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Die traditionelle Justiz der Dorfgemeinschaften funktioniert seit vielen Jahrhunderten © Conamaq

Boliviens Experiment mit der traditionellen Justiz

/  Seit 2009 gilt in Bolivien nicht nur das westliche Rechtssystem, sondern auch die indigene Rechtssprechung. Eine Analyse vor Ort.

Seit drei Jahren herrscht im Vielvölkerstaat Bolivien offiziell Rechtspluralismus: Die ordinäre und indigene Rechtssprechung existieren gleichberechtigt nebeneinander. Doch die noch immer verbreitete Lynchjustiz bringt die indigene Justiz zu Unrecht in Verruf und offenbart die Schwächen des neuen Staatsmodells.

Am 18. Oktober 2009, nur wenige Monate nach der verfassungsrechtlichen Anerkennung der indigenen Rechtssprechung, greifen in der bolivianischen Stadt El Alto Augenzeugen Pablo Quispe Laura an, als er sich unrechtmässig eine Gasflasche aneignen will. Der Mann wird mit Fäusten und Knüppeln so heftig geschlagen, mit Benzin übergossen und angezündet, dass er einen schweren Schädelbruch, Rissquetschwunden und Verbrennungen dritten Grades erleidet. Die Polizei schreitet mit Tränengas ein, um die fast 300 anwesenden Personen zu zerstreuen, schleift den Schwerverletzten drei Häuserblocks weit zum Einsatzwagen und bringt ihn ins Krankenhaus. Dort erliegt er noch in derselben Nacht seinen Verletzungen.
Vorschnelle Fehlinterpretationen
Unter Präsident Evo Morales hatte Bolivien 2009 eine neue Verfassung verabschiedet. Sie stellt die ordinäre staatliche und die indigen-kommunitäre Rechtssprechung von Dorfgemeinschaften auf gleiche Ebene. In der kruden Realität der Lynchmorde sehen viele in Bolivien den Beweis für die Blutrünstigkeit eines archaischen Indio-Rechts. Auch internationale Medien meinten vorschnell, einen Kausalzusammenhang zwischen der neuer Verfassung und der grassierender Lynchjustiz zu erkennen. Diese Gleichung, im besten Fall eine Interpretation aus der Hüfte, ist jedoch nicht haltbar.
Doch es kommt in Bolivien immer wieder vor, dass blosse verbale Anschuldigungen oder kleinste Indizien auf ein Vergehen ausreichen können, um eine tödliche Spirale der Gewalt in Gang zu setzen.
Lynchjustiz hat nichts mit indigener Rechtssprechung zu tun
Beobachter sind sich einig, dass massendynamische Gewaltexzesse nicht primär den Charakteristika der indigenen Justiz geschuldet sind, sondern vielmehr soziale und politische Phänomene darstellen, die im Kontext eines rechtsstaatlichen Vakuums stattfinden, wo weder das ordinäre staatliche, noch das indigen-kommunitäre Recht zur Anwendung gelangen. «Lynchjustiz ist in keinster Weise teil der indigenen Rechtssprechung», sagt Ramiro Molino, Anthropologe und Direktor des staatlichen Ethnografie- und Folkoremuseums in La Paz. Obwohl es in der indigenen Rechtssprechung früher in seltenen Fällen zur Anwendung der Todesstrafe gekommen sei, verbiete die Verfassung ihre Anwendung heute explizit. Weil das Funktionieren der indigenen Justiz in der Öffentlichkeit nur diffus bekannt sei, werde sie oft verzerrt wahrgenommen und falsch interpretiert.

Eine Justiz der Versöhnung
Welche sind also die primären Merkmale der indigen-kommunitären Rechtspraxis? Ramiro Molino hat die indigene Rechtssprechung bolivianischer Prägung in zahlreichen Fallstudien untersucht: Im Grundsatz ist die indigene Justiz eine in der andinen Kosmovision verwurzelte, überwiegend mündlich tradierte Praxis der Rechtsprechung, die darauf abzielt, das durch ein Vergehen gestörte Gleichgewicht der Gemeinschaft wiederherzustellen: «Die indigene Justiz ist eine Justiz der Versöhnung. Das Ziel besteht darin, zur Harmonie zurückzukehren. Der Missetäter wird dazu gebracht, seinen Fehler wieder gutzumachen und das Opfer zu entschädigen», erläutert Molino. Während die staatliche Justiz der Logik des «Wegschliessens von Verbrechern» folge, stehe hier das möglichst rasche Wiedereingliedern des Missetäters in das soziale Gefüge im Vordergrund. Dabei liege es in der Natur der Sache, dass kapitale Verfehlungen – wie Mord und Kindsmissbrauch – von der indigenen Justiz auf diese Weise nicht bewältigt werden könnten und an den Staat übertragen werden müssten.
In hohem Grad demokratisch
Anders als in der ordinären Justiz, wo Gesetze über die Legislative entstehen, werden die Normen in der indigenen Rechtsprechung per Debatte und Konsens in sehr kleinen Versammlungen auf Ebene der indigenen Gemeinden, den sogenannten ayllus, definiert. Molino unterstreicht, dass die Normen dadurch in hohem Grade demokratisch legitimiert seien.
Sie finden ihren Ausdruck in Form von soziokulturellen Werten, die durch die lokalen Lebensbedingungen inspiriert und christlichen Grundprinzipien nicht unähnlich sind: In ländlichen Gemeinden mag das heissen, nicht zu stehlen, kein Faulpelz oder Trinker zu sein, sich nicht auf das Niveau von Tieren herabzulassen und sich gegenüber der pachamama, der Mutter Erde, nicht Besitz ergreifend zu verhalten. Im Gegensatz zur ordinären Justiz ist die indigene Rechtsprechung für alle Mitglieder der Gemeinde kostenlos. Dadurch ist sie offen zugänglich. Molino betont, dass asymmetrische Machtverhältnisse, die aufgrund sozio-ökonomischer Unterschiede vor staatlichen Gerichten oft eine Rolle spielen, dadurch entschärft würden.
Verurteilungen folgen vermuteten Straftaten auf dem Fuss
Ein weiterer bedeutender Unterschied findet sich darin, dass die Ämter mit richterlicher Befugnis nicht von Spezialisten, sondern von gewöhnlichen Leuten aus der Gemeinde im Turnus bekleidet werden. Lange Gefängnisstrafen und Wartezeiten bis zum Strafvollzug existieren nicht: Das Urteil wird schnell gesprochen, die Strafe sofort vollzogen. Stelle man hier einen Vergleich mit der staatlichen Justiz an, so Molino, erstaune die hohe Effizienz der indigenen Rechtsprechung: «Nach offiziellen Statistiken warten rund 80% der Insassen in staatlichen Gefängnissen auf eine rechtskräftige Verurteilung.»
Hinzu komme eine sehr bolivianische Eigenheit, kleine Zwists und Streitereien schnell vor den Richter zu bringen, was das Justizsystem zusätzlich überfordere. Die indigene Rechtsprechung sei daher hervorragend geeignet, kleinere Vergehen zu bearbeiten und das staatliche Justizsys-tem zu entlasten.
Eine ganze Palette von Sanktionsmöglichkeiten
Je nach Schweregrad des Delikts werden Sanktionen physischer, finanzieller und psychologischer Natur erwogen: Neben körperlicher Arbeit zu Gunsten der Gemeinschaft, Geldstrafen sowie materieller Wiedergutmachungen durch die Schenkung von Vieh werden auch die Verweigerung des Respekts, der Ausschluss von gemeinschaftlichen Aktivitäten und der Abbruch jeglicher Beziehungen zur Familie des Beschuldigten praktiziert. Tatsache ist, dass öffentlich verabreichte Peitschenhiebe ebenfalls zur gängigen Strafpraxis gehören. Üblicherweise handelt es sich um drei Hiebe, wobei vor der Ausführung zuweilen die Natur um Erlaubnis gefragt wird. In dieser Strafpraxis liegt wohl begründet, dass die indigene Rechtsprechung wiederholt mit Lynchjustiz in Verbindung gebracht oder gar verwechselt wird.
Indigene Justiz als Deckmantel
Regierungskritische Stimmen bemängeln denn auch, dass die Landesführung unfähig sei, diesbezüglich klare Verhältnisse zu schaffen und die Gewaltexzesse im öffentlichen Raum zu unterbinden. Der bolivianische Journalist Carlos Valverde Bravo hat in seinem Buch «Qué pasó?» – «Was ist geschehen?» –, aus dem auch eingangs rapportiertes Beispiel stammt, knapp 70 Fälle von Lynchjustiz aus der Amtszeit Evo Morales‘ dokumentiert. Darin beschuldigt er die Regierung, aus Gründen des politischen Machterhalts vor den Lynchmobs zurückzukrebsen. Da die Bevölkerung in Abwesenheit rechtsstaatlicher Strukturen ihr Recht auf Selbstjustiz reklamiere, würde sie laut Valverde düpiert, sollte der Staat ihre Lynchmorde durch energisches Einschreiten der Polizei verhindern: «Anstatt die Institutionen zu stärken, entscheiden sich die Behörden für Untätigkeit, um politische Loyalitäten nicht zu gefährden.»

Valverde beteuert, kein Gegner der indigenen Justiz zu sein. Vielmehr gelte seine Kritik einem schwachen Staat, der nicht in der Lage sei, für ein klar definiertes Nebeneinander der beiden Justizsysteme zu sorgen. Vor allem beklagt er die Diskreditierung der indigenen Rechtsprechung: Zum einen diene sie kriminellen Gruppierungen verschiedenster Couleur als Deckmantel zu unverhältnismässiger Gewaltanwendung. So würden in Drogenhändlerringen und Schmugglerkreisen Abrechnungen mit Todesfolge nach aussen nicht selten als «indigen-kommunitäre Justiz» deklariert. Zum anderen seien Lynchmörder nicht selten tatsächlich der Meinung, ihre Taten seien durch die indigen-kommunitäre Rechtsprechung legitimiert.

Mängel in der praktischen Umsetzung
Zwar ist seit 2010 ein Gesetz in Kraft, das die Zuständigkeitsbereiche der verschiedenen Justizsysteme festlegt und definiert, wie diese untereinander zu koordinieren sind. Doch laut Carlos Valverde hat sich in der Praxis nicht viel an der Situation geändert. Auch Anthropologe Ramiro Molino räumt ein, dass noch viele Leerstellen, Widersprüche und hängige Debatten zu finden seien, die vor allem den Umgang mit Kapitaldelikten wie Mord, Kindsmissbrauch und Vergewaltigung betreffen.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie ein System des Rechtspluralismus den immensen Herausforderungen gerecht werden soll, die eine globalisierte Welt an den heutigen Staat heran-trägt: Dabei ist der grenzüberschreitende Drogen-, Waffen- und Menschenhandel im bolivianischen Kontext eines der drängendsten Probleme, das aufgrund der mangelhaften Koordination zwischen den verschiedenen Justizsystemen und den daraus resultierenden Schlupflöchern für das organisierte Verbrechen wohl schwierig in den Griff zu kriegen ist.
In Bolivien fühlen sich 63 Prozent der Bevölkerung einem der 36 anerkannten indigenen Völker zugehörig. Nicht umsonst gilt das Land manchen lateinamerikanischen Politkwissenschaftlern aufgrund seiner starken ethnischen Fragmentierung und der ebenso mannigfaltigen wie mächtigen sozialen Bewegungen als «unregierbar». Sollte es der Regierung nicht gelingen, starke und wirksame staatliche Institutionen aufzubauen, ist nicht auszuschliessen, dass die Regierung Morales mit ihrem Projekt der Schaffung eines plurinationalen Staates – das dasjenige eines funktionierenden Rechtspluralismus mit einschliesst – weit hinter den Erwartungen zurückbleibt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor hat in Bolivien im Rahmen eines DEZA/MAZ-Programms ein Redaktionspraktikum absolviert und studiert gegenwärtig in Buenos Aires.

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