Kommentar

Auf die Mühle der Mächtigen

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  Schon zur Geburtsstunde der Zauberformel 1959 war klar: Anrecht auf einen zweiten Sitz ist nicht Anrecht auf eine bestimmte Person.

Wie schnell doch etwas uminterpretiert wird, wenn es im Interesse der Mächtigen liegt!

Im November 2007 hat die Schweizerische Bundesversammlung Konkordanz-gemäss zwei SVP-Mitglieder zum Bundesrat gewählt: Samuel Schmid und Eveline Widmer-Schlumpf. Das war allerdings nicht im Sinne des damaligen SVP-Bundesrates Christoph Blocher, denn selbstverständlich wollte er selber wiedergewählt werden. Sein unkollegiales Verhalten im Bundesrat, sein andauerndes Doppelspiel Regierungspartei/Opposition, seine Kritik der Schweizer Bundesverfassung in der Türkei wegen des Antirassismus-Artikels, ja ganz allgemein sein auf simplem Populismus basierender Solo-Polit-Auftritt hatten aber eine Mehrheit in den beiden Kammern zur Überzeugung gebracht, dass die ursprüngliche Hoffnung verfehlt war, ihn als Mitglied der Regierung zu ehrlicher und echter Kooperation bringen zu können.

Die SVP – am Gängelband Blochers – liess sich die Entscheidung der Bundesversammlung, der Partei zwar zwei Sitze zuzugestehen, nicht aber Herrn Blocher zu wählen, nicht gefallen. Die nationale SVP schloss die kantonale Bündner SVP der nicht linientreuen neuen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf kurzerhand aus – was dann zur Gründung einer neuen Partei, der BDP, führte.

Heute, vier Jahre später, stellt dieselbe SVP wie ganz selbstverständlich den Anspruch, wieder zwei Bundesräte stellen zu können, obwohl vor vier Jahren zwei SVP-Bundesräte gewählt worden waren. Dass die eine davon nicht mehr in der SVP ist, hat nicht sie selber so gewollt – sie ist rausgeschmissen worden.

Kurzes Gedächtnis

Zur Erinnerung: Im Jahr 1959, als es darum ging, den Sozialdemokraten erstmals einen zweiten Sitz im Bundesrat zuzugestehen, war der offizielle Kanidat der Partei der Schaffhauser Stadtpräsident Walther Bringolf. Die Bundesversammlung wählte diesen aber nicht. Ein ehemaliger Kommunist habe im Bundesrat nichts zu suchen, argumentierte eine Mehrheit. Gewählt wurde dann Hans-Peter Tschudi. Schon die Geburtsstunde der Zauberformel beinhaltete also auch das demokratische – und auch «moralische» – Recht der Bundesversammlung, einen Sitzanspruch zwar zu akzeptieren, eine bestimmte Person aber abzulehnen – aus persönlichen Gründen. Ein Regierungsmitglied soll ja nicht nur eine Partei-Marionette sein. Er soll auch als Mensch mit einer individuellen Geschichte und mit einem ihm eigenen Verantwortungsbewusstsein von den Wahlberechtigten ausgewählt und anschliessend getragen werden

Und so geschah es denn auch nach 1959 mehrere Male wieder, dass nicht der offiziell von der Partei Vorgeschlagene gewählt wurde, sondern ein Anderer der jeweils «sitzanspruchsberechtigten» Partei, der der Bundesversammlung vertrauenswürdiger erschien.

Und heute?

Doch das alles ist vergessen. 2007, als es um den politischen Führer der SVP ging, hatten – nach Ansicht eben dieser SVP – die wählenden Parlamentsmitglieder den Vorschlag der Partei gefälligst zu akzeptieren. Wenn nicht, war Rache angesagt. Die Fortsetzung der Geschichte kennt man.

Dass die grosse Masse der Stimmbürger ein kurzes Gedächtnis hat, weiss man. Dass aber prominente Politiker und Meinungsmacher, zum Beispiel etliche Chefredaktoren von grossen Schweizer Zeitungen, nun ebenso argumentieren und die Meinung vertreten, die SVP habe das legitime Recht, einen neuen zweiten Bundesrat zu stellen, verwundert doch etwas. NZZ-Inland-Chef René Zeller etwa, ein auffallend FDP-linientreuer Schreiber, forderte in seinem Frontseiten-Kommentar am Montag nach den Wahlen Eveline Widmer-Schlumpf ganz unverfroren auf, von sich aus auf eine Wiederwahl zu verzichten. Und Markus Spillmann, der Chefredaktor des gleichen Blattes, doppelte in der Dienstagsausgabe gleich nach und verlangte eine «arithmetische» Konkordanz, die allein valabel sei. Eine «inhaltliche» Konkordanz dagegen sei nur von «Lust und Laune» abhängig. Beide Kommentatoren verfolgen natürlich das Ziel, die beiden FDP-Bundesräte UND zwei SVP-Bundesräte zu platzieren, was eine 4:3-Mehrheit im Bundesrat ergäbe für zwei sich doch sehr nahestehende Parteien, die zusammen nicht einmal 42 Prozent Wähleranteil auf die Waage bringen, und, da beide deutlich rechts der Mitte politisieren, das Schweizer Volk mitnichten repräsentieren könnten. Aber Macht ist eben Macht, und das verleitet sogar NZZ-Spitzenleute zur Forderung, für einmal nicht auf den «Inhalt», sondern auf das Etikett der Polit-Büchse zu schauen… Auch Patrick Feuz verlangt am Dienstag in einem Frontseiten-Aufmacher im Berner «Bund» den freiwilligen Verzicht von Eveline Widmer-Schlumpf. Unglaublich!

Der Mensch zählt, für viele mehr als die Partei

In der politischen Kultur der Schweiz – und sie ist bekanntlich nicht die schlechteste auf dieser Welt – spielten und spielen nicht nur die Parteien eine Rolle, sondern ganz ausgeprägt auch deren Repräsentanten: die Menschen, ihre Argumentationen, ihre Ausstrahlung, ihre Glaubwürdigkeit. Das hat sich gerade auch wieder bei den Wahlen am Wochenende gezeigt. Während etwa die baselstädtische SP als Partei 6.1 Prozentpunkte Wähleranteile verloren hat, hat ihre Ständerätin, Anita Fetz, ein absolutes Glanzresultat hingelegt – sie erhielt doppelt so viele Stimmen wie die beiden Kandidaten der SVP und der FDP zusammen! Die Stimmbürger vertrauen ihr, nehmen ihr ab, dass sie sich für die Allgemeinheit einsetzt, weit über ihre Partei hinaus. Und das ist gut so.

Es war deshalb nicht nur konsequent, sondern auch ganz im Sinne unserer politischen Kultur, dass die Bundesversammlung im Jahr 2007 der SVP zwar einen zweiten Sitz zugestand, aber die vorgeschlagene Person (Christoph Blocher) ablehnte. Und es ist ebenso konsequent und im Sinne unserer politischen Kultur, wenn Eveline Widmer-Schlumpf nun nicht einfach dem Machtgehabe zweier Parteien geopfert wird, sondern wenn sie aufgrund des in sie gesetzten Vertrauens – aufgrund ihres «Leistungsausweises», um es im Slang unserer vielgerühmten Leistungsgesellschaft auszudrücken – wiedergewählt wird.

Es sind Inhalte gefragt – und Menschen!

Und wenn die Sozialdemokraten der Meinung sind, dass «arithmetisch» die SVP ja zwei Bundesräte hat, dann ist sie nur konsequent: siehe 1959, die Geburtsstunde der Zauberformel. Es geht nicht nur um Partei-Funktionäre, es geht – in unserer bewährten politischen Kultur – ausgesprochen auch um Inhalte. Und ganz besonders auch Menschen, die unser Vertrauen verdienen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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2 Meinungen

  • am 25.10.2011 um 16:09 Uhr
    Permalink

    Danke, Christian Müller, Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen bzw. geschrieben, nur noch besser begründet und formuliert als ich es könnte!

  • am 30.10.2011 um 11:22 Uhr
    Permalink

    Und wenn wir schon beim fröhlichen Regierungsbilden sind: Es ginge auch ganz anders. Ohne SVP. Eine Partei, deren durchschlagender Slogan heisst:"Schweizer wählen SVP", sagt damit: 70% der Wähler sind keine ordentlichen Schweizer. Das braucht sich diese Fast-Dreiviertel-Mehrheit nicht gefallen zu lassen. Dieses miefige Selbstverständnis muss nicht folgenlos bleiben, abgesehen davon, dass die SVP ohnehin Referendumsopposition machen wird, ob in der Regierung oder nicht. Also: 2 x FDP, 2 x CVP, 2 x SP, 1 x BDP wäre nicht nur denkbar, sondern sinnvoll. Es würde diese Parteien in den wichtigen Fragen mehr zu mutigeren Entscheiden zusammenzwingen. Wäre durchaus mehr als nur funktionsfähig: Das wäre richtig schlagkräftig. Und die SVP wäre durchaus eine gute Opposition, die aufpasst. Der Schweiz würde diese Konstellation guttun. Nach 4 Jahren beurteilt man dann das Ergebnis. Warum schlägt das kein Medium lautstark vor? Zugegeben: die NZZ wäre mit einem solchen Schritt etwas überfordert. Aber es gibt ja noch andere.
    ps. Wennn ich die heutigen (30.10.11) Frontseiten der Sonntagsblätter angucke: gleichförmig wie aus einem Ei! Die Heiligsprechung von Frau Widmer-Schlumpf steht unmittelbar bevor. Bitte wieder politischer! In struben Zeiten ist kein Platz für gehäkelten Populismus.

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