als Tribut des fernen Königs, und als die Briten auf liberalere Handelsbeziehungen drängten, erklärte er: «Meine Dynastie bringt Produkten aus dem Ausland keinerlei Wertschätzung entgegen.»

Die Briten hingegen, die zu viel Tee einkauften (und Seide und Keramik), mochten das wachsende Handelsbilanzdefizit aber nicht leiden, und betrieben zum Ausgleich einen schwunghaften Export von indischem Opium nach China. Als die Chinesen den Opiumhandel verboten, zwangen die Briten, Franzosen und Amerikaner mit dem ersten und zweiten Opiumkrieg in zwei «Ungleichen Verträgen» China zur Öffnung der Häfen und des chinesischen Marktes.

China wurde damit innert kürzester von Asiens Vormacht zu einer Art Kolonie, dominiert von den euro-amerikanischen Wirtschaftsmächten und bedrängt von den Nachbarn Japan und Russland, die ebenfalls ihre Stellung in der Welt ausbauen wollten. Es war zweifellos eine traumatische Erfahrung. Man kann nach diesem Blick auf die Geschichte die Beweggründe der heutigen chinesischen Führung für ihre gegenwärtige Sicherheitspolitik nachvollziehen. Es ist nicht so sehr der Kalte Krieg – eine kurze Episode in der Geschichte –, der Chinas Führung antreibt. Es sind die grossen historischen Erfahrungen, die häufig das Verhalten von Völkern und Staaten prägen. Das bedeutet nicht Rechtfertigung einer rücksichtslosen Sicherheitspolitik, aber es bringt Verständnis auch für unsere Zeit. Geschichte bestimmt die Gegenwart.

Der globale Blick

Die Reihe über die «Geschichte der Welt» hat sich schon in früher erschienenen Bänden das Verdienst erworben, dass sie die grossen Bögen und Entwicklungen darstellt, die quer durch die Völkerschaften, Länder, Staaten verlaufen: transkulturelle oder transnationale Strömungen. Mit der Zeit von 1750 – 1870 fasst sie die «Wege zur modernen Welt» ins Auge, und damit ist sie von schlagender Aktualität.

Die vier Autoren schildern wie im Brennglas, wie sich Geschichte bündelt und wie sich Verbindungen zwischen den Kontinenten geradezu explosiv entwickeln. Die Verschleppung von Sklaven aus Afrika über den Atlantik in das südliche und nördliche Amerika war eine Triebkraft der wirtschaftlichen Entwicklung – billige Arbeitskräfte –, die andere war der wachsende Handel der europäischen Staaten mit Asien. 1788 begann die systematische Besiedlung Australiens mit britischen Häftlingen – man wollte die Unterschicht in England ausdünnen –, 1789 begann die französische Revolution mit all den folgenden Revolutionskriegen, und im gleichen Jahr wurde George Washington der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika – es war der Beginn der Staatlichkeit der USA. Frankreich, England, Russland, Österreich und Preussen handelten damals als europäische Grossmächte mit globaler Reichweite – Frankreich und England haben diesen Anspruch immer noch, Russland sowieso.

In Asien hatten sich vier Imperien eingerichtet: das britische (in Indien), russische, chinesische und osmanische. China hatte sich tibetische, mongolische und islamisch besiedelte Gebiete unterworfen, das russische Zarenreich erforschte und kolonisierte Sibirien, dehnte sich aus zum Schwarzen Meer. – Die Krim war als strategischer Ort für Handel und Militär über die Jahrhunderte immer umkämpft; sie war taurisch, (ein antikes Hirtenvolk), griechisch, skandinavisch, mongolisch, tatarisch, und russisch erst im 18. Jahrhundert.

Die grosse Veränderung

Die Autoren – allesamt hoch angesehene Historiker – garantieren für einen Blick auf Querbeziehungen zwischen Kontinenten und Kulturen und auf Merkmale, die wir heute als Teil der Globalisierung erleben und verstehen. Die beiden Herausgeber Sebastian Conrad (Freie Universität Berlin) und Jürgen Osterhammel (Konstanz) verweisen auf Merkmale heutiger Globalisierung, die schon zwischen 1750 – 1870 erkennbar waren: interkontinentaler Handel mit Rohstoffen und Agrarprodukten in grossen Mengen, Auslandinvestitionen, Ferntourismus, grenzüberschreitende Standardisierungen, aber auch «politische Ordnungsvorstellungen wie der Verfassungsgedanke, Expansion von Weltreligionen» – Merkmale, die auch heute noch politisch-ökonomischen und ideologischen Sprengstoff enthalten. Dazu die kühle Feststellung des Welthistorikers: «Im 19. Jahrhundert liess die Industrialisierung der Verkehrsmittel die Migration erstmals zu einem Massenphänomen werden.» (Conrad)

Es war eine neue Geschwindigkeit und tief greifende Veränderung zugleich. Die neuen Kommunikationsmittel – Telefon, Telegraf – haben Information und Kommunikation nicht nur zu einem wirklich weltweiten Netz verwoben, sie haben sie auch enorm beschleunigt. Die neuen Transportmittel Eisenbahn und Dampfschiff haben die Verbindungen auf den Flüssen und Strömen und über die Meere zu enorm leistungsfähigen Transportwegen gemacht und grosse Mengen von Waren und von Menschen in überschaubarer Zeit bewegen können.

Roy Bin Wong, Asienspezialist an der Universität Los Angeles, zieht den Vergleich weiter bis in die Gegenwart: «Die Dampfkraft war das, was Technikhistoriker als ‹Allzwecktechnologie› bezeichnen» und: «Der Siliziumchip war die Allzwecktechnologie des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts.» Beide, Dampfkraft wie Silizium, waren Technologien, die eine Revolution der Produktionsweise und der ganzen Gesellschaft herbeiführten. Die Dampfkraft führte zur industriellen Revolution mit ihrer Verstädterung, mit der Herausbildung der neuen Arbeiterklasse und einer heftigen Phase des Klassenkampfs. Aber, so Bin Wong, sie führte auch zu einer neuen politischen Praxis, zum Beispiel in den USA. Sie produzierte eine politisch-ökonomische Schicht, der es durch alle Krisen hindurch gelang, ihre politische Macht mit der Produktion von bezahlbarem Überfluss so zu verbinden, dass ein ausreichend grosser Teil der Bevölkerung ruhiggestellt werden konnte.

Das scheint heute, wie der Wahlsieg von Donald Trump signalisiert, nicht mehr der Fall zu sein. Das alte Establishment wurde abgewählt (auch wenn Donald Trump für sein Kabinett jetzt wieder in geradzu extremer Form auf das Personal des politisch-militärisch-ökonomischen Komplexes zurückgegriffen hat), und für die Epoche des Silizium-Zeitalters ist die bekömmliche politische Form noch nicht gefunden. Alte Probleme brechen wieder auf.

Aufklärung und Religion

Die Aufklärung brachte ein Verständnis des Menschen mit individueller Eigenverantwortung, sie forderte die Herrschaft der Vernunft in Gesellschaft und Staat und damit auch die Trennung von Kirche und Staat, die in mehr oder minder heftigen Kulturkämpfen durchgesetzt werden musste. Mit der politischen Forderung, das «christliche Abendland» als Leitkultur zu definieren, wird diese Errungenschaft heute wieder in Frage gestellt, nach dem Motto: Wer herrscht, bestimmt auch Religion und Kultur. Das wäre wohl doch ein Rückfall in die Zeit vor der Aufklärung und der vernunftbestimmten freiheitlichen Demokratie.

Aber auch die Aufklärung selber wurde von den euro-amerikanischen Kolonisatoren häufig verstanden als Ausdruck der Überlegenheit der westlichen Kultur über die Kultur der Kolonisierten. Es scheint, dass in der Krise der industrialisierten Welt dieser eigentümliche Wunsch der weissen Rasse nach Überlegenheit wieder durchbricht..

Die «Geschichte der Welt» macht aber klar, dass die euro-amerikanische weisse Vorherrschaft nur eine zeitlich klar begrenzte Epoche ist.

*****

Sebastian Conrad, Jürgen Osterhammel (Hrsg.:) 1750 – 1870. Wege zur modernen Welt. Band 4 der «Geschichte der Welt». Mit Beiträgen von Cemil Aydin, R. Bin Wong, Sebastian Conrad, Jürgen Osterhammel. C.H. Beck, München 2016

Der Text ist auch in der AZ Nordwestschweiz erschienen.


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4 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 17.01.2017 um 20:27 Uhr
    Permalink

    @Ruoff. Die Aufklärung forderte leider keineswegs die konsequente Trennung von Kirche und Staat, sondern im mittleren Europa und besonders in der Schweiz im Gegenteil das modernisierte Staatskirchentum, ein heute immer noch existierendes System, das man sogar durch die öffentlichrechtliche Anerkennung des Islam zum besseren Erhalt des Kirchensteuersystems ergänzen und retten möchte, letzteres ein Relikt bzw. ein Ersatz des Feudalismus. Es geht um die Legitimierung der Kirchensteuer auch für Kebab-Budenbesitzer. Morgen ist in Zug um 19.30 Uhr in der Stadtbibliothek Heimvernissage des Buches «Kulturkampf in der Schweiz 1841 – 2016» von Josef Lang und noch einem zweiten Autor. Der Anspruch besteht darin, die Sache noch genauer auf den Punkt zu bringen als «renommierte Historiker» wie Peter Stadler und Urs Altermatt. Im Allgemeinen sind Lokalhistoriker eher genauer und überprüfbarer als «renommierte Historiker».

  • am 18.01.2017 um 01:42 Uhr
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    Gegen die Trennung von Kirche und Staat wäre ja gar nichts einzuwenden, wenn nicht gleichzeitig der Staat seine Zuständigkeiten immer weiter ausdehnen würde. Dann bleibt für die abgetrennte Kirche – und ihre Mitglieder! – nämlich kein Platz mehr übrig. Indem die Kirchen demgegenüber ihre eigenen Rechte verteidigen, sichern sie aber nolens volens auch die Rechte aller anderen freiwilligen und selbstverwalteten Zusammenschlüsse gegenüber dem Staat – könnte der Staat die kirchlichen Schulen verbieten, dann könnte er auch alle anderen privaten Schulen verbieten.

    Die Atheisten sollten sich endlich auf den Boden der pluralistischen Demokratie begeben. Sie sollten nicht als Repräsentanten einer totalen «Vernunft» einen Platz oberhalb der partikularen Kirchen beanspruchen, sondern als eigene Weltanschauungsgemeinde einen Platz neben den Kirchen.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 18.01.2017 um 05:20 Uhr
    Permalink

    @Möller. Es gibt in der Schweiz keine «kirchlichen» Schulen, generell sind katholische Schulen, erst recht Stiftsschulen, von der Kirche unabhängig. Die USA mit Trennung von Kirche und Staat haben jede Menge katholische Schulen. Also die Systemfrage der Kirchen nicht mit der Frage von Privatschulen und Privatorganisationen verwechseln. Es gibt keinen Grund, das Kirchensystem als Argument für NGO zu verwenden, fast im Gegenteil, diese werden diskriminiert. Sie haben keine Möglichkeit, im Kanton ZH die Kirchensteuer z.B. einer NGO als Alternative zukommen zu lassen. Es sind also Privilegien der Systemkirchen, wobei die Kirchensteuer die Nachfolge ist der alten feudalistischen Kirchenzehnten, zumindest im Katholizismus. Der Protestantismus jenseits der Freikirchen setzte, wie in Bern und in Luthers Deutschland, stets auf die Staatskirche. Zuzugeben ist, dass das Staatskirchentum die Aufklärung gefördert hat, weswegen Lang und Küng dieses System heute noch befürworten. Es ist aber mindestens so sehr vergangenheitsorientiert und zeitgebunden wie der Zölibat. Meine eigene Auffassung, die ich seit 45 Jahren öffentlich und argumentativ vertrete, hat nichts damit zu tun, ob gerade konservative oder progressive Kirchenleitungen an der Macht sind. In dieser Sache engagierten sich zum Beispiel die religionskritischen Denker Karlheinz Deschner und Robert Mächler, in der Schweiz besonders noch Ludwig A. Minelli, von dem ich mich aber unterscheide, weil ich für kantonale Regelungen bin.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 18.01.2017 um 05:31 Uhr
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    PS. Bin nach wie vor Kirchensteuerzahler, weil man als Mitglied in der Eigenschaft als Systemkritiker ernster genommen werden muss, was übrigens auch Hans Küng betont.

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