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1974: Ägyptische u. israelische Generäle verhandeln über Truppenrückzug, Remy Gorgé (3. v. rechts)* © © UN Photo/Yutaka Nagata

30 Jahre lang höchstrangiger Schweizer in der Uno

Urs P. Gasche /  Ein Schweizer UN-Peacekeeper im Irak, Iran, Libanon, Kairo, Zypern und im Kongo zieht in seinen Memoiren eine ernüchternde Bilanz.

Im Macht-Zirkel der Uno hat kein anderer Schweizer vor oder nach ihm je eine so hohe Stelle besetzt. Während dreissig Jahren stand er als juristischer und politischer Unterhändler oder direkter Gesandter im Dienste der UN-Generalsekretäre Hammarskjöld, U Thant, Waldheim und Perez de Cuellar. Der Berner Rémy Gorgé ist im Dezember 2015 im Alter von 92 Jahren gestorben.
Die friedenserhaltenden und friedensfördernden Missionen der Uno, für die er sich an vorderster Front engagiert hatte, hätten langfristig keinen Erfolg gezeigt, schreibt Gorgé in seinen unveröffentlichten, privaten Memoiren. Punktuell hätten zwar Waffenstillstände, Demarkationslinien und UN-Soldaten Konflikte stoppen oder einfrieren lassen, aber gelöst seien sie noch heute nicht.

Von Sadat liessen sich alle täuschen

Nach einem Jura-Studium in Bern und wenigen Jahren beim IKRK in Genf berief UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld Rémy Gorgé 1956 als Rechtsberater nach Jerusalem zur überhaupt ersten Friedenssicherungsmission der Uno.
Der Nahe Osten sollte zu Gorgés Spezialgebiet werden. Zuerst von 1956 bis 1959 in Jerusalem und in Gaza, dann von 1971-1973 wiederum in Jerusalem war er für die «Organisation der Vereinten Nationen zur Überwachung des Waffenstillstands» UNTSO an der Front. Seit dem Sechstagekrieg von 1967 arbeitete Jurist Gorgé zum ersten Mal auch als politischer Berater der höchsten UN-Vertreter.

In schlechter Erinnerung geblieben ist dem Schweizer UN-Diplomaten der Überraschungsangriff des ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat im Oktober 1973 gegen Israel. Weder die israelischen und westlichen Geheimdienste noch die Uno mit ihren Horchposten hätten Sadats Kriegsdrohungen ernst genommen. Gorgé weilte sogar in St. Moritz in den Ferien und konnte wegen geschlossener Flughäfen nur noch mit einer israelischen Militärmaschine nach Jerusalem zurück. Er unterstützte einen sofortigen Waffenstillstand, den US-Aussenminister Henry Kissinger den Israelis unter Drohungen nahelegte. Doch der «schlecht beratene» Sadat wollte weitere Gebiete erobern und lehnte ab. Seinen Übermut habe Ägypten mit einer vollständigen Niederlage büssen müssen. Einzelne Analysen des Konflikts publizierte der zweisprachig aufgewachsene Diplomatensohn Gorgé in der «NZZ» und der «Gazette de Lausanne».

Das Vertrauen aller Konfliktparteien gewinnen

Als Verhandlungsvorbereiter und -teilnehmer habe er stets auf beide Seiten eingehen sowie das Vertrauen aller Konfliktparteien gewinnen müssen, was ihm eine neutrale Einschätzung erlaubt habe. Seine Nationalität als «Neutraler» habe manchmal geholfen, manchmal auch gebremst, weil für hohe Posten Mitglieder der Uno bevorzugt wurden. 1974 reklamierte der sowjetische Botschafter beim damaligen Uno-Generalsekretär Kurt Waldheim: «Warum besetzt ein Vertreter eines Nicht-Uno-Landes den Posten des politischen Beraters des UN-Kommandanten der UN-Noteinsatztruppe (United Nations Emergency Force)?» Dank seiner guten Beziehungen mit allen involvierten Regierungen konnte Gorgé seine Funktion behalten. Die Schweiz sollte der Uno erst im Jahr 2001 beitreten.

Nach dem Friedensabkommen zwischen Ägypten und Israel von 1967 war Gorgé wieder in Zypern beschäftigt, wo er bereits von 1965-1971 stationiert gewesen war, dann wieder seit der türkischen Intervention und der Zweiteilung der Insel von 1974 bis 1981.

Rémy Gorgé (Mitte stehend) bei einer Vertragsunterzeichnung am 13. September 1974 über humanitäre Fragen zwischen dem neu amtierenden griechisch-zypriotischen Staatsoberhaupt Glafkos Klerides (links von ihm sitzend) und Rauf Denktaş, ab 1975 Präsident des Türkischen Föderativstaates von Zypern (rechts von ihm sitzend). Voraus gingen ein von Griechenland unterstützter Putsch der Zyprischen Nationalgarde gegen die Regierung von Erzbischof Makarios III sowie im Sommer darauf eine Landung regulärer türkischer Truppen im Nordteil der Insel. (Bild: UN/Y.Nagata)
Eine Wiedervereinigung des griechischen und türkischen Teils sowie ein Abzug der UN-Friedenstruppe seien erst möglich, falls «Griechenland und die Türkei eines Tages eine enge Freundschaftsbeziehung entwickeln wie etwa die USA und Kanada», schreibt Gorgé in seinen Memoiren.

Remy Gorgé mit Erzbischof Makarios III., der zuerst Präsident ganz Zyperns und dann des griechisch-zypriotischen Teils war.

Neue Machtstrukturen im Mittleren Osten

Der Mittlere Osten war geprägt durch die Machtübernahme von Gamal Abdel Nasser in Ägypten im Jahr 1952 (bis 1970), den Sturz der Monarchie 1958 im Irak und die dortige Machtübernahme der Ba’ath-Partei 1968 (bis 2003). Die Ba’ath-Partei kam 1971 auch in Syrien mit Präsident Hafez al-Assad an die Macht, dem Vater des heutigen Präsidenten Bashar al-Assad. Nasser versuchte, sich mit Syrien zu verbünden, weshalb Iran und Irak ihren Hauptfeind in Ägypten gesehen hätten. Das US-Militär landete im Libanon und die britische Armee in Jordanien, um die dortigen verbündeten Regierungen an der Macht zu erhalten.
Während dieser Zeit verfolgte Rémy Gorgé aus der Nähe den aufkommenden Konflikt zwischen dem sunnitisch dominierten Irak und dem schiitisch orientierten Iran. Nach dem Sturz des Schahs 1979 habe Ruhollah Chomeini begonnen, im Irak die starken Minderheiten der Schiiten und Kurden gegen das sunnitische Regime aufzuwiegeln. Für Gorgé nicht überraschend brach 1980 der erste grosse Krieg zwischen dem Irak und dem Iran aus. Er wirft beiden Ländern vor, die Lage «völlig falsch eingeschätzt» zu haben. In der Folge hätten die USA während der Kriegsjahre bis 1988 Saddam Hussein «mit einer enormen Menge von Waffen» geholfen, sich gegen den US-Erzfeind Chomeini zu wehren, «am Schluss auch mit dem Einsatz von Giftgas». Nach dem Ende des Kriegs habe der Westen zu spät gemerkt, dass «Saddams Appetit für Waffen unersättlich» war. Die USA hätten darauf im Irak die schiitischen beziehungsweise kurdischen Minderheiten unterstützt und ihnen Hoffnungen gemacht, sie dann allerdings bei ihren Aufständen im Süden und Norden «sträflich im Stich gelassen».

Kurt Waldheims versteckte Hypothek

Ein ganzes Kapitel ist der Karriere von Kurt Waldheim gewidmet, der Rémy Gorgé zeitweise gefördert und zeitweise im Stich gelassen hatte. Von Beginn seiner Karriere weg habe Waldheim beschlossen, seine Zeit als Wehrmachts-Offizier im Balkan von 1942 bis 1945 vor Feinden und Freunden unter den Tisch zu wischen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs habe er einem Zertifikat vertraut, das ihn als «Anti-Nazi» auswies.
Niemand sollte erfahren, dass ihn der «bekannte kroatische Faschistenführer Ante Pavelic für seine Tapferkeit gegen Aufständische mit einer Auszeichnung dekoriert hatte, die ein deutscher General unterzeichnete, der später für Massaker an Partisanen und Zivilpersonen verantwortlich gemacht wurde». Schlimmer noch: Die Regierung Jugoslawiens habe ihn als Kriegsverbrecher der Kategorie A eingestuft, weil er am Erschiessen von Gefangenen beteiligt gewesen sei, und über diese Einstufung auch die «UN-War Crimes Commission» informiert, welche Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs aufdecken und ahnden sollte. «Das belastende Dokument landete in den Kellergewölben der Uno in New York und niemand ausser dem vermutlichen Täter im 38. Stockwerk wusste etwas davon.» Auf diesem Stock residierte damals der erste UN-Generalsekretär Trygve Lie.
Waldheim wäre nie UN-Generalsekretär und später Österreichs Staatspräsident geworden, hätte man seine Vergangenheit gekannt, schreibt Gorgé. Er zitiert Edgar M. Bronfman, den damaligen Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses: «Aus Gründen des Kalten Krieges wurde Österreich von den Alliierten nicht als Mittäterin, sondern als Opfer der Nazis dargestellt. Kurt Waldheim ist ein Beispiel für diese Lüge.»
Ab 1986 machten die «New York Times» und der «World Jewish Congress» bekannt, dass Waldheim Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes NSDStB und der Sturmabteilung SA war, also der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP. Zeitweise war Waldheim unter General Friedrich Stahl und dann im Generalstab Löhrs tätig gewesen, deren Armeeeinheiten schwere Kriegsverbrechen verübt hatten.
Waldheim bestritt diese Mitgliedschaften. Er habe weder von Judendeportationen etwas gewusst noch an Verhören von Gefangenen teilgenommen, behauptete er. In Österreich wusste er die Regierungspartei ÖVP hinter sich. Diese sprach von «Schmutzkübelkampagne» des Jüdischen Weltkongresses (WJC), was ihm 1986 die Wahl zum Bundespräsidenten ermöglichte.
Am meisten habe Waldheim getroffen, schreibt Gorgé, dass die USA 1987 ein Einreiseverbot gegen ihn verhängten und darauf kein westliches Land den Bundespräsidenten mehr einreisen liess.

Kurt Waldheim (rechts): UN-Generalsekretär und später österreichischer Bundespräsident. In der Bildmitte Rémy Gorgé.
Von der Schweiz enttäuscht

«Wenn man jahrelang in Krisengebieten lebte, beginnt man die Schweiz zu idealisieren», bilanzierte Gorgé. «Umso grösser ist die Enttäuschung nach der Rückkehr». Der «Weltbürger», wie er sich nannte, ging jedoch auf diese Enttäuschungen nicht weiter ein. Er zog sich zuerst in ein Bauernhaus in Appenzell Ausserrhoden zurück, später in die Walliser Berge und nach Brissago, wo er im Dezember 2015 im Alter von 92 Jahren gestorben ist. Er hinterlässt Frau, Tochter und Sohn sowie zahlreiche Enkel und Urenkel.
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*UN-Beschreibung des Aufmacher-Bildes:
Egyptian and Israeli Generals Confer at Kilometer 101
Military representatives of Egypt and Israel held a three-hour meeting today in the United Nations tent at Kilometer 101, on the Cairo-Suez road. The commander of the United Nations Emergency Force (UNEF), Lieutenant General Ensio Siilasvuo, chaired the meeting. The Chief of Staff of the Egyptian armed forces, Major General Mohamed Abdul Ghany El-Gamasy, was assisted by three aides, while the Chief of Staff of the Israeli armed forces, Lieutenant General David Elazar, was assisted by four aides.
A general view of the meeting as both parties discussed the timing of the different phases of the disengagement of forces. At right is Gen. Siilasvuo. To his right is Remy Gorgé, Political Adviser to United Nations Emergency Force (UNEF) Commander. To his left is Capt. Joseph Fallon (Ireland), member of the staff of the UNEF Commander. In the background is Gen. Elazar. To his right are Gen. A. Adan and Col. D. Sion. In the foreground are General El-Gamasy (right) and Gen. Taha El-Magdoub.
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Bericht der «Schweizer Illustrierte/sie+er» vom 3. Dezember 1973
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NACHTRAG
Roger Blum, Historiker und emeritierter Professor für Medienwissenschaften an der Universität Bern hat uns folgende Ergänzung geschickt:
Die Baath-Partei gelangte in Syrien nicht erst 1971 an die Macht, sondern 1963. Die 1940 von Damaszener Lehrern, einem griechisch-orthodoxen Christen und einem sunnitischen Muslim, gegründete Partei erlebte mehrere parteinterne Putsche und Metamorphosen, was sie aber immer blieb: laizistisch, sozialistisch, autoritär geführt. 1971 putsche sich der Fliegergeneral Assad an die Macht und leitete in der Partei eine «Korrekturbewegung» ein. Da im Nahen Osten Religionen und Ethnien immer eine Rolle spielen, strömten von Anfang an die Minderheiten in die Baath-Partei: die Christen, die Drusen, die Alawiten. In Irak war Saddam Hussein, der sich in der Baath-Partei schließlich durchsetzte, zufällig Sunnit, was seinem Regime, obwohl eigentlich areligiös und laizistisch, einen sunnitischen Anstrich gab (trotz christlicher Minister wie beispielsweise Außenminister Tariq Aziz) und auch dazu führte, dass er besonders brutal gegen die (sunnitischen) Kurden (also andere Ethnie) und die (arabischen) Schiiten (also andere Religion) vorging. Die Schiiten sind übrigens im Irak keine Minderheit, sondern die relative Mehrheit. Minderheiten sind die arabischen und die kurdischen Sunniten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war mit Rémy Gorgé befreundet.

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