Ludwig_von_Mises

Der Liberalismus habe das Ganze im Auge, keine Sonderinteressen, sagte Ludwig von Mises 1927. © Commons

Der Liberalismus und die Logik des Finanzmarktes

Marc Chesney /  Der Liberalismus habe «das Wohl des Ganzen, nie das von Sondergruppen im Auge», schrieb Ludwig von Mises 1927. Stimmt das noch?

In den 1980er Jahren gelangte die neo-liberale Politik zu ihrer praktischen Umsetzung: diese Politik begann – unter Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in UK – mit einer Deregulierungs- und Privatisierungswelle.
Für den Finanzsektor, der zum Nervensystem der Wirtschaft wurde, schuf die Deregulierungspolitik ein fragwürdiges System impliziter Regeln, wie z.B. diejenige, die den Rating-Agenturen eine exorbitante Macht verleiht, diejenige, die es den «Too big to fail» Finanzinstituten erlaubt, sich zu geringeren Kosten zu finanzieren, wodurch ihnen Subventionen gewährt werden, und schliesslich diejenige, die den Steuerzahler zwingt, diese Institute vor einem allfälligen Konkurs zu retten.
Die Kartellmacht, die Subventionen, die Privatisierung von Gewinnen und die Sozialisierung von Verlusten widersprechen den Grundprinzipien des Liberalismus.
Im Folgenden soll analysiert werden, inwiefern die Funktionsweise der Finanzsphäre den Grundprinzipien und den deklarierten Zielen des Liberalismus noch entspricht; dies anhand von Ludwig von Mises, einem der profiliertesten neo-liberalen Autoren. Gezeigt wird auch, dass die Logik des Finanzmarktes schädliche Wirkungen auf die Demokratie hat.
In der Schlussfolgerung werden Massnahmen für die Sanierung des Finanzsektors vorgeschlagen.

Der Liberalismus und das Wohl des Ganzen

In seiner Schrift «Liberalismus» von 1927 schrieb Ludwig von Mises, der Liberalismus habe «nichts anderes im Auge als die Förderung der äusseren, der materiellen Wohlfahrt der Menschen». Immer habe der Liberalismus dabei «das Wohl des Ganzen, nie das irgendwelcher Sondergruppen im Auge gehabt». Um zu überprüfen, ob unsere Gesellschaft dieses Merkmal des Liberalismus verkörpert, ist die Einkommensverteilung relevant. 2006 haben die 20 bestbezahlten CEO von Hedge-Funds in den USA im Durchschnitt 657 Millionen Dollar verdient. Ihr Einkommen lag damit fast 15’000mal über dem Durchschnittseinkommen und betrug etwa 10mal mehr als der Durchschnitt der 20 bestbezahlten CEO von Nicht-Finanzunternehmen. John Paulson, Chef des gleichnamigen Hedge-Fund, verdiente 2007 rund 3,7 Milliarden Dollar und damit etwa 80’000mal mehr als das Durchschnittseinkommen. Noch problematischer werden solche astronomischen Gehälter, wenn sie mit schweren Verlusten für Steuerzahler und Aktionäre einhergehen. So verdiente Richard Fuld, Ex-CEO von Lehman Brothers, in den Jahren 2000 bis 2007 gemäss Schätzungen rund eine halbe Milliarde Dollar, und dies trotz einer Strategie, welche die Bank in die Insolvenz führte. Gemäss von Mises kann in einer liberalen Gesellschaft nur ein allgemeiner Produktivitätsanstieg bei der Arbeit zu höheren Löhnen in einem Sektor führen. Für den Finanzsektor wäre es jedoch zynisch zu argumentieren, dass die Explosion bei den Spitzengehältern durch einen Zuwachs bei der Produktivität gerechtfertigt werden könne. Was die Ärmsten dieser Welt betrifft, sind die Zahlen leider auch sehr beeindruckend. Am Anfang des Jahrhunderts hatten gemäss dem Entwicklungsprogramm der UNO ca. 40 Prozent der Weltbevölkerung weniger als 2 Dollar pro Tag zur Verfügung. Gemäss der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO sterben gegenwärtig mehr als zweieinhalb Millionen Kinder jährlich an chronischer Unterernährung. Es ist also ein massiver Transfer von den tiefen und mittleren zu den sehr hohen Einkommen festzustellen. Das Wohl des Ganzen wird zugunsten der Interessen einer Sondergruppe vernachlässigt: der Finanzaristokratie.

Der Liberalismus und das Wohl der künftigen Generationen

Von Mises schreibt weiter: «Die antiliberale Politik ist Kapitalaufzehrungspolitik. Sie empfiehlt, die Gegenwart auf Kosten der Zukunft reichlicher zu versorgen». In diesem Kontext sei die Verschuldung betrachtet, da sie die Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft darstellt. In den USA betrug die Gesamtverschuldung (von Haushalten, Unternehmen, Staat und Finanzsektor) 2012 insgesamt 53,1 Billionen Dollar, was etwa 340 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) entspricht. Vergleichbare oder noch schlimmere Daten sind für andere Industrieländer erhältlich. In der heutigen finanz-durchdrungenen Wirtschaft ist die Verschuldung zu einem wesentlichen Faktor für das Wirtschaftswachstum geworden. In den USA und in UK ist die Gesamtverschuldung zwischen 2001 und 2005 jährlich um etwa 6,5 bzw. 8,3 Prozent gestiegen, während das BIP im Durchschnitt um 2,4 bzw. 3,0 Prozent gewachsen ist. Deutlich kleiner war das BIP-Wachstum währenddessen in einem Land wie Deutschland (0,6 Prozent), in dem die Gesamtverschuldung weniger stark gestiegen ist (2,3 Prozent). Der Ausbruch der Krise hat die Oberflächlichkeit des schuldengetriebenen Wachstums aufgezeigt. Zudem wurden die Gefahren einer kasinoartigen Wirtschaft ersichtlich, die sich auf kurzfristige Wetten und Schulden fokussiert statt auf langfristige Investitionen und Ersparnisse. Die Verschuldungsniveaus von Ländern oder Banken sind nicht mit einem ausgewogenen und nachhaltigen Verhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft kompatibel. Die derzeitige Politik versorgt die Gegenwart auf Kosten der Zukunft.

Der Liberalismus und die Demokratie

Wie aus dem obigen Abschnitt hervorgeht, scheint die heutige Ökonomie dem Liberalismus und der Marktwirtschaft nicht zu entsprechen. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Demokratie. Für Friedrich A. von Hayek war z.B. die Idee zentral, dass die Marktwirtschaft und der Liberalismus mit der modernen Demokratie in enger Verbindung stehen. Heute ist jedoch bemerkenswert, dass Regierungen unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, ob Konservative oder Sozialisten, immer mehr zu einer einzigen Politik konvergieren: derjenigen der Finanzmärkte…
Frau Merkel in Deutschland, Herr Hollande in Frankreich oder Herr Rajoy in Spanien versuchen, bis jetzt mit bescheidenem Erfolg, die Finanzmärkte zu befriedigen. Nach jeder Wahl wechseln die Gesichter, aber die Programme bleiben in den meisten Fällen erhalten.
General de Gaulle hat sich 1962 wie folgt geäussert: «Frankreichs Politik macht sich nicht auf dem Parkett der Börse». Wir müssen heute leider feststellen, dass dieses Kapitel abgeschlossen ist, und zwar nicht nur in Frankreich, sondern weltweit.
Diese Politik der Finanzmärkte widerspricht dem Geist des Liberalismus, weil sie nicht «das Wohl des Ganzen» im Auge hat, sondern dasjenige von «Sondergruppen».
Sie fördert die Risikofreudigkeit dieser Sondergruppe (Management von Grossbanken, Hedge-Fonds), indem sie ihnen erlaubt, ihre Risiken abzuwälzen, d.h. sie zwingt den Steuerzahler, die Rentner… die Rechnung zu bezahlen. Ein wesentliches liberales Prinzip, die Verantwortung des Unternehmers für seine Entscheidungen, verschwindet!
Man kann auch feststellen, dass die Macht der Investmentbanken und Hedge-Fonds viel zu gross ist. Eine Studie der ETH Zürich zeigt, dass im Jahr 2007 147 Unternehmen ca. 40% der Weltwirtschaft kontrollierten. Es lohnt sich zu bemerken, dass 49 der 50 einflussreichsten Unternehmen aus der Finanzindustrie stammen. Davon haben etwa 40% eine implizite öffentliche Garantie, da sie «too big to fail» sind, und eine Mehrheit dieser «too big to fail»-Unternehmen haben während der Finanzkrise eine öffentliche finanzielle Unterstützung erhalten.
Viele Eigenschaften der heutigen Ökonomie wiedersprechen immer mehr denjenigen einer Marktwirtschaft. Im nächsten Abschnitt werden diese Eigenschaften beleuchtet.

Der Finanzsektor und das Unternehmertum

Die Funktionsweise des Finanzsektors fördert die Risikofreudigkeit einer Sondergruppe, des Managements von Grossbanken und Hedge-Funds, zulasten der Gesellschaft. Dies widerspricht einem der Grundprinzipien des Unternehmertums: Wer Investitionsrisiken eingeht, soll diese auch tragen.
Besonders problematisch im heutigen Finanzsektor sind die Funktionsweise seiner Märkte, Akteure, Praktiken und Finanzprodukte.
Die Börse
Die Börse sollte die Finanzierung der Unternehmen vereinfachen. Dies ist heute immer weniger der Fall. Z. B. deckten französische Unternehmen gemäss Dealogic im Jahr 2011 nur 5,4 Prozent ihres Finanzbedarfs über die Börse. 2001 waren es noch 27 Prozent. Die Hauptfunktion der Börse ist die optimale Allokation von Kapital und Risiko. Diese Aufgabe wird heutzutage nicht erfüllt. Das Kapital wird immer mehr von unproduktiven Finanzaktivitäten aufgesaugt, wie die aktuelle Investitionsdauer widerspiegelt. Gemäss verschiedenen Quellen hält heute ein Investor in den USA seine Aktien im Durchschnitt ca. 22 Sekunden, während diese Dauer 1940 noch 7 Jahre betrug. Dieser Durchschnitt wird durch die Entwicklung des Hochfrequenzhandels (ca. 70% der Transaktionen in den USA) ermöglicht, der es erlaubt, Aufträge innerhalb von Millisekunden aufzugeben und zu stornieren. Es wäre naiv zu glauben, dass es im Durchschnitt in der Grössenordnung von Sekunden oder Millisekunden Neuigkeiten zu den Fundamentaldaten für Aktien gibt.
Die Millisekunde ist nicht die zeitliche Einheit von Investitionen in der Realwirtschaft, die Wochen, Monate oder Jahre erfordern. Sie ist vielmehr die zeitliche Einheit von Wetten in einer Kasino-Wirtschaft, die der Logik des Unternehmertums widerspricht und in der das Kapital seine Eigenschaft als Kapital verliert.

OTC-Transaktionen

Ein grosser Teil der Finanztransaktionen findet «over the counter» (OTC) statt, das heisst ausserhalb von Börsen. Im Sinne der Marktwirtschaft handelt es sich dabei nicht wirklich um Markttransaktionen. Es sind Verträge zwischen zwei Finanzakteuren, die sehr intransparent sind. Die «unsichtbare Hand» von Adam Smith verlangt zwingend Märkte, um operativ zu sein, Märkte, auf denen sich Angebot und Nachfrage treffen, um Preise und Handelsvolumina transparent zu erzeugen. Das ist nicht der Fall bei OTC-Transaktionen, die es aufgrund ihrer Undurchsichtigkeit nicht ermöglichen, Angebot und Nachfrage aggregiert zu bilden. Die Entwicklung von OTC-Transaktionen ist auch mit der Verbreitung des Hochfrequenzhandels in Verbindung zu bringen. Die Geschwindigkeit der Transaktionen schadet den kleinen Finanzakteuren, die keinen Zugang zu entsprechend entwickelter Infrastruktur haben – und deshalb auf OTC-Märkte ausweichen.

Der Bankensektor

Der Bankensektor scheint immer weniger in der Lage, seine Funktion als Motor der Realwirtschaft wahrzunehmen. In Deutschland und Frankreich verwenden Finanzinstitute nur noch einen kleinen Teil ihrer Bilanzsumme für Kredite an Nicht-Finanzunternehmen und Haushalte: 28 bzw. 22 Prozent (18 bzw. 12 Prozent für Unternehmen und jeweils 10 Prozent für Haushalte). In Grossbritannien ist der Anteil mit 19 (bzw. 5 und 14) Prozent noch kleiner (vgl. E. Liikanen et al., High-level Expert Group on reforming the structure of the EU banking sector, 2012). Der Bankensektor ist von «Too big to fail»-Instituten dominiert. Ihre Bilanzsumme beträgt in gewissen Fällen über 100 Prozent des BIP des Landes, in dem sie ihren Sitz haben, was unverhältnismässig und für das Standortland gefährlich ist. Die Bilanzsummen der UBS und der CS betrugen im Jahr 2011 223 bzw. 165 Prozent des Schweizer BIP. Die Bilanzsumme aller britischen und französischen Banken belief sich auf 380 bzw. 298 Prozent des jeweiligen BIP.
Ausserdem können sich diese Institute dank der ihnen gewährten Staatsgarantie zu tieferen Zinsen finanzieren als sie dies in einer Marktwirtschaft tun müssten. Diese Subventionen betragen in Europa etwa 1 Prozent des BIP im Jahr 2011 (vgl. M. Bijlsma, R. Mocking, The private value of too-big-too-fail guarantees, BEPA, 2012), d.h. rund 6 Milliarden Franken im Fall der Schweiz. Sie werden zusätzlich dazu verleitet, Geschäfte zu tätigen, die zu risikoreich sein könnten und auf die sie verzichtet hätten, wenn sie sich zum Marktzins hätten finanzieren müssen.
Der Bankensektor verfügt zusätzlich zu diesem «Too big to fail»-Vorteil über zwei weitere: Erstens über die Möglichkeit, Ausserbilanzgeschäfte zu betreiben und zweitens, im Notfall, eine «Bad-Bank» zu bilden. Welcher andere Wirtschaftssektor geniesst so viele Vorzüge? Wie viele Grossbanken wären ohne diese Vorteile schon bankrott?

Rating-Agenturen

In einer Marktwirtschaft mit effizienten und transparenten Finanzmärkten hätten Rating-Agenturen nur eine beschränkte Rolle, da der Preis von Wertpapieren bereits alle relevanten Informationen reflektieren würde. Die blosse Existenz solcher Agenturen sowie die Rolle, die ihnen eingeräumt wird, zeugen von der heutigen Dysfunktionalität der Marktwirtschaft. Ausserdem sind die meisten Eigentümer der Rating-Agenturen Hedge-Funds und grosse Banken. Die Grossbanken sind zudem die besten Kunden der Rating-Agenturen. Dies schafft starke Interessenkonflikte, die sich nicht mit effizient funktionierenden Finanzmärkten und den Prinzipien einer liberalen Gesellschaft vereinbaren lassen.
Diese Interessenskonflikte führen dazu, die Frage nach der Objektivität und Seriosität dieser Bewertungen zu stellen, dies umso mehr als eine Bewertung im Durchschnitt nur zwei bis drei Stunden Arbeit erfordert (vgl. W. Rügemer, Rating-Agenturen, 2012).

Die Festsetzung von Referenzzinsen

Der Libor ist der Referenzzins für Finanzverträge im Umfang von mehr als 300’000 Milliarden Dollar; er ist damit wesentlich für den Betrieb des internationalen Finanzsektors. In einer Marktwirtschaft sollte sich seine Festsetzung aus einem Marktmechanismus ergeben. Das ist nicht der Fall. Anstatt auf Markttransaktionen wurde auf Meinungen gesetzt. Für unterschiedliche Währungen und Laufzeiten geben ausgewählte Banken täglich an, zu welchen Zinssätzen sie von anderen Banken Kredit erhalten könnten. Der Libor resultiert aus diesen Angaben.
Heute stehen mehr als ein Dutzend Banken unter Manipulationsverdacht (entweder um eine bessere Bonität zu signalisieren oder um mit Zinsderivaten Gewinne zu optimieren). Barclays hat zwischen 2005 und 2009 mindestens 257 Manipulationsversuche unternommen; bei der UBS sollen es mindestens 1000 gewesen sein, mit mindestens 30 involvierten Personen. Die Bank bezahlte externen Börsenmaklern 15’000 Pfund pro Quartal, damit sie der UBS halfen, die Libor-Eingaben mit anderen Banken zu koordinieren. Die UBS musste dafür eine Busse von zirka 1,4 Milliarden Franken bezahlen. Zudem hat die Bank rund 100 Millionen Franken für die interne Untersuchung und die Überprüfung von enormen Datenmengen ausgegeben. Es mussten 410 Rechtsanwälte eingesetzt werden, um diese Arbeiten zu erledigen. Bei den Praktiken des Bankensektors werden damit Symptome der Korruption, Ineffizienz und Bürokratie ersichtlich. Es ist schwer vorstellbar, dass dies der Bankensektor einer liberalen Wirtschaft sein sollte.

Derivative Produkte

Auch derivative Produkte stehen am Pranger. Ihre wichtigste Funktion sollte die Absicherung sein. Der gesamte Nominalwert dieser Produkte entspricht aber mindestens dem Zehnfachen des Welt-BIP. Wir sind mit dem Paradoxon einer Gesellschaft konfrontiert, die den Unternehmergeist sowie die Risikoübernahme hochhält und die zugleich noch nie so viele finanzielle «Absicherungsprodukte» emittiert hat. In den meisten Fällen sind die scheinbaren Absicherungsprodukte in Wahrheit Wetten, z. B. mit Credit Default Swaps (CDS), auf den Bankrott eines Unternehmens oder eines Landes. Diese Wetten erzeugen Systemrisiken, die ihrerseits ein Grund für weitere Emissionen von strukturierten Produkten sind; eine pyromanische Feuerwehrstrategie auf Kosten der Realwirtschaft.

Schlussfolgerung

Im Zentrum der liberalen Argumentation steht der Markt, der durch den Preisbildungsmechanismus die Wirtschaft effizient organisieren soll. Nun ist dieser Mechanismus auf den Finanzmärkten aber defekt. Im Kontext der heutigen Kasino-Wirtschaft, in der mächtige Akteure die Preise beeinflussen und manipulieren können, und die regelmässig in Betrugsversuche involviert sind, scheint es kaum möglich, dass Marktpreise wirklich den fundamentalen Wert von Wertpapieren repräsentieren. Die Funktionsweise der Finanzsphäre hat sich vom Geist des Unternehmertums und von den Prinzipien des Liberalismus immer mehr entfremdet. In der heutigen Wirtschaft scheint die unsichtbare Hand von Adam Smith zunehmend unwirksam, weil bei Grossbanken und Hedge-Funds die Verfolgung individueller Interessen immer mehr dem Gemeinwohl schadet.
Um die Märkte wieder zu ihrer ursprünglichen Bestimmung zurück finden zu lassen, drängen sich folgende internationale Massnahmen auf:

● Die Finanzprodukte sollten, bevor sie auf den Markt kommen, zertifiziert werden, so wie dies bei anderen Produkten der Fall ist, wie zum Beispiel im Industrie-, Nahrungs- und Pharmasektor. Die Finanzüberwachungsbehörden sollten für die Vergabe solcher Zertifikate verantwortlich sein. Auf diese Weise würde die Verbreitung «giftiger» Produkte begrenzt.
● Die Verbriefungs-Praktiken sollten eingegrenzt werden.
● Die Eigenkapitalanforderungen für Banken sollten mindestens 20% bis 30% betragen.
● Die Verbreitung «giftiger» Produkte sollte ein Finanzdelikt darstellen, so wie es in allen anderen Wirtschaftszweigen der Fall ist oder zumindest sein sollte. Es würde sich um eine Straftat handeln, welche die wirtschaftliche und finanzielle Sicherheit verletzt.
● Over-the-Counter-Transaktionen sollten verboten sein. Sie schaffen zusätzliche Risiken. Derivative Produkte sollten über organisierte Börsen mit zentraler Clearingstelle gehandelt werden, wo sie kontrolliert, registriert und öffentlich gemacht würden . So könnte man vermeiden, dass die Absicherung bestimmter Produkte zu Wetten auf den Zusammenbruch von Unternehmen werden (wie es beispielsweise bei CDS der Fall ist).
● Der Kauf eines CDS sollte das Halten eines darauf basierenden Wertschriftentitels bedingen.
● Die Aktivitäten von Hedge-Fonds oder von Private-Equity-Fonds sollten kontrolliert werden.
● Für die Führungskräfte von Banken sollten die Entschädigungssysteme auf der Grundlage von Bonuszahlungen durch Systeme ersetzt werden, die auch wirkliche Bestrafungen (malus) beinhalten. Heute sind es Aktienoptionen und hohe Abfindungen, die den Anreiz zum Eingehen von Risiken schaffen, die letztendlich von anderen Teilen der Gesellschaft getragen werden: von Aktionären, Kunden, Arbeitnehmern, Rentnern und letzten Endes von den Steuerzahlern.
● Die Effektivität des Risikomanagements und des Risiko-Controllings der Banken sollte stark verbessert werden. Boni für Risiko-Controller wären viel nützlicher als solche für Händler. Leider sind erstere heute im Vergleich zu den Händlern schlecht bezahlt. Dies verdeutlicht, wo die Prioritäten der «too big to fail»-Banken liegen. Der Verlustfall der UBS vom September 2011 illustriert dieses Problem. Der CEO der Bank hat im Oktober 2010 gesagt, dass die UBS im Investmentbanking wieder mehr Risiken eingehen sollte. Diese Äusserung gab ein klares Signal für die Trader, aggressiver zu sein, und gleichzeitig ein implizites Signal für die Risiko-Controller, weniger streng zu sein. Mit dieser Lage steigt die Wahrscheinlichkeit eines grossen Verlustes.
● Transaktionssteuern sollten eingeführt werden. Die oft erwähnte Quote von 0,1% ist sehr wenig im Vergleich z.B. zur europäischen Mehrwertsteuer, aber dennoch zu hoch für die Lobbies der Finanzindustrie. Es geht nicht nur darum, dem Staat mehr Geld zukommen zu lassen, sondern darum, die Spekulation und die Volatilität durch Verteuerung einzudämmen. High Frequency Trading würde dadurch begrenzt.
● Die Banken sollten in Rahmen eines Trennbankensystems in Investment- und Geschäftsbanken aufgetrennt werden, wie dies durch den Glass-Steagall Act von 1933 während Jahrzehnten der Fall war, und womit durchaus eine gewisse ökonomische Stabilität gewährleistet werden konnte.
● Die Grösse der Banken sollte begrenzt werden. Das Problem des «too big to fail» ist gefährlich, weil es falsche Anreize erzeugt. Finanzinstitute gehen Risiken ein, ohne deren Konsequenzen tragen zu müssen, weil der Steuerzahler im Notfall zur Kasse gebeten wird. Es handelt sich dabei um eine Gratisversicherung auf Kosten der allgemeinen Bevölkerung statt auf Kosten der Verantwortlichen.
● Rating-Agenturen sollten unter öffentlicher Kontrolle stehen, weil ihre Macht der demokratischen Funktionsweise der Staaten schadet. Die Finanzkrise zeigt, dass sie gescheitert sind, da sie die toxischen Finanzprodukte mit besten Noten bewertet haben. Sie wurden von den Geschäftsbanken dafür gut entlöhnt. Seit 2010 versuchen sie durch die strenge Bewertung der Staaten ihr Image aufzubessern.
● Der Inhalt des Unterrichts in der Volkswirtschaftslehre und Finance muss gründlich überprüft werden. Dies ist auch die Forderung eines Aufrufs, den 19 Finanzprofessorinnen und Finanzprofessoren im März 2011 lanciert haben. Mittlerweile haben über 450 Personen, zumeist aus der akademischen Welt, den Aufruf mitunterzeichnet.
Last but not least, verlangt die Implementierung dieser Vorschläge Mut und klare Visionen von den verantwortlichen Politikern!

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Siehe eine erste Fassung dieses Artikels in der NZZ vom 01.07.2013

Der Artikel in der vorliegenden Form ist originalpubliziert auf der Website des Rats für Wirtschafts- und Sozialpolitik kontrapunkt

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Prof. Dr. Marc Chesney ist «Vice Director of Department of Banking and Finance, Professor of Finance; Head of RPP Finance» an der Universität Zürich.

Zum Infosperber-Dossier:

Banken

Die Macht der Grossbanken

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Eine Meinung zu

  • am 12.10.2013 um 12:05 Uhr
    Permalink

    Dieser hervorragenden und umfassenden Nabelschau der heutigen Wirtschafts- und Finanzmarktsituation kann wirklich nichts mehr beigefügt werden, ausser, dass dieser Blickwinkel sich endlich in den Köpfen der Notenbankpräsidenten und Grossbankenmanager festsetzen sollte, wobei man natürlich die massgebenden Politiker auch nicht vergessen darf! – «Beurteile den Menschen nicht nach seinen Worten, sondern nach seinen Taten", Notenbanker, Politiker und Manager an die Arbeit, die Zeit drängt!

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