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Mauer am Tahrir-Platz in Kairo: Appell zum Religionsfrieden © Helene Aecherli

Bericht aus Kairo: Gott und Allah unter einem Dach

Jasmin El Sonbati, Kairo /  In einer Schule kommen Muslime und Christen bestens miteinander aus, während es zwischen Erwachsenen zu Krawallen kam.

Angesichts der Schlagzeilen über fast tägliche Animositäten und zeitweise gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen christlichen Kopten und Muslimen würde man es kaum glauben: An der Deutschen Evangelischen Oberschule (DEO) in Kairo gibt es seit elf Jahren einen gemeinsamen christlich-muslimischen Religionsunterricht der 11. und 12. Gymnasialklasse. Es ist ein beispielhaftes interreligiöses Projekt. Christen und Muslime lernen, Unterschiede nicht auszublenden, sondern mit ihnen zu leben.

Wie offen darf ich sein?

Hupen, Verkehrslärm, die Anpreisungen eines fahrenden Strassenhändlers sind auf dem Schulareal der Deutschen Schule im Stadtteil Dokki hörbar. Sie erinnern den Besucher daran, dass er in Kairo ist. Es ist Frühling im Land, jahreszeitlicher und politischer. Auf dem Stundenplan der 11. Klasse steht der kooperative Religionsunterricht. Ägyptische und deutsche Schülerinnen und Schüler muslimischen und christlichen Glaubens, Mädchen mit keckem Kopftuch, andere mit sichtbarem Kreuz um den Hals, Jungs mit cooler Streetwear.
Betreut werden sie von einem ebenso interkonfessionellen Lehrerteam, dem ägyptischen, an der Al Azhar ausgebildeten, perfekt Deutsch sprechenden muslimischen Religionslehrer, dem evangelischen Pfarrer, dem katholischen Religionspädagogen, beide aus Deutschland. Als Muslimin, ägyptisch-schweizerische Doppelbürgerin, Romanistin und Gymnasiallehrerin in Basel fühle ich mich sehr aufgehoben und wünsche mir ein solches Modell auch für die Schweiz. Ich soll aus meinem Buch «Moscheen ohne Minarett» vorlesen und mit den Jugendlichen ins Gespräch kommen. Wie offen darf ich sein, was «verträgt’s», was nicht?

Ist Zweifeln erlaubt?

Die Episode vom jüdischen Jungen, der an seiner Bar Mizwa* erklärt, er glaube gar nicht an Gott, wähle ich als Einstieg. Gibt es Gott überhaupt? Darf man an seiner Existenz zweifeln? Die Antworten sind sehr persönlich, keine Zurückhaltung oder Selbstzensur. Ein deutscher Junge unterstellt dem Zweifler, er unterziehe sich der «Taufe» nur, um sich des Geschenks sicher zu sein. «Auch ich habe schon an Gott gezweifelt, man muss einfach daran glauben, einen Beweis für seine Existenz haben wir nicht.»
Niemand entrüstet sich, im Gegenteil. Der islamische Lehrer liefert die entsprechenden Suren** im Koran, die auf freie Entscheidung hinweisen. Auf meinen Einwand, dass es in Ägypten unmöglich sei, sich öffentlich vom Islam zu distanzieren, meint ein Mädchen, das habe wohl eher mit den Traditionen zu tun, nicht mit dem Islam.
Ich bin beeindruckt. So offen kann ich in Ägypten nur mit wenigen Gleichgesinnten diskutieren. Das Ziel des Unterrichts, wonach Schülerinnen und Schüler «befähigt werden sollen, sich aufgrund eines fundierten Fachwissens in den Dialog der Religionen einzuüben und pauschalen Vorurteilen durch differenzierte Argumentation entgegenzutreten» scheint mir auf Anhieb erreicht.
Die Frau Imamin
«Können Sie sich vorstellen» will ich von einem jungen Ägypter wissen, der sich noch nicht zu Wort gemeldet hat, «dass eine Frau das Freitagsgebet anführt?» Die direkte Ansprache ist bewusst gewählt, die freigeistigen Äusserungen haben mich beflügelt. Ein paar Stirnrunzeln und eine ehrliche Antwort: «Das habe ich mir noch nie überlegt.» Ich schwärme von meiner Vision, von der Frau am Minbar***, erzähle von Amina Wadud, der muslimischen Afroamerikanerin, die in New York ein Gebet geleitet hat. Plötzlich schnellen alle Hände in die Höhe. «In Ägypten wird das nie möglich sein, aber in Europa und Amerika, wo die Menschen freier sind, warum nicht?»
Andere sind hoffnungsvoller, verweisen auf die Überwindung von Althergebrachtem, wie wir es aus der islamischen Geschichte kennen. Wie viel von dem, was Frauen heute erreicht haben, wurde unseren Urgrossmüttern der Religion wegen verwehrt: Ausbildung, Berufstätigkeit, freie Partnerwahl.
Ein kleiner Gendergraben tut sich dennoch auf, die Jungen können sich weniger mit der «Frau Imamin» anfreunden als die Mädchen, Muslime und Kopten gleichermassen. «Männer regieren auch in der Religion. Das Patriarchat ist schuld», bringt es eine Schülerin auf den Punkt. Es gäbe noch so viel, worüber wir uns hätten austauschen können, ein lautes Läuten kündigt den Schulschluss an. Um den Religionsfrieden muss man sich in diesem Mikrokosmos keine Sorgen machen, sondern hoffen, dass es ihn hinausträgt, auf die Strassen und in Häuser von Kairo.

*eine Zeremonie, bei der ein elfjähriger Junge in die Gemeinschaft der Juden aufgenommen wird.
**Sure 2, Vers 256: «Es ist kein Zwang im Glauben », Sure 10, Vers 99: «Und wenn dein Herr gewollt hätte, so würden alle auf der Erde insgesamt gläubig werden. Willst du etwa die Leute zwingen, gläubig zu werden?»
*** Kanzel in einer Moschee

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Berner Pfarrblatt


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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