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Syriens Präsident Bashar al-Assad wird interviewt von Rainer Hermann © Syrisches Präsidialamt

«Ägypten wird Assad in Syrien unterstützen»

Red. /  Der Nahost-Spezialist der «Frankfurter Allgemeinen», Rainer Hermann, über Ursachen und Folgen des Militärputschs in Ägypten.

upg. Folgendes Interview mit Rainer Hermann haben Amalia und Werner van Gent geführt. Auch sie haben sich als Journalistin und Journalist auf den Nahen Osten spezialisiert.


Woran sind die Muslimbrüder gescheitert?
Mursi ist an mehreren Faktoren gescheitert. Erstens waren die Muslimbrüder nicht inklusiv genug, das heisst, sie gingen nicht auf die anderen Teile der Gesellschaft zu, um sie beispielsweise in den Verfassungsprozess einzubinden. Der grosse Sündenfall war die eilige Verfassungsdiskussion, die speditive Verabschiedung einer Verfassung, der eben die Hälfte der Gesellschaft nicht zugestimmt hat. Das war ein Indikator dafür, dass die Muslimbrüder nicht inklusiv waren.
Ein zweites Problem war, dass die Muslimbrüder versucht haben, ihren Gang durch die Institutionen anzutreten, und da sind sie auf Granit gestossen. Denn auch in Ägypten gab es stets einen tiefen Staat, ähnlich wie in der Türkei – tiefer Staat besteht natürlich aus dem Militär, der Bürokratie, aus Sicherheitskräften, zum Teil auch der Justiz – das hat also durchaus ähnliche Strukturen wie in der Türkei. Diese zwei Zu?ge prallten aufeinander, und in diesem Zweikampf haben die Muslimbrüder den Kürzeren gezogen.
Sie haben auch aus einem dritten Grund den Kürzeren gezogen, weil dieser tiefe Staat nämlich massiv aus dem Ausland unterstützt wurde, vor allem von Saudi-Arabien und den Vereinten Arabischen Emiraten. Diese haben beispielsweise mehrere hundert Offiziere der ägyptischen Sicherheitskräfte und damit die Konterrevolution in Ägypten finanziert.
Auch Sabotage gab es: Ein wichtiger Grund zum Beispiel für die Proteste gegen Mursi waren die Knappheit beim Benzin und auch bei Grundnahrungsmitteln sowie die Stromabschaltungen. Aber einen Tag nach dem Sturz von Mursi war alles wieder normal. Es gab keine Schlangen mehr vor den Tankstellen, die Güter waren alle da. Das bedeutet, dass die Sabotage, die von aussen gefördert wurde, auch eine Rolle spielte.
Ein weiterer Grund war, dass Transparenz in das Geflecht zwichen Macht und Geschäftsinteressen gebracht werden sollte, und das sahen weder die Mächtigen im Staatsapparat noch die unternehmerische Elite gern. Deshalb hat sich diese unternehmerische Elite auch geschlossen an der Sabotage beteiligt.
Das sind in etwa die Gründe, die zum Scheitern von Mursi geführt haben. Dass die Muslimbrüder diese Gefahren nicht gesehen haben, spricht dafür, dass sie der Aufgabe, diese Transformation im Staat durchzuführen, einfach nicht gewachsen waren. Sie waren die Schwächeren, hatten nicht die richtige Strategie.
Mursi musste gestürzt werden, weil im Oktober Wahlen durchgeführt werden sollten und die Muslimbrüder dann drei Institutionen kontrolliert hätten: die Präsidentschaft, das Parlament und die Cura. Danach einen Putsch durchzuführen, wäre wesentlich riskanter gewesen. Die Zeit drängte, aber dass es dann so blutig werden würde, das hätten selbst die grössten Pessimisten nicht erwartet.

Wären die Muslimbrüder nicht gescheitert, wenn sie eine alle Schichten umfassende Verfassung eingeführt hätten?

Sie hätten versuchen müssen, einige aus den säkularen Kreisen zu sich herüberzuziehen. Aber sie haben es nicht geschafft, einen Keil in die andere Seite zu treiben, um ihre Regierung zu legitimieren. Ganz im Gegenteil: Sie haben die säkularen Kreise erst richtig zusammengeschweisst.
War das der Grund, dass die Liberalen für die Armee und gegen Mursi waren?
Die Muslimbrüder sind zwar Demokraten, aber nicht liberal, die Säkularen hingegen sind keine Demokraten, weil sie die Ergebnisse der Wahlen nicht akzeptieren. Die Muslimbrüder wiederum sind nicht liberal, denn sie haben eine islamische Verfassung durchgedrückt und waren der Meinung, dass Demokratie die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit ist und den Minderheiten keine Rechte zustehen.

Also gibt es durchaus Parallelen zur Türkei?

Auf jeden Fall.

Die Armee verspricht, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Wird ihr das gelingen?

Die Polarisierung wird damit nicht aufgehoben werden, denn die Armee hat es sich zum Ziel gesetzt – und dies auch gesagt –, die Muslimbrüder als politische Kraft und vielleicht sogar als gesellschaftliche Macht zu eliminieren. Alles, was in Ägypten jetzt geschieht, geschieht unter diesem Gesichtspunkt. Es wird also eine Verfassung sein, die darauf aufbaut, dass es keine Muslimbrüder gibt. Im Westen werden sie damit gut ankommen, weil es dann heissen wird, die Religion sei an den Rand gedrückt. Die gesellschaftlichen Probleme Ägyptens werden damit aber nicht gelöst.

Werden die Muslimbrüder dies überleben oder werden die Salafisten, die Extremisten, gewinnen?
Die Muslimbrüder sind eine Bewegung, die über 80 Jahre im Untergrund gelebt hat. Sie wird auch diese Welle überleben. Der zweite Punkt ist, dass der Polizeistaat, der nun zurückkehrt und stärker ist als unter Mubarak, auf diese Massenbewegung mit Massenverhaftungen reagieren wird, viele Muslimbrüder werden also im Gefängnis landen und sich dort radikalisieren.
Die wichtigsten Jihadisten der Gegenwart wurden in den Gefängnissen von Nasser und Mubarak herangezüchtet. Die Muslimbrüder werden intern eine Diskussion über «what went wrong» starten und sich Fragen stellen: Sollen wir weitermachen, konfrontativ und nicht inklusiv, oder sollen wir versuchen, uns in dieser Gesellschaft zurechtzufinden? Sollen wir einen Konsens finden, sollen wir uns erneuern, damit wir mehrheitsfähig werden?
Ich glaube, dass kurzfristig die konfrontative Haltung die Oberhand behalten wird, dass sich aber langfristig die junge Generation durchsetzen wird, die enttäuscht u?ber das strategische Scheitern der älteren Generation ist.

Das Militär hat eine Technokraten-Regierung eingesetzt. Kann diese die wirtschaftlichen Probleme des Landes in den Griff bekommen?

Keiner sollte sich im Moment wünschen, Präsident von Ägypten zu sein, denn die wirtschaftlichen Probleme dieses Landes sind gewaltig. 600’000 Arbeitsplätze müssten jährlich geschaffen werden, damit die Arbeitslosigkeit stabil bleibt. Zwischen 40 und 50 Prozent der Ägypter leben unter der Armutsgrenze von zwei Dollar am Tag – ohne massive Investitionen aus dem Ausland sind diese Probleme nicht zu lösen. In diesem engen Niltal leben 80 Millionen Menschen, die kaum über eine neue Lebensgrundlage verfügen.

Der Westen hat beim Putsch geschwiegen, was hätte er anders tun sollen?
Der Westen spielt sozusagen keine Rolle. Er wird von den neuen Machthabern als Unterstützer der Muslimbrüder angesehen, weil er sagt, dass Mursi auf demokratische Art und Weise hätte gestürzt werden sollen. Insofern ist der Westen für die neuen Machthaber auch kein Gesprächspartner mehr. Sie haben deutlich gemacht, dass sie eine Alternative haben, sollte sich der Westen aus Ägypten zurückziehen, und die heisst Russland. Damit wäre Russland nach 41 Jahren wieder zurück in Ägypten (die Russen wurden 1972 von Sadat aus Ägypten vertrieben). Was wir jetzt erleben, ist eine neue nationalistische Welle und ein Neo-Nasserismus.

Was bedeutet das konkret für Israel? Dort reagierte man zunächst erleichtert nach dem Putsch.

Die Israelis werden sich genau umschauen müssen. Mursi wusste, dass er alles tun konnte, nur nicht Israel angreifen. Und er hatte gesagt, er werde sich dem Thema Israel nur dann widmen, wenn vorher alle internen Probleme gelöst seien. Nun hat die Massenbewegung Tamarod als nächstes angekündigt, eine Petition zur Kündigung des Friedensvertrages mit Israel zu starten.
Mit solchen neo-nasseristischen Tönen wird Ägypten versuchen, unabhängiger vom Westen zu sein und damit auch weniger friedfertig Israel gegenüber auftreten. Auf der anderen Seite haben Israel und die neuen Machthaber ein identisches Ziel, das ist die Sinai-Halbinsel. Dort gedeihen Jihadisten, die sowohl Ägypten als auch Israel bedrohen, da gibt es durchaus Raum für gemeinsames Handeln.

Sie erwähnten, Saudi-Arabien unterstütze die neuen Machthaber, Qatar aber nicht, woher rührt diese Spaltung?

Qatar hat eingesehen, aufs falsche Pferd gesetzt zu haben. Qatar hat in den letzten Wochen zwei LNG-Flüssiggastanker nach Ägypten geschickt, um den neuen Machthabern zu gefallen. Das Land war durch den Thronwechsel mit sich selbst beschäftigt, ist auch in Syrien zurückgepfiffen worden. Dort und in Ägypten hat Saudi-Arabien die Leitung u?bernommen.

Was bedeutet dies für Syrien?

Die Muslimbrüder hatten klar zu verstehen gegeben, zunächst bringen wir Ägypten unter unsere Gewalt, dann wenden wir uns Syrien zu. Viele Stimmen in der syrischen Opposition beklagten, dass die Muslimbrüder die Opposition zu stark kontrollierten.
Diese Möglichkeit entfällt nun, die Muslimbrüder werden sich nicht mehr um Syrien und um Ägypten kümmern. Die neuen Machthaber sind am Status quo interessiert und nicht an einem Sturz Assads. Ich glaube nicht, dass Sisi Assad in die arabische Liga zurückholen wird. Man sollte aber nicht vergessen, dass auch Sadat einst aus der arabischen Liga verstossen wurde, unter Mubarak das Land jedoch wieder in die Liga zurückkehrte. So ist es nicht ausgeschlossen, dass auch Assad unter veränderten Bedingungen wieder in die Liga zurückkommt.
Ist ein Auseinanderfallen Syriens also heute weniger wahrscheinlich?

Die Möglichkeit besteht weiterhin. Assad kontrolliert bestenfalls die Hälfte Syriens und hat wichtige Landesteile aufgegeben, wie zum Beispiel das Euphrattal mit dem Assaddamm, weil diese für das Überleben nicht so wichtig waren. Wir haben eine militärische Konstellation, die sich seit Monaten kaum geändert hat.
Der sunnitische Teil steht jetzt wieder in enger Zusammenarbeit mit der historischen Al-Anbar-Region im Irak, so wie die Gegend um Aleppo wieder enger mit der Region um Gaziantep verbunden ist – durch das Sykes-Picot-Abkommen 1916 waren diese Verbindungen zerschnitten worden. Momentan lösen sich also die Grenzen auf beziehungsweise werden irrelevant. Es entstehen dadurch nicht unbedingt neue Staaten, sondern neue Gebilde, und womöglich werden wir über einige Zeit hinweg mit solchen Gebilden leben mu?ssen.
Dasselbe gilt übrigens für die Kurdengebiete von al-Hasaka und Qamischli. Die Kurden haben sich von der Opposition in Aleppo losgesagt und natürlich vom Gebiet Assads. Sie haben eine Verfassungdeklaration vorbereitet, in der sie zwar sagen, weiterhin zu Syrien zu gehören, unter den gegebenen Bedingungen aber mit Arbil (Nord-Irak) zusammenarbeiten. Ähnliches kann man an der libanesisch-syrischen Grenze beobachten. Die Grenzen, die wir aus den Atlanten kennen, sind heute aus der gelebten Praxis heraus irrelevant.

Die Türkei hat den Putsch in Ägypten scharf kritisiert, wie reagierten die neuen Machthaber darauf?
Sie haben die Haltung der Türkei unakzeptabel genannt und sogar gedroht, die touristischen Verbindungen zu kappen. Erdogan hat sich sowohl bei der Unterstützung Mursis wie bei der Forderung nach dem Sturz Assads zu sehr aus dem Fenster gelehnt und in beiden Fällen verloren, mehr noch als Qatar.
Ist nicht der Glaube an die Demokratie durch den Putsch kaputtgegangen?
Die Islamisten werden sicherlich den Glauben an die Demokratie verloren haben. In diesen Ländern geht es aber nicht in erster Linie um Demokratie, es geht mehr um Rechtsstaatlichkeit, gleiche Chancen, Gleichheit vor dem Recht.

Dieses Interview ist soeben im Reise-Magazin «Treffpunkt Orient» von Amalia und Werner van Gent erschienen.

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Keine

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Eine Meinung zu

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 16.11.2013 um 17:50 Uhr
    Permalink

    Eine Verfassung, der die Hälfte der Gesellschaft nicht zugestimmt hat, gab es leider auch in fortschrittlichen und demokratischen Ländern. Sogar in Luzern, wo man die Nichtstimmenden als Jastimmen zählte und Bern, wo es erstaunlich viele Nein-Stimmen gab, also bei der vielgerühmten, die Juden noch ausschliessenden CH-Bundesverfassung von 1848, lag keine Zustimmung des «ganzen Volkes» vor. Es war aber doch eine freiheitlich legitimierte Verfassung. Ohne sie wären Weiterentwicklungen wie 1874 und 1891 (Volksrechte) nicht möglich gewesen, zu schweigen von den liberalen Grundrechten, bei denen die Schweiz 1848 Spitze war. Das Wichtigste muss ich hier, wiewohl im Einzelfall ein Verteidiger der Jesuiten, hier noch hinzufügen, wiewohl es in der Schweiz keine wirklichen Analogien zu den Muslimbrüdern gab: Die religiösen und konfessionellen Ausnahmeartikel der BV von 1848 waren in Richtung auf den laizistischen Staat damals prinzipienethisch und auch von der Verfassungsgeschichte her, Diskriminierung hin oder her, gerechtfertigt und eine Hauptvoraussetzung für den Progress der Freiheit in der Schweiz. Das macht den riesigen Unterschied zur Muslimbrüderverfassung aus. Von daher scheint für Aegypten ein Militärputsch nach kurzer Zeit das geringere Übel zu sein als einer erst nach 20 oder gar nach 45 Jahren, wie es ihn z.B. in der katholischen Diktatur Portugal 1974 gab. Eine solche Art Diktatur hat übrigens der Schweiz im Sonderbundskrieg, hätte die falsche Seite gesiegt, nie gedroht.

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