Kommentar

Das letzte Hemd hat keine Taschen

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsPeter Bosshard lebt in Berkeley/Kalifornien, wo er für eine internationale Umweltorganisation tätig ist. ©

Peter Bosshard, Berkeley USA /  Der Weltuntergang wurde nochmals vertagt. Findigen Köpfen bot er die Chance für ein gutes Geschäft. Ein Bericht aus den USA.

Ich schreibe diese Zeilen am späten Nachmittag des 21. Mai. Heute um 18 Uhr, so hat der Radioprediger Harold Camping in San Francisco ausgerechnet, soll ein starkes Erdbeben den Weltuntergang einläuten. Die Rechtgläubigen werden in den Himmel fahren, während Hungersnöte, Heuschrecken und anderen Plagen die Sündigen unter uns heimsuchen werden. Am 21. Oktober soll die Welt schliesslich ihr definitives Ende nehmen. Noch ist alles ruhig – Zeit, um mir über die kulturellen Eigenheiten meiner Wahlheimat, der Vereinigten Staaten, Gedanken zu machen.

Endzeiterwartungen sind nichts Neues. Radioprediger Camping hatte die Apokalypse erstmals bereits um 1994 heraufbeschworen. In den USA, wo religiöser Funhdamentalismus vielerorts die Lehre der Evolution und der Klimaerwärmung verunmöglicht, finden solche Prophezeiungen reiche Nahrung. Plakatwände im Grossformat rufen die Bevölkerung auf, rechtzeitig Busse zu tun. Unzählige haben in den letzten Wochen ihre Stelle aufgegeben, ihr Haus verkauft und ihre Ersparnisse aufgebraucht. Das letzte Hemd hat bekanntlich keine Taschen.

Nur die Geschäftstüchtigkeit läuft in den USA dem religiösen Fundamentalismus noch den Rang ab. Selbst aus dem Weltuntergang machen findige Köpfe ein gutes Geschäft. Was wird mit den Haustieren der reinen Seelen geschehen, so fragte sich Bart Centre aus dem Bundesstaat New Hampshire, die in Kürze in den Himmel auffahren werden? Seine Firma bietet Tierliebhabenden an, sich gegen eine Anzahlung von 135 Dollar im Fall ihrer Auferstehung um die vierbeinigen Freunde im irdischen Jammertal zu kümmern.

Centre’s Firma machte in den vergangenen Monaten ein gutes Geschäft. Zur Sicherheit stellte sie nur Atheisten ein, welche den Weltuntergang bestimmt auf Erden erleben werden. Auf Wunsch lästern die Tierpfleger in Gegenwart ihrer Kundschaft gar Gottes – nach traditioneller Auffassung die einzige Sünde, die nicht vergeben werden kann. Zudem können die Kunden andersgläubige Bekannte, die nach ihrer Aufassung nicht gerettet werden können, als Rechtsvertreter einsetzen, um Centre’s Firma während des Weltuntergangs zur Einhaltung ihres Vertrags zu zwingen.

Unterdessen ist es fast 19 Uhr, und der Weltuntergang wurde offenbar nochmals vertagt. Tausende von Endzeitgläubigen werden sich enttäuscht die Augen reiben. Sie werden doppelt enttäuscht sein, meint Bart Centre mit einem Augenzwinkern, wenn sich feststellen, dass ihr Vertrag mit seiner Firma keine Rücktrittsklausel hat.


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Peter Bosshard lebt in Berkeley/Kalifornien, wo er für eine internationale Umweltorganisation tätig ist.

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