Kommentar

«Was hast Du gegen mehr direkte Demokratie?»

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsMatthias Bertschinger ist Jurist und Mitglied des Forums für Menschenrechte und Demokratie FMD ©

Matthias Bertschinger /  Der Initiative «Staatsverträge vors Volk!» geht es nicht um die Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen – im Gegenteil.

«Die direkte Demokratie» verkommt allmählich zu einer Ausrede für Weltflucht. Wir sind gegen mehr gemeinsames (Völker-)Recht, gegen gemeinsame (und eben nicht «fremde») Richter und gegen so genannte «undemokratische» Gebilde wie die EU; wir wollen «im Gegenteil» mehr direkte Demokratie, denn: Hätten wir mehr direkte Demokratie, wäre automatisch Vieles besser. «Die direkte Demokratie» steht nicht mehr nur für ein Verfahren mit seinen Vor- aber auch Nachteilen, sondern verkommt zu einer Ideologie. Das zeigt sich auch und gerade in den Diskussionen rund um die Initiative «Staatsverträge vors Volk!»: Die Frage «was hast Du gegen mehr direkte Demokratie?» entwaffnet, weil sie sich auf einen Glauben stützt – auf ein Denkverbot.

Eine Ausrede für unsere Weltflucht

Der Überhöhung der direkten Demokratie liegt nicht ein Wille zu mehr Freiheit zugrunde, sondern im Gegenteil eine Angst vor Freiheit, Weltoffenheit, moderner Staatlichkeit überhaupt und «global governance» sowieso. Die direkte Demokratie dient uns als Ausrede für unsere Weltflucht: Nur wo Alle über Alles in kleinen Gemeinschaften befinden können, sei der Mensch sich nicht selbst entfremdet, geben wir uns überzeugt. Europäische und weltweite Integration setzen wir kurzerhand mit weniger Demokratie gleich.

Oder wir rationalisieren unseren Rückzug in die Isolation, indem wir die weltweiten Probleme erst gar nicht als unsere eigenen betrachten. So müssen wir uns auch nicht in Problemlösungsstrukturen einbinden lassen, die eine Lösung der weltweiten Probleme bezwecken. In der Überhöhung der direkten Demokratie zeigt sich eine Verweigerung der Einsicht, Teil eines Ganzen zu sein, und für dessen Schicksal, das auch unser eigenes ist, mitverantwortlich zu sein.

Was nützt die Souveränität auf dem Papier?

Doch wir sind Teil dieser Welt, ob wir das sehen wollen oder nicht. Unsere hoch technisierte und globalisierte Welt bedarf dringender denn je einer Stärkung internationaler Politikebenen, um weltweit akzeptierte Standards des Minderheitenschutzes durchzusetzen, globalisierte Finanzmärkte wieder in den Dienst der Menschen zu stellen, globale Güter (Wasser, Luft, Biosphäre) zu schützen oder die nukleare Non-Proliferation zu intensivieren. Nur gemeinsam lassen sich Sachzwänge wie der Standortwettbewerb überwinden, der auf die Zerstörung sämtlicher Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards hinausläuft.

Nur durch ein gemeinsames Vorgehen erhalten die Völker dieser Erde ihre Handlungsfähigkeit – ihre Souveränität! – zurück. Überstaatliche «Weltinnenpolitik» bedeutet also keineswegs weniger Demokratie und Souveränität. Denn was nützt die Souveränität auf dem Papier, wo der einzelne Staat nicht mehr handlungsfähig ist, weil er von der globalisierten Wirtschaft gegen andere Staaten ausgespielt wird?

Nicht länger die Augen verschliessen

Den Initianten der Initiative «Staatsverträge vors Volk!» geht es nicht um die Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen und Völker – im Gegenteil. Hinter dieser Initiative stehen Kreise, die an einer handlungsfähigen und demokratischen internationalen Gemeinschaft, die den Menschen und Völkern ihre Souveränität wieder zurückgeben könnte, nicht das geringste Interesse haben. Wir wären gut beraten, davor nicht länger die Augen zu verschliessen und uns freiwillig unterdrückenden Strukturen zu beugen, weil sie trügerischen Halt bieten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Matthias Bertschinger ist Jurist und Mitglied des Forums für Menschenrechte und Demokratie FMD

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4 Meinungen

  • NikRamseyer011
    am 24.05.2012 um 14:06 Uhr
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    Einverstanden: Die «autonome Übernahme» von Regelungen aus der EU oder gar vom Uno-Sicherheitsrat wird immer mehr zu einem Problem. Aber vor allem darum, weil vorab der Bundesrat zu wenig Rückgrat hat, auch da Widerstand zu leisten, wo Recht ganz offensichtlich in Unrecht verdreht wird. Und jetzt zeigt sich die gefährliche Tendenz, auch die teils systematische Missachtung des Volkswillens in EU-Ländern hierzulande «autonom» nachzuäffen. Franzosen und Französinnen haben mal die Frechheit gehabt, zu einem üblen, neoliberalen EU-Vertrag Nein zu sagen – mit dem Effekt, dass sie das nächste mal dann gar nicht mehr gefragt wurden.
    Wer derweil mit Begriffen wie «global governance» herumoperiert und behauptet, die direkte Demokratie werde «überhöht» oder verkomme zu einer «Ideologie", der vergisst, oder übersieht einiges:
    1. Ohne direkte Demokratie wären wir längst auch in die neuen Kolonialkriege des «Westens» in Afghanistan oder im Irak verstrickt, für die ich keineswegs «verantwortlich» sein möchte.
    2, Was da völlig unkritisch als «Problemlösungsstrukturen» dargestellt wird, heisst meist Nato, oder UNO-Sicherheitsrat. Und da herrscht nicht allgemein gültiges Recht (governed by law – not by men!) sondern sehr oft verlogene Willkür und Machtpolitik: Kein vernünftiger Mensch wird etwa glauben, «nukleare Non-Proliferation» sei irgend etwas anders als die Sicherung des Monopols von fünf Atommächten, die ihre Verpflichtung zur totalen Abrüstung seit Jahrzehnten missachten (auch das stünde eigentlich im Atomsperrvertrag) – und rein willkürlich die Verbreitung von Atomwaffen einmal befördern (Israel, Pakistan, Indien) und ein andermal mit allen Mitteln – bis zum Krieg bekämpfen (Iran).
    3. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist weder eine Ideologie, noch «Weltflucht", sondern die Einsicht, dass in der sogenannten «Weltinnepolitik» keine Demokratie herrscht, sondern die schlecht kaschierte Willkür der hochgerüsteten noch Super- aber immer mehr nur noch Kriegsmacht USA und ihrer Vasallen. Kleine Staaten werden da mit Drohung, Erpressung, Sanktionen und notfalls Gewalt rücksichtslos gleichgeschaltet (Are you with us, or with the terrorists?).
    4. Die direkte Demokratie als «Angst vor Freiheit» zu diskreditieren, ist eher perfid. Die Freiheit, zu Kriegsabenteuern oder Kürzungen der Sozialleistungen und zu Steuergeschenken an Reiche (Kanton Zürich!), welche die Machthaber planen, Nein zu sagen, ist eine der höchsten Freiheiten. Die meisten Völker Europas beneiden uns darum. (Der gescheite deutsche Philosoph Axel Precht plädiert darum dezidiert für mehr direkte Demokratie). Sie funktioniert aber eben am besten im kleinen überschaubaren Rahmen (Aus der Region für die Region), der eigentlich auch wirtschaftsmässig dem Menschen am besten angepasst wäre.
    5. Was konkret die Staatsverträge angeht, so nenne ich nur zwei Beispiele:
    a) 1995 titelte der TagesAnzeiger «Ogi will Nato-Partnerschaft am Volk vorbei schmuggeln". Der damalige SVP-Bundesrat protestierte direkt und vehement dagegen beim Verleger. 1996 argumentierte er dann vor dem Nationalrat lang und breit, warum es für diese perfide, einseitige «Partnerschaft» kein Referendum brauche. Abstimmen konnten wir darüber nie.
    b) Die üble «Bologna-Reform", unter der inzwischen fast alle hierzulande leiden, wurde als «Erklärung der Minister» hinterrücks beschlossen. Nicht mal das Schweizer Parlament konnte darüber diskutieren – geschweige denn das Volk abstimmen. Sonst hätte es diesen aus den USA und GB importieren Unfug, in dem auch Frauen plötzlich «Bachelor» und «Master» werden, wohl abgelehnt. Wir hätten immer noch den weltweit anerkannten Ingenieur ETH und keine Master (Mistress???) of anything.
    Diese und viele weitere Beispiele zeigen, wie dringlich die Initiative ist. Die Linke in der Westschweiz hat es gemerkt – und unterstützt sie! Niklaus Ramseyer, Bern

  • am 24.05.2012 um 16:55 Uhr
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    Wenn ich die Frage beantworten müsste, was ich gegen mehr direkte Demokratie habe, dann antworte ich: „Nichts“. Die Frage könnte genauso lauten, was man gegen mehr Demokratie im Allgemeinen habe. Beides enthält generelle Probleme, die meines Erachtens darin liegen, ob die Demokratie (einschl. direkte) noch das ist, für was sie gedacht war. Viele Diskussionen enden in einer Verteidigungsposition des status quo der Demokratie. Schade eigentlich, weil die Hinterfragung meines Erachtens lauten könnte, inwiefern unsere altgedienten (direkten) Demokratien – ich meine damit nicht nur die Schweiz – Korrekturen bedürfen, und zwar in Richtung „mehr“. Schon allein deswegen, weil es einige Anzeichen gibt, die die Demokratien untergraben: durch internationale Abmachungen, Entwicklungen in der EU, Unterlaufen parlamentarischer Rechte, Verfassungsänderungen usw. Gewiss, dies ist von Land zu Land unterschiedlich. Ich denke nicht an eine Neuerfindung unserer Demokratien, sondern an eine Art Evaluation.

    Ich bin nicht der Meinung, unsere direkte Demokratie verkomme. Für mich ist es eine Frage, wer oder was umgeht, hintergeht und missbraucht die Rechte der Demokratien. In dieser Beziehung gibt es einige Mitspieler, wie Politiker, Medien, Lobby-Vereine, Wirtschaftskreise, Ideologievertreter u. v. a. Es ist schwer verständlich, wenn Matthias Bertschinger schreibt, die Überhöhung der direkten Demokratie liege in einer „Angst vor Freiheit, Weltoffenheit, moderner Staatlichkeit überhaupt und «global governance»“. Teilweise mag das stimmen, aber aus Sicht der Stimmbürger hat man es auch mit einer Ohnmacht, die man realisiert, zu tun, nicht über das abstimmen zu können, was man aber gerne würde. In irgendeiner Form hat dies auch mit der Souveränität zu tun, die man als Bürger gerne hätte.

    Aber was heisst das „nicht die Augen verschliessen“, wie Bertschinger schreibt? Gut, die Antwort hiesse „die Augen öffnen“. Aber mit offenen Augen ist noch nichts bewirkt. Ergo muss man etwas fordern, was man den oben genannten Mitspielern nicht alleine überlassen kann und darf. In dieser Beziehung sind die Bürger gefordert, die Hinterfragung zu forcieren. Drei Hauptprobleme stehen meines Erachtens dabei im Vordergrund: Stimmen erstens die normativen Grundlagen der (direkten) Demokratie noch, worin bestehen deren Werte, geht es ums Gemeinwohl oder um den Schutz von Rechten, geht es um einen Selbstzweck oder um Entscheidungen? Zweitens: Was bedeutet Demokratie, wie sieht sie idealerweise aus, Bedeutung zwischen Ideal und Realität, umfassende Bürgerbeteiligung vs. Delegieren an Repräsentanten? Drittens: Grenzen der (direkten) Demokratie, ist sie ein universeller Wert, Gefahren für die Demokratie durch Überstaatlichkeit, Gefahren die die individuelle Freiheit und für Gerechtigkeit usw.? Es gibt bestimmt noch jede Menge anderer Fragen.

  • am 25.05.2012 um 21:17 Uhr
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    Direkte Demokratie : Wie Herr Pawlowski in seinem Kommentar richtig sagt : „ Die meisten Völker Europas beneiden uns darum …“

    Wo keine direkte Demokratie herrscht, herrscht schlicht und einfach schon fast Diktatur. Diktatur von wenige, vom Volke gewählte (wenn es gut geht … ), wenige die aber weitgehend alleine entscheiden dürfen, und sehr oft tun sie dies (auch in Europa), am Volk vorbei.

    Also währet den Anfängen und bringt alles vors Volk. Es ist aufwendig, mühsam anspruchsvoll und teuer, aber im Nachhinein etwas zu korrigieren (wir haben ja einige Beispiele), ist noch aufwendiger und meist sogar unmöglich.

    Wir sind ein kleines Land, demokratisch gut aufgestellt, gut regierbar, bewahren wir uns doch dieses Privileg, und lassen wir uns nicht einschüchtern, im Gegenteil wir sollten unsere rechte stärken … solange es noch möglich ist !!!

  • am 25.05.2012 um 22:56 Uhr
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    Die Quadratur des Kreises gelingt auch Mathias Bertschinger nicht. Auch er kann anderen nicht Ideologie und Weltflucht vorwerfen, ohne dass diese Kritik auf ihn selbst zurückfällt. Vielleicht sollten nicht nur er, sondern wir alle uns die Frage stellen, wie souverän denn ein gemeinsames Vorgehen aller Völker überhaupt sein kann, wenn sich aufgrund ureigentlich grenzenloser Gier von uns allen unterschiedlichste Partikulärinteressen gegenüberstehen?!
    Ist es nicht vielmehr so, dass wir Menschen NICHTS mit absoluter Sicherheit wirklich wissen können? Andere Meinungen mit der unappetitlichen Aura von Ideologie zu brandmarken, entlarvt letztlich solche Autoren bloss ihres eigenen (immer) rechthaberischen Glaubens.
    Ich persönlich bin am allermeisten misstrauisch jenen gegenüber, die so sehr zu wissen glauben, welche Interessen und Motivationen andere haben, dass sie diese ihre persönlichen Ansichten über andere regelmässig veröffentlichen müssen – erst recht, wenn solche Autoren nicht klar zum Ausdruck bringen können oder dies auch nicht wollen, welche Interessen sie selbst verfolgen…
    Ich selbst trete übrigens unbedingt für die Direkte Demokratie ein und sehe diese als letzten Garanten gegen eine schleichende Entmündigung. Der Mensch giert schliesslich nicht nur nach Geld, sondern vor allem auch nach Macht. So wollen natürlich auch die Politiker gerne ihre Ideologien möglichst ungehindert durchsetzen können. Deshalb werden wir Bürgerinnen und Bürger richtiggehend „ermutigt“, unsere eigene Verantwortung zunehmend an Experten (vornehmlich natürlich Politiker) zu delegieren, da wir selbst mit der immer komplizierter werdenden Welt angeblich überfordert seien und wir uns angeblich immer mehr unkontrollierbar sich entwickelnder Eigendynamiken und Sachzwängen gegenübersehen. Doch sogar wenn das so wäre – was ich nicht glaube – dann ist noch lange nicht gesagt, dass Experten und Politiker die besseren Entscheide für „ihr“ Volk fällen…
    Nein Danke, kann ich da nur sagen – und hoffe natürlich darauf, dass die Initiative «Staatsverträge vors Volk» eine Mehrheit finden wird. Denn, egal, wie kompliziert und komplex unsere Welt sich auch entwickeln mag, es sind immer WIR SELBST, die darin leben und folgerichtig doch auch möglichst viel selbst bestimmen wollen.
    Klar sind wir auch frei darin, unseren Freiheitsgrad selbstbestimmt einzuschränken – allerdings möchte ich zu bedenken geben, dass es schier unendlich viel schwieriger ist, Verantwortung zurückzugewinnen, als Verantwortung abzugeben…

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