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Wie ticken Auslandschweizer politisch? Rudolf Wyders Buch «Globale Schweiz» zeigt Tendenzen auf © Stämpfli Verlag/YouTube/Europaplattform Schweiz

Auslandschweizer stimmen wie urbane Gebiete

Jürg Müller-Muralt /  Schweizer Expats werden politisch immer wichtiger. Und sie stimmen mehrheitlich für Öffnung und internationales Engagement.

Einwohnermässig ist die Fünfte Schweiz der drittgrösste Kanton; nach Zürich und Bern und noch vor der Waadt. Nahezu 762’000 Schweizerinnen und Schweizer leben gemäss den jüngsten verfügbaren Zahlen von 2015 jenseits der Landesgrenzen. Und es werden immer mehr: Seit Jahren wächst die Auslandschweizergemeinschaft um etwas mehr als zwei Prozent und damit fast doppelt so schnell wie die Inlandbevölkerung.

Die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer werden deshalb immer mehr zu einem politischen Faktor. Rund ein Viertel (gegen 148’000) der im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schweizer im stimmrechtsfähigen Alter nehmen gemäss Auslandschweizer-Organisation (ASO) ihre politischen Rechte wahr. Augenfälligstes Beispiel der verstärkten Auslandschweizerpräsenz auf dem politischen Parkett ist Tim Guldimann: Der in Berlin wohnhafte frühere Schweizer Botschafter und international bekannte Diplomat wurde bei den Wahlen 2015 als erster Auslandschweizer überhaupt auf einer SP-Liste in den Nationalrat gewählt.

Auslandschweizer als Zünglein an der Waage

Die Parteien buhlen schon seit längerer Zeit um die Gunst der Bürgerinnen und Bürger im Ausland. Denn vor allem bei heiss umstrittenen Vorlagen und knappem Abstimmungsausgang könnten die Auslandschweizer das Zünglein an der Waage spielen. Kommt dazu, dass sechs von zehn Auslandschweizern in Ländern der Europäischen Union leben und sich deshalb wohl stark für aussen- und europapolitische Themen interessieren. Für Parteistrategen wird es deshalb immer wichtiger zu wissen, wie die Schweizer Expats politisch ticken.

Noch immer hält sich teilweise das Klischee, die Auslandschweizer hätten mehrheitlich ein etwas idealisiertes Bild ihrer ursprünglichen Heimat, seien besonders patriotisch und identifizierten sich mit einer traditionellen Schweiz. Auch die Parteien zur Linken und zur Rechten glaubten lange, dass konservative Gruppierungen mit bewahrenden und isolationistischen Konzepten von diesem Wählersegment besonders profitieren könnten.

«Modern, ökologisch, liberal»

Rudolf Wyder, langjähriger früherer Direktor der Auslandschweizer-Organisation, kommt zu einem pointiert anderen Befund. Erstmals präsentiert er in seinem jüngst erschienenen Buch «Globale Schweiz: Die Entdeckung der Auslandschweizer» (siehe unten) eine breite Auslegeordnung der politischen Präferenzen der Expats. Die Datenbasis ist zwar noch nicht optimal, weil erst acht Kantone das Wahl- und Abstimmungsverhalten der Auslandschweizer separat ausweisen und dokumentieren. Da es sich punkto Grösse, Urbanität, Sprache, Konfession und regionale Verteilung um sehr unterschiedliche Kantone handelt (Genf, Luzern, Waadt, Basel-Stadt, Appenzell-Innerrhoden, Aargau, Thurgau, St. Gallen), dürften die Resultate doch recht aussagekräftig sein.

Bereits eine im Wahljahr 2003 von der ASO und von Swissinfo in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage zeigte laut Wyder, dass man sich mehrheitlich eine Schweiz wünscht, «die gegenüber dem Ausland offen ist, den Ausländern Chancengleichheit einräumt, modern, ökologisch und liberal ist.» Die Mehrheit der Befragten habe für den Uno-Beitritt, den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), die bilateralen Abkommen mit der EU sowie gar für die im März 2001 abgelehnte Volksinitiative «Ja zu Europa» gestimmt, die eine rasche Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU verlangte. Für diese Initiative «sprechen sich dabei bemerkenswerterweise nicht nur Sympathisanten der Linken aus, sondern auch 46 Prozent der Auslandschweizer, die sich zur Rechten zählen.»

Masseneinwanderungsinitiative ohne Chance

In Sachabstimmungen weicht das Votum der Stimmberechtigten im Ausland meist nicht signifikant vom Gesamtergebnis ab. Augenfällig ist jedoch gemäss Wyder «die offenere Haltung bei spezifisch aussenpolitischen Geschäften und bei Vorlagen, welche die Rolle und das Bild der Schweiz in der Welt betreffen.» Deutlich über dem Durchschnitt liege die Zustimmung etwa beim ersten Paket sektorieller Abkommen mit der EU (2000), dem Uno-Beitritt (2002), der Solidaritätsstiftung (2002), der Beteiligung an den Abkommen von Schengen und Dublin (2005), der Weiterführung der Personenfreizügigkeit und der Ausdehnung auf die Neumitglieder der EU (2009). Besonders bemerkenswert: «Die Initiative gegen Masseneinwanderung (2014) wird von den Auslandschweizern in allen acht Kantonen, die bekannt geben, wie diese gestimmt haben, mit durchschnittlich zwei Dritteln der Stimmen abgelehnt.» Analog zum Gesamtergebnis haben die Auslandschweizer auch die Beschaffung von Gripen-Kampfflugzeugen (2014) wie auch die Durchsetzungsinitiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer (2016) überall abgelehnt.

Bei Fragen rund um Öffnung und internationales Engagement der Schweiz votieren die Stimmenden im Ausland markant positiver als der schweizerische Durchschnitt. Mehr noch: «In Wahlen schneiden Parteien, die sich für internationale Präsenz und Partizipation offen zeigen, bei Auslandschweizern entsprechend besser ab. Das Stimm- und Wahlverhalten der Auslandbürger deckt sich praktisch mit dem Votum urbaner Gebiete im Inland», schreibt Wyder.

Deutliche Worte an die ASO-Führung

Der frühere ASO-Direktor zeigt sich denn auch irritiert ob der gegenwärtigen Politik der Auslandschweizer-Organisation. Seit 1988 habe sich die ASO immer «dezidiert für Öffnung und Partizipation der Schweiz in Europa im Allgemeinen und für die Personenfreizügigkeit im Besonderen» eingesetzt und zu Vorlagen klar Stellung bezogen. Zur Masseneinwanderungsinitiative von 2014 dagegen habe die ASO geschwiegen und damit die Augen «vor den manifesten Interessen ihrer Klientel» verschlossen. Wyders Schlussfolgerung: «Offenkundig scheuen die Verantwortlichen der ASO vor der Konfrontation mit dem immer dreisteren nationalkonservativen Lager zurück.»

Rudolf Wyders Buch ist aus Anlass des 100-Jahr-Jubiläums der Auslandschweizer-Organisation erschienen und beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Schweiz zu ihren Ausgewanderten in den letzten hundert Jahren. Nicht abenteuerliche Auswanderergeschichten stehen im Zentrum; der Autor bietet klassische Geschichtsschreibung, geht chronologisch und thematisch vor. Er behandelt die Entwicklung der Institutionen, die sich um die Auslandschweizer kümmern, ebenso wie etwa «Kolonialleben und Dekolonisierung» oder «soziale Absicherung der Mobilität».

Das Buch erscheint in einer Zeit, in der Migration zu den globalen Schlüsselthemen gehört. Die meisten Schweizerinnen und Schweizern nehmen aber nur ungenügend wahr, dass sie zu den wanderfreudigsten Zeitgenossen gehören: «Mehrere Zehntausend verlassen das Land jedes Jahr. Eine ähnlich hohe Zahl von Landsleuten kommt zurück, um Welterfahrung reicher», schreibt Wyder. Es ist das Verdienst dieses Buches, die grosse Bedeutung helvetischer Migration im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts ins Bewusstsein zu rücken.


Rudolf Wyder: «Globale Schweiz: Die Entdeckung der Auslandschweizer», Stämpfli Verlag, Bern 2016, 256 Seiten, CHF 34.-


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Keine

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