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E. Wayne Merry war 1990-94 Chefanalyst Politik auf der US-Botschaft in Moskau © afpc

Partnerschaft mit Russland: USA vergaben historische Chance

Pascal Derungs /  Ein Analyst der US-Botschaft in Moskau hatte in Washington Alarm geschlagen. Das zeigt ein kürzlich deklassifiziertes Telegramm.

Erst im letzten Dezember hat das «National Security Archive» ein geheimes Telegramm freigegeben, das Wayne Merry zwei Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus Moskau nach Washington schickte.

Der Polit-Analyst Merry meint heute im Rückblick, dass er damals zurecht vor radikalen wirtschaftlichen Reformen in Russland gewarnt habe. Doch die damalige US-Politik habe keine Rücksichten auf die Zustände in Russland genommen und dadurch eine langfristige Partnerschaft mit Russland verspielt. Den gleichen Fehler hätten die USA später im Irak gemacht, «eine Kombination von Ignoranz und Arroganz».

Unter dem Titel «A secret cable and a clue to where U.S.-Russia relations went wrong» hat der ehemalige Moskau-Korrespondent Serge Schmemann in der «New York Times» Ende Januar darüber berichtet.

Rosskur ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Konstitution

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kollabierte auch die kommunistische Planwirtschaft. Die Beschäftigungs- und Versorgungslage der Bevölkerung verschlechterte sich rapide, viele Menschen verarmten. In diesen Jahren verfolgte die US-Aussenpolitik die Strategie der «Schocktherapie»: Die Experten des Wirtschafts- und Finanzministeriums argumentierten, dass radikale marktwirtschaftliche Reformen der einzige Weg für das postsowjetische Russland seien und dass die Demokratie dann mit Sicherheit folgen werde.

Die meisten politischen Berater und Analysten hielten – wie Merry – vehement dagegen. Eine solche Rosskur werde die Lebensbedingungen der Menschen nur verschlimmern, warnten sie. Für sein Elend werde das russische Volk schliesslich Amerika – und die Demokratie selbst – verantwortlich machen.

Wirtschaftliche Interessen vernebelten den Blick auf Risiken

Doch diese Warnungen verhallten in Washington ungehört. In einem Interview mit Serge Schmemann erinnert sich Wayne Merry, heute Senior Fellow beim «American Foreign Policy Council»: «Ich hatte zweieinhalb Jahre lang über diese Themen geschrieben und war sehr frustriert, dass niemand in Washington sich für etwas anderes interessierte als für Wirtschaftstheorien aus Harvard.» Als Leiter der politischen Abteilung der US-Botschaft in Moskau habe er sich verpflichtet gefühlt, «Washington zu sagen, was los war». In einem Telegramm mit 70 Absätzen breitete er seine Argumente aus.

Langfristige Gefahren kümmerten die US-Politik nicht

«Selbst die fortschrittlichsten und sympathischsten russischen Beamten haben die Geduld mit der endlosen Parade von sogenannten <Hilfstouristen> verloren, die sich selten die Mühe machen, ihre Gastgeber nach einer Einschätzung der russischen Bedürfnisse zu fragen», schrieb Merry. Die amerikanischen Bemühungen sollten sich stattdessen auf eine «nicht aggressive russische Aussenpolitik und die Entwicklung funktionsfähiger demokratischer Institutionen» konzentrieren.

Wayne schloss sein Telegramm mit einer vorausschauenden Warnung: «Wenn der Westen, mit den Vereinigten Staaten an der Spitze, die Rolle des Wirtschaftsmissionars der eines echten Partners vorzieht, werden wir russischen Extremisten dabei helfen, die junge Demokratie des Landes zu untergraben, und eine Erneuerung der feindseligen Haltung Russlands gegenüber der Aussenwelt fördern.»

Weil die Botschaftsleitung zögerte, das Schreiben weiterzuleiten, schickte er es selber über den sogenannten «Dissenskanal», eine Art diplomatische Hintertür, ans Aussenministerium. Doch sein Weckruf verpuffte, er landete – ordnungsgemäss – im versiegelten Behälter für Staatsgeheimnisse.  

Der Irrglaube an die Marktwirtschaft als Medizin

In einem kürzlichen Essay schreibt Merry, dass Amerika damals dem alten Irrtum erlag, ein fremdes Land «durch einen Blick in den Spiegel» verstehen zu wollen. Der Vorstoss für marktwirtschaftliche Liberalisierung in einem Land ohne jegliche Erfahrung mit Marktwirtschaft oder Demokratie sei «ein besonders virulenter Fall, in dem die Institutionen in Washington versuchen, einen fremden quadratischen Pflock in ein amerikanisches rundes Loch zu rammen».

Vertane Chance auf Russlands Anschluss an die freie Welt

«Es waren Jahre, in denen Russland noch offen für den Westen war und Amerikaner als Touristen, Studenten, Unternehmer und Berater aller Art in das Land strömten», erinnert sich der damalige Moskaukorrespondent Schmemann. Die Russen hätten in den 1990er Jahren den Amerikanern zugehört. Er zitiert den damaligen US-Botschafter James F. Collins: «Tatsächlich waren wir die Einzigen, denen die Russen zuhörten. Man kann nicht unterschätzen, inwieweit die USA ein halbes Dutzend Jahre lang der Ort waren, an dem es Antworten gab, auch wenn zugegebenermassen eine gewisse Skepsis herrschte.»

Doch nur wenige der vielen Berater hätten eine Ahnung von der Geschichte oder Gesellschaft Russlands gehabt, schreibt Schmemann, viele hätten im Chaos der Marktliberalisierungen schnell ein Vermögen gemacht.

Auf Enttäuschung folgte Feindschaft und Hass

Die Demütigung und Armut, die auf den Zusammenbruch des Sowjetimperiums folgten, seien den frühen Reformern und ihren Beratern angelastet worden. Wladimir Putin, damals noch Assistent des Bürgermeisters von St. Petersburg, habe diese Abneigung geteilt. Und als KGB-geschulter Agitator habe er gelernt, sie für seine Zwecke auszunutzen.

«Die Geschichte, wie Amerika leichtfertig destruktive Ratschläge in fremde Länder drängt – von Vietnam über den Irak bis nach Afghanistan –, kann nicht oft genug erzählt werden», resümiert Schmemann abschliessend. «Wenn wir die Bedürfnisse anderer Menschen ignorieren oder verachten, können wir ihnen enormen Schaden zufügen – ihnen selbst, aber auch den Interessen und dem Ansehen unseres eigenen Landes.»


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