Kommentar

Corona: Alkohol und Blumen gegen die Depression

Tobias Tscherrig © zvg

Tobias Tscherrig /  Social Distancing ist das Gebot der Stunde. Aber der Selbsterhaltungstrieb der Bevölkerung stirbt mit Alkohol und Blumen.

Schweizerinnen und Schweizer sind zurückhaltend, verstecken sich hinter ihrem Gartenzaun oder der Neutralität und zeigen ihre Gefühle höchstens, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Und selbst dann sind sich Menschen anderer Nationalitäten nicht sicher, woher das laue Lüftchen weht – und erst recht nicht, was es bedeuten soll. Wie es die Komikerin Hazel Brugger formulierte: «Ich komme aus der Schweiz. Wir haben keine Emotionen, wir haben Geld.»

Es brauchte den Ausbruch einer globalen Pandemie, damit wir endlich so etwas wie Regungen zeigten. Was haben wir gelitten! Wir haben unseren Gefühlen auf Balkonen Auslauf gewährt, haben geklatscht, musiziert – unsere Ohnmacht mit Lärm vertrieben. Wir standen metertief unter Fenstern und sehnten uns nach den Menschen, die sich dort oben verschanzt hatten und einsam der Dinge harrten, die hoffentlich niemals eintreffen würden. Wir führten stundenlange Videotelefonate, auf Bildschirmen umarmten und küssten wir die Abbilder unserer Liebsten. Wir vertrieben uns die Zeit und verzehrten uns nach den anderen: nach den Menschen, vor denen wir uns in besseren Zeiten gerne hinter Gartenzäunen verstecken.

Und selbst Corona-Leugner, die Gegner der Sicherheitsmassnahmen und Verschwörungs-Phantasierer jeglicher Couleur, fanden im Internet eine Plattform, die sie mit ihren Emotionen zuschütteten. Als gäbe es kein Morgen. Egal wie, endlich haben die Schweizerinnen und Schweizer ihre Schockstarre abgeschüttelt. So wie das SVP-Nationalrat Andreas Glarner seit Jahren in anderem Zusammenhang fordert: «Schweizer, erwachet!»

Der wahre Gefühlsausbruch der Bevölkerung folgte dann aber am 11. Mai. Restaurants, Bars und Baumärkte öffneten unter strengen Sicherheitsvorkehrungen ihre Türen und hauchten dem Leben von Millionen neuen Sinn ein. Endlich: Alkohol und Blumen gegen die Depression. Ein Tag geht in die Geschichte ein, wird unsterblich.

Alkohol: der beste Freund von Covid-19
Mit einer Delegation von mutigen und krisenerprobten Gefährten besuchte ich am 11. Mai eine bekannte Tourismusdestination im Wallis. Statt Bier begleiteten uns Flaschen voller Desinfektionsmittel, Mundschutzmasken und die gute Absicht, sämtliche Sicherheitsregeln zu befolgen – und trotzdem am sozialen Leben teilzunehmen. Ach, was waren wir naiv! Dabei fing alles so gut an: Zur Mittagszeit in einem gut besuchten Restaurant; anstehen, bis Plätze frei werden. Kein Gedränge, die desinfizierten Tische und Stühle stehen weit auseinander. Kellnerinnen und Kellner halten sich – so weit das überhaupt geht – an die Abstandsregeln. Der Burger schmeckt gut, die Biere überdecken den ätzenden Geruch der Desinfektionsmittel.

Wir bleiben lange sitzen, reden, trinken und lachen. Dann durchstreifen wir die wenigen geöffneten Klubs und Bars des Ortes. Der Todesstoss für Social Distancing: Betrunkene Menschen umarmen sich. Einer erkundet eine unbekannte Mundhöhle mit seiner Zunge. Vollkörperkontakt bei Tanzeinlagen und einer Rangelei. Handshakes. Zwei fremde Menschen finden und einigen sich auf ein Schäferstündchen. König Alkohol braucht Körperkontakt, das Darben ist vorbei. Montag? Corona? Egal! Der Rausch interessiert sich nicht für eine eventuelle Vireninfektion, die vielleicht in zwei Wochen ausbrechen wird. Oder auch nicht.

Menschen tauschen fröhlich und ausgelassen Viren aus, als handele es sich um die neusten Sensationsmeldungen einer Boulevard-Zeitung. Da bringen auch die vorsorglich abgesperrten Pissoirs nichts, die beim Wasserlassen Abstand garantieren sollen.

Unsere Hände bleiben am Bierglas, auch wenn die Massnahmen des Bundes mit zunehmendem Alkoholpegel grotesk erscheinen und es zugegebenermassen nicht einfacher wird, sie zu befolgen.

Krieg im Gartencenter
Szenewechsel, einige Tage später: Lange habe ich mich vor dem Besuch im Baumarkt gedrückt. Zu viele Menschen, zu viel Gedränge, zu viele potenzielle Ansteckungsherde, zu wenig Lust auf stundenlanges Anstehen und Gerangel um Blumen und Pflanzen. Aber ich habe es versprochen. Die Umgebung der betagteren Verwandten will bepflanzt werden: Geranien für den Balkon, Blumenerde, Düngemittel, diverses Gemüse für den Garten, die Liste ist lang. Sehr lang.

Die Eisheiligen sind vorbei, der Garten der Verwandten noch leer. Sie werden nervös, seit Tagen informieren sie mich über die Preisentwicklungen ihrer bevorzugten Geranien. Also hin, die Gesundheit muss hinten anstehen. Die Parkplätze vor dem Baumarkt sind ebenso rar wie die Einkaufswagen. Endlich habe ich Glück, reihe mich vor dem Geschäft in eine lange Schlange ein, die durch die am Boden markierten Sicherheitsabstände noch länger wird.

Covid-19 ist zwar allgegenwärtig: Viele Kundinnen und Kunden tragen Mundschutz, Desinfektionsmittel fliesst in Strömen. In den langen Warteschlangen vor dem Eingang und den Kassen wird der Sicherheitsabstand eingehalten. Aber der Krieg beginnt spätestens im Gartencenter des Geschäfts: In Scharen hetzen kaufwillige Hobbygärtnerinnen und -gärtner durch enge Gänge, reissen sich die schönsten Pflanzen aus den Händen, drängeln, drücken, schieben. Die Kundinnen und Kunden achten nicht wirklich auf ihre Mitmenschen und die Vermeidung von Körperkontakt. Wie sollten sie auch? Die Prioritäten scheinen klar: Jede und jeder braucht den schönsten Garten, das blühende Paradies auf dem Balkon. Das ist wichtig.

Dazwischen wuseln die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Geschäfts. Verzweifelt bitten sie die Kunden, Abstand zu halten, sich zu mässigen. Fehlanzeige. Im Krieg gibt es kein Pardon.

Mit Alkohol und Blumen geht die Welt zugrunde
Arg durchgerüttelt schaue ich mir zuhause eine weitere Medienkonferenz des Bundesrats an. Der erklärt erneut die Gründe für die Öffnung von Restaurants, Bars und Gartencentern, appelliert an die Vernunft der Bevölkerung und wird nicht müde, die Schweizerinnen und Schweizer für ihr Verständnis und ihre Umsicht zu loben. Die Worthülsen erinnern an ein Wahljahr und ich frage mich, wann die Mitglieder des Bundesrats zuletzt einen heben waren – oder wann sie zuletzt ein Gartencenter von innen gesehen haben.

Seit einigen Tagen weiss ich: Der Selbsterhaltungstrieb der Bevölkerung stirbt mit Alkohol und Blumen. Die Welt, wie wir sie kennen, wird nicht überleben. Wegen Alkohol und Blumen. Dabei mochte ich beides. Aber jetzt nicht mehr, die Feinde der Menschheit sind enttarnt. Also hatte der in Zürich begrabene deutsche Mediziner, Naturwissenschaftler und Revolutionär Karl Georg Büchner doch recht, als er sagte: «Die Leute gehen ins Feuer, wenn’s von einer brennenden Punschbowle kommt.»


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8 Meinungen

  • am 26.05.2020 um 11:39 Uhr
    Permalink

    ‹Social Distancing ist das Gebot der Stunde.›
    Nein das ist es nicht, auf keinen Fall. Nur körperlicher Abstand ist einzuhalten, keinesfalls auch sozialen. Soziale Distanz tötet genauso wie Viren und Bakterien.

  • am 26.05.2020 um 11:59 Uhr
    Permalink

    Süffig geschrieben, spannend zu lesen. Nur, warum schreibt Tobias Tscherrig immer per «wir"?
    Er gibt uns einen barrierefreien Einblick in sein Denken und Leben! Verspürt er etwa einen leisen Anflug eines schlechten Gewissens…..Sucht er Verständnis und Entschuldigung?
    Auf Nachahmerinnen und Nachahmer wird er ja kaum aus sein!

  • am 26.05.2020 um 14:03 Uhr
    Permalink

    Zufällig war ich auch gleich in der Woche vom 11. Mai in der Schweiz auf Reisen und habe alle möglichen Varianten von Interpretationen der BAG Empfehlungen gesehen. Die Sprache der Handlung sagt alles. Während die Mehrheit in Umfragen mit BR/BAG sehr zufrieden ist, drückt sich die gleiche Mehrheit in der Umsetzung ganz anders aus. Freuen wir uns mit Marco Rima über den gesunden Menschenverstand der Schweizer Bevölkerung! https://www.facebook.com/marco.rima/videos/230523018245890/
    https://www.facebook.com/marco.rima/videos/230523018245890/

  • am 26.05.2020 um 17:54 Uhr
    Permalink

    Der Artikel spricht mir sehr aus dem Herzen. Ich finde den Server super. Macht weiter so. Vielen Dank!

  • am 27.05.2020 um 00:35 Uhr
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    Um schonendes Anhalten wird gebeten

  • am 27.05.2020 um 10:32 Uhr
    Permalink

    Gut geschrieben, danke!
    @Schrader: «social distancing» kann man nicht mit sozialer Distanz übersetzen. Genau wie «social media» nicht Soziale Medien sind. Das englische Wort «social» bedeutet auf Deutsch «gesellschaftlich» und nicht «sozial». Also «gesellschaftlicher Abstand» (und «gesellschaftliche Medien") ist die Bedeutung.

  • am 27.05.2020 um 15:56 Uhr
    Permalink

    Alkohol gegen Depression: In der Unterführung des Bahnhofes Zürich-Oerlikon, waren der Blumenladen und die Buchhandlung lange geschlossen. Der Laden mit den alkoholischen Getränken wurde aber während dem Corona Lockdown nie geschlossen. Alkohol ist scheinbar ein systemrelevantes Lebensmittel, damit wir trotz Corona über die Runden kommen.

    Auch die Produktion von Kriegsmaterial ist natürlich «systemrelevant» für all die schönen Kriege die im Gange sind und die uns Flüchtlinge bescheren. Die Opfer dieser Kriege werden ignoriert. Nach dem im letzten Jahr von der Schweiz 43 Prozent mehr Kriegsmaterial exportiert wurde erfolgte kein Aufschrei wie jetzt bei Corona. Auch die Milliarden Investitionen der Nationalbank, der Banken, Versicherungen und Pensionskassen in ausländische Rüstungskonzerne werden hingenommen. Dabei: Durch all die Kriege angeheizt durch Waffenlieferungen der Industrieländer kommen mehr Menschen um als durch Corona: Kinder verhungern in Kriegsgebieten, die medizinische Versorgung wird durch Kriege lahmgelegt.

    Zu erinnern ist: Laut der Kriegsmaterialverordnung sind Waffenexporte der Schweiz an kriegführenden Staaten wie die USA und andere in Kriege verwickelte Staaten wie Deutschland, Frankreich verboten und auch an Regime im Nahen Osten.
    Seit dem 25. Februar 1998 heisst es im Artikel 5 der Kriegsmaterialverordnung: «Kriegsmaterialexporte sind verboten, wenn das Bestimmungsland in einem internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt ist»;

  • am 29.05.2020 um 12:35 Uhr
    Permalink

    Hierzu der New York Times Artikel vom 22.4.20 The Untold Story of the Birth of Social Distancing – The idea has been around for centuries. But it took a high school science fair, George W. Bush, history lessons and some determined researchers to overcome skepticism and make it federal policy: https://www.nytimes.com/2020/04/22/us/politics/social-distancing-coronavirus.html

    Ist aber wohl nur ein Teil der eigentlichen Story, und der Zweck des Distancing oder eines Lock-Down ist wohl nicht medizinisch. Es habe mit einem Programm unter D. Rumsfeld zu tun, eine Projekt zu etwas wie Reshaping economic geography mit sozialen Auswirkungen und einem notwendigen Projekt, die Akzeptanz und Voraussetzung in der Gesellschaft zu schaffen, z.B. um mehr Menschen in den USA in der Waffenindustrie einzusetzen.

    Kurze Erinnerung, was die WHO von Epidemie Massnahmen hielt lt. Metastudie 10/19, z.B. ab S. 13: https://www.who.int/influenza/publications/public_health_measures/publication/en/

    Wenn es keine medizinische Indikation auch lt. WHO gibt, dann gibt es nur einen politischen Grund wohl…

    Ach ja, und mit Bezug auf Manches im Artikel noch eine Buchempfehlung für eine weitverbreitete Bildungslücke: https://jillgrimesmd.com/seductive-delusions/ Jill Grimes, MD. Seductive Delusions – How Everyday People Catch STIs – weil Sie denken nur Sie wüssten Bescheid…

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